»Es soll geschehen... aber wie kannst du sterben? Du, Eugen! Urteile selber!... Wo wäre da noch eine Gerechtigkeit auf der Welt?«
»Das verstehe ich nicht; aber schick den Expressen fort.«
»Auf der Stelle, und ich will ihm einen Brief mitgeben.«
»Nein; das ist unnötig. Laß sie von mir grüßen, dies genügt. Und jetzt will ich wieder zu meinen roten Hunden zurückkehren. Das ist sonderbar! ich wollte meine Gedanken auf den Tod richten, aber es will mir nicht gelingen, ich sehe eine Art Flecken... und weiter nichts.«
Er kehrte sich mühsam gegen die Wand, und Wassili Iwanowitsch verließ das Kabinett. Im Zimmer seiner Frau angekommen, fiel er vor den Heiligenbildern auf die Knie.
»Laß uns beten, Arina, laß uns zu Gott beten!« schrie er schluchzend, »unser Sohn stirbt!«
Der Distriktsarzt, derselbe, der keinen Höllenstein hatte, kam und riet, nachdem er den Kranken untersucht, zu einem zuwartenden Verfahren und fügte einige Phrasen bei, die geeignet waren, Hoffnung auf Genesung zu erwecken.
»Sie haben also Leute gesehen, die in meinem Zustande waren und nicht ins Elysium gereist sind?« fragte Bazaroff und stieß gleichzeitig mit dem Fuß an einen schweren Tisch neben dem Bett, daß er wankte und von der Stelle wich.
»Die Kraft,« sagte er, »die ganze Kraft ist noch da, und doch muß ich sterben; ein Greis hat wenigstens volle Zeit gehabt, sich des Lebens zu entwöhnen, aber ich: verneinen... verneinen... Ja, verneine einer einmal den Tod! Er verneint euch; damit ist alles gesagt. Ich höre da unten weinen!« fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, »es ist meine Mutter. Arme Frau, wem soll sie jetzt ihren trefflichen ›Bastch‹ vorsetzen? Und auch du, Wassili Iwanowitsch, bist dem Weinen nahe. Wenn dein Christentum nicht ausreichen will, so versuchs mit der Philosophie, denk an die Stoiker! Du rühmtest dich, glaube ich, Philosoph zu sein?«
»Ich Philosoph!« rief Wassili Iwanowitsch aus, und Tränen rannen über seine Wangen.
Bazaroffs Zustand verschlimmerte sich stündlich; die Krankheit machte reißende Fortschritte, wie dies bei derartigen Blutvergiftungen der Fall ist. Er war noch bei voller Besinnung und verstand alles, was man mit ihm sprach; er kämpfte noch. – »Ich will nicht delirieren,« murmelte er, die Fäuste ballend, vor sich hin, »das ist zu dumm!« und gleich darauf fügte er hinzu: »zehn von acht, wieviel bleibt?« Wassili Iwanowitsch ging wie ein Toller im Zimmer auf und ab, schlug alle erdenklichen Mittel vor und deckte alle Augenblicke die Füße seines Sohnes zu.
»Man sollte ihn in nasse Tücher wickeln... ein Brechmittel und Senfpflaster auf den Magen... einen Aderlaß!« stammelte er mit Anstrengung.
Der Arzt, den er gebeten hatte, dazubleiben, stimmte ihm bei, gab dem Kranken Limonade und verlangte für sich selber bald eine Pfeife, bald etwas Stärkendes und Erwärmendes, das heißt einen Schnaps. Arina Vlassiewna blieb auf einer kleinen Bank neben der Tür sitzen und verließ diesen Platz nur auf Augenblicke, um zu beten. Wenige Tage zuvor hatte sie ihren Toilettenspiegel fallen lassen, und er war zerbrochen, was sie immer für eine der schlimmsten Vorbedeutungen angesehen hatte; Anfisuschka sogar wußte ihr nichts zu sagen. Timofeitsch war mit der Botschaft des Sterbenden zu Frau Odinzoff geeilt.
Die Nacht war schlecht... Bazaroff lag im Fieber, von der Glut verzehrt. Sein Zustand besserte sich mit Tagesanbruch ein wenig; er bat Arina Vlassiewna, ihm das Haar zu kämmen, küßte ihr die Hand und schluckte zwei oder drei Löffel Tee; Wassili Iwanowitsch faßte wieder etwas Hoffnung.
»Gott sei gelobt!« sagte er wiederholt, »die Krise ist eingetreten... die Krise ist vorüber...«
»Da seht,« sagte Bazaroff, »was ein Wort vermag! Das Wort Krise ist ihm in den Sinn gekommen, und er fühlt sich dadurch ganz getröstet. Es ist was Sonderbares um den Einfluß, den die Worte auf die Menschen haben! Nenne einer einen Menschen Dummkopf, ohne ihn zu schlagen, und er ist ganz betrübt! Man beglückwünsche ihn wegen seines Geistes, ohne ihm Geld zu geben, und er fühlt sich glücklich.« Dieses kurze Gespräch rief Wassili Iwanowitsch die Ausfälle zurück, deren sich Bazaroff in gesunden Tagen bedient hatte, und er schien davon entzückt.
