»Ich verstehe.« Er überlegte kurz. »Es ist völlig okay. Danke, dass Sie mich gefragt haben. Wenn solche Situationen in Zukunft auftreten, möchte ich, dass Sie mich wieder fragen, dann wird es auch keine Missverständnisse geben.«
Lisbeth Salander blieb ein paar Minuten schweigend sitzen und überlegte, ob es noch etwas hinzuzufügen gab. Sie nagelte Dragan Armanskij mit ihrem Blick fest, ohne etwas zu sagen. Stattdessen nickte sie nur, stand auf und ging, wie immer ohne Abschiedsgruß. Sobald sie die Auskunft bekommen hatte, die sie wollte, verlor sie völlig das Interesse an Armanskij. Er lächelte in sich hinein. Dass Sie ihn überhaupt um Rat gefragt hatte, war vermutlich einer der Höhepunkte ihres Sozialisierungsprozesses.
Er öffnete eine Mappe mit einem Bericht über die Sicherheitsmaßnahmen in einem Museum, in dem demnächst eine große Ausstellung französischer Impressionisten stattfinden würde. Dann legte er die Mappe wieder aus der Hand und starrte auf die Tür, durch die Salander gerade hinausgegangen war. Er dachte daran, wie sie in ihrem Büro mit Mikael Blomkvist gelacht hatte, und fragte sich, ob sie gerade erwachsen wurde oder ob es Blomkvist war, der sie an dieser Sache lockte. Plötzlich wurde er unruhig. Er war das Gefühl nie losgeworden, dass Lisbeth Salander ein perfektes Opfer war. Und nun jagte sie einen Wahnsinnigen in der Wildnis.
Auf dem Weg gen Norden machte Lisbeth einen spontanen Abstecher zum Pflegeheim Äppelviken und besuchte ihre Mutter. Abgesehen von einem Besuch am Mittsommerabend, hatte sie ihre Mutter seit Weihnachten nicht gesehen und hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie sich so selten Zeit für sie nahm. Ein zweiter Besuch innerhalb weniger Wochen war rekordverdächtig.
Ihre Mutter saß im Aufenthaltsraum. Lisbeth blieb eine knappe Stunde und nahm ihre Mutter mit auf einen Spaziergang, hinunter zum Ententeich im Park vorm Krankenhaus. Ihre Mutter verwechselte Lisbeth immer noch mit ihrer Schwester. Wie immer war sie nicht richtig anwesend, schien sich aber über den Besuch zu freuen.
Als Lisbeth Abschied von ihr nahm, wollte sie ihre Hand nicht loslassen. Lisbeth versprach, sie bald wieder zu besuchen, aber als sie ging, blickte ihr ihre Mutter ängstlich und unglücklich nach.
Als ahne sie eine drohende Katastrophe voraus.
Mikael verbrachte zwei Stunden im Garten hinterm Haus damit, in den Apokryphen zu blättern. Dann kam ihm der Verdacht, dass er seine Zeit verschwendete.
Doch plötzlich fragte er sich, wie religiös Harriet eigentlich gewesen war. Ihr Interesse an der Bibel hatte ein Jahr vor ihrem Verschwinden begonnen. Sie hatte eine ganze Reihe Bibelzitate mit einer Mordserie in Verbindung bringen können und danach nicht nur die Bibel gründlich gelesen, sondern auch die Apokryphen. Und hatte sich für den Katholizismus interessiert.
Hatte sie im Grunde nur dieselbe Untersuchung angestellt wie Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander siebenunddreißig Jahre später? War es eher die Jagd nach einem Mörder als die Religiosität, die ihr Interesse befeuerte? Pfarrer Falk hatte angedeutet, sie sei weniger eine gute Christin gewesen als eine Suchende.
Er wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als Erika ihn auf dem Handy anrief.
»Ich wollte nur Bescheid geben, dass Greger und ich nächste Woche in Urlaub fahren. Ich bin vier Wochen weg.«
»Wohin fahrt ihr?«
»Nach New York. Greger hat eine Ausstellung, und danach wollen wir in die Karibik. Ein Bekannter von Greger hat uns sein Haus in Antigua überlassen. Wir bleiben zwei Wochen dort.«
»Das klingt phantastisch. Viel Spaß. Und grüß Greger.«
»Ich habe seit drei Jahren nicht mehr richtig freigehabt. Das neue Heft ist fertig und fast das ganze nächste Heft auch. Ich wünschte, du könntest als Redakteur einspringen, aber Christer hat versprochen, dass er sich kümmert.«
»Er kann mich anrufen, wenn er Hilfe braucht. Wie läuft’s mit Janne Dahlman?«
Sie zögerte kurz.