»Bravo! das ist sehr wahr und gut gesagt. Bravo!« rief er aus und tat, als ob er in die Hände klatschte.
Bazaroff lächelte traurig.
»Was ist deine wirkliche Meinung,« fragte er seinen Vater, »ist die Krise vorüber oder tritt sie erst ein?«
»Es geht besser, das sehe ich, und das freut mich,« versetzte Wassili Iwanowitsch.
»Herrlich! Es ist immer gut, sich zu freuen. Aber hat man dort hingeschickt? Du weißt schon...«
»Gewiß.«
Die Besserung war nicht von langer Dauer. Die Anfälle erneuerten sich. Wassili Iwanowitsch wich nicht vom Bett seines Sohnes. Eine ganz absonderliche Angst schien den alten Mann zu quälen. Umsonst versuchte er mehrmals zu reden.
»Eugen!« rief er endlich, »mein Kind, mein lieber, guter Sohn!«
Dieser unerwartete Ruf machte Eindruck auf Bazaroff. Er wandte den Kopf ein wenig, versuchte es sichtlich, den Druck, der auf seinem Geiste lastete, abzuwälzen, und sagte: »Was, mein Vater?«
»Eugen,« fuhr Wassili Iwanowitsch fort und sank neben Bazaroff in die Knie, obgleich dieser die Augen geschlossen hatte und ihn nicht sehen konnte. »Eugen, du fühlst dich besser und wirst mit Gottes Hilfe genesen. Aber benütze diesen Augenblick, tue, was deiner armen Mutter und mir die größte Beruhigung gewähren würde. Erfülle deine Christenpflicht! Es ist mir schwer angekommen, dir den Vorschlag zu machen. Aber es wäre noch schrecklicher... Es handelt sich um die Ewigkeit, Eugen! bedenke es wohl...« Die Stimme versagte dem Alten, und ein sonderbares Zucken glitt langsam über das ganze Gesicht seines Sohnes hin, der fortwährend mit geschlossenen Augen dalag.
»Wenn euch das Vergnügen machen kann, so habe ich nichts dagegen,« sagte er endlich; »es scheint mir aber keine Eile zu haben. Du hast soeben gesagt, daß es besser mit mir geht.«
»Besser allerdings, Eugen, aber man kann für nichts stehen. Alles hängt vom Willen Gottes ab, und um eine Pflicht zu erfüllen...«
»Ich will noch warten,« entgegnete Bazaroff, »du sagst ja selber, daß die Krise eben begonnen habe. Wenn wir uns täuschen, was liegt daran! Man gibt ja den Kranken die Absolution, auch wenn sie bewußtlos sind.«
»Ums Himmels willen, Eugen...«
»Ich will vorerst warten! ich möchte gern schlafen; laß mich...«
Und er legte den Kopf wieder aufs Kissen. Der Greis erhob sich, setzte sich in seinen Lehnstuhl, stützte das Kinn in die Hand und zernagte sich die Finger.
Das Geräusch eines Wagens in Federn, dies Geräusch, welches man in der ländlichen Stille so deutlich unterscheidet, schlug plötzlich an das Ohr des Alten. Das Rollen leichter Räder kam immer näher; man konnte schon das Schnauben der Pferde hören... Wassili Iwanowitsch sprang aus dem Lehnstuhl auf und lief ans Fenster. Ein zweisitziger Reisewagen mit vier nebeneinandergespannten Pferden fuhr in den Hof seines kleinen Hauses ein. Ohne sich Rechenschaft zu geben, was dies bedeute, und unwillkürlich von einem freudigen Gefühl durchzuckt, lief er vor die Tür. Ein Livreebedienter öffnete den Wagen, und eine verschleierte Frau in schwarzer Mantille stieg aus.
»Ich bin Frau Odinzoff,« sagte sie. »Lebt Eugen Wassiliewitsch noch? Sie sind sein Vater? Ich habe einen Arzt mitgebracht.«
»Gottes Segen über Sie!« rief Wassili Iwanowitsch aus, ergriff ihre Hand und drückte sie krampf haft an seine Lippen, während der Arzt, von dem Frau Odinzoff gesprochen, ein kleiner Mann mit Brille und einer deutschen Physiognomie, langsam den Wagen verließ. – »Er lebt noch, mein Eugen, und wird jetzt gerettet werden! Frau! Frau! es ist ein Engel vom Himmel zu uns gekommen...«