»Er fährt nächste Woche auch in Urlaub. Ich habe Henry Cortez vorübergehend zum Redaktionsassistenten gemacht. Christer Malm und er schmeißen den Laden.«
»Okay.«
»Ich traue Dahlman nicht. Aber er benimmt sich. Am siebten August bin ich zurück.«
Sie wünschten sich alles Gute und beendeten das Gespräch.
Gegen sieben hatte Mikael bereits zigmal versucht, Cecilia anzurufen. Er hatte ihr eine SMS geschrieben, in der er sie bat, ihn anzurufen, hatte aber keine Antwort erhalten.
Entschlossen schlug er die Apokryphen zu, zog seine Sportsachen an, schloss die Tür ab und begab sich auf seine tägliche Trainingsrunde. Er folgte dem schmalen Pfad am Strand, bevor er in den Wald abbog. So schnell wie möglich arbeitete er sich durch Gestrüpp und Wurzelwerk und erreichte erschöpft und mit viel zu hohem Puls die Befestigung. Bei einer der alten Schießschanzen stoppte er und machte ein paar Minuten Dehnübungen.
Plötzlich hörte er einen scharfen Knall, während gleichzeitig eine Kugel in die graue Betonmauer ein paar Zentimeter neben seinem Kopf einschlug. Dann fühlte er einen heftigen Schmerz am Haaransatz, wo Splitter eine tiefe Platzwunde hinterlassen hatten.
Mikael stand wie gelähmt da und war unfähig zu begreifen, was soeben geschehen war - diese Sekunden kamen ihm wie eine Ewigkeit vor. Dann warf er sich kopfüber in den Schützengraben und zerbrach sich fast alle Knochen, als er auf seiner Schulter landete. Der zweite Schuss fiel im selben Moment, in dem er sich niederwarf. Die Kugel traf das Betonfundament, vor dem er gerade noch gestanden hatte.
Mikael kam wieder auf die Füße und sah sich um. Er befand sich ungefähr in der Mitte der Befestigung. Nach rechts und links liefen enge, metertiefe und überwachsene Gänge, die von einer Linie von knapp zweihundertfünfzig Metern Länge abzweigten. Geduckt lief er in südlicher Richtung durch das Labyrinth.
Plötzlich hörte er Hauptmann Adolfssons unverkennbare Stimme auf einer Winterübung bei den Feldjägern in Kiruna. Verflucht noch mal, Blomkvist, runter mit dem Schädel, wenn Ihnen keiner den Arsch wegschießen soll. Noch nach zwanzig Jahren erinnerte er sich an die Spezialübungen, die Hauptmann Adolfsson befehligt hatte.
Nach ungefähr sechzig Metern blieb er mit klopfendem Herzen stehen und holte Luft. Er konnte keine anderen Geräusche als seine eigene Atmung hören. Das menschliche Auge nimmt Bewegung viel schneller wahr als Formen und Gestalten. Bewegen Sie sich langsam, wenn Sie etwas ausspähen.
Langsam hob Mikael den Blick ein paar Zentimeter über den Rand der Schanze. Die Sonne schien ihm direkt in die Augen und machte es ihm unmöglich, Details zu erkennen, aber Bewegungen konnte er auch nicht ausmachen.
Mikael zog den Kopf wieder zurück und lief weiter zum letzten Wall. Es ist gleichgültig, was für gute Waffen der Feind besitzt. Wenn er Sie nicht sehen kann, kann er Sie auch nicht treffen. Deckung, Deckung und nochmals Deckung. Achten Sie darauf, dass Sie nie Ihre Deckung aufgeben.
Mikael war nun zirca dreihundert Meter von der Grenze zum Östergårdener Hof entfernt. Vierzig Meter vor ihm begann ein schwer zugängliches Dickicht mit jeder Menge niedrigem Buschwerk. Aber um dorthin zu gelangen, musste er von der Schießschanze einen Abhang hinunterlaufen, auf dem er völlig ungeschützt sein würde. Es war der einzige Ausweg. Im Rücken hatte er das Meer.
Mikael ging in die Hocke und überlegte. Plötzlich wurde er sich des Schmerzes an der Schläfe bewusst und entdeckte, dass er stark blutete und sein T-Shirt bereits blutdurchtränkt war. Ein Fragment der Kugel oder ein Splitter aus der Betonwand hatte ihm eine tiefe Wunde an der Schläfe gerissen. Kopfwunden wollen einfach nie aufhören zu bluten, dachte er, bevor er sich wieder auf seine missliche Lage konzentrierte. Ein einzelner Schuss konnte auch aus Fahrlässigkeit abgegeben worden sein. Zwei Schüsse bedeuteten, dass jemand versucht hatte, ihn zu töten. Er wusste nicht, ob der Schütze noch irgendwo da draußen war und mit frisch geladener Waffe darauf wartete, dass er sich wieder zeigte.