Er versuchte, sich zu beruhigen und vernünftig zu denken. Er hatte die Wahl - entweder wartete er ab, oder er floh irgendwie. Aber wenn er wartete, konnte der Schütze ganz ruhig auf die Befestigung hinaufgehen, ihn suchen und aus nächster Nähe erschießen.
Er (oder sie) kann nicht wissen, ob ich nach rechts oder links gegangen bin, dachte er. Ein Gewehr, wahrscheinlich ein Elchstutzen. Vermutlich mit Zielfernrohr. Das bedeutete, dass der Schütze ein begrenztes Blickfeld hatte, wenn er Mikael durch seine Linse suchte.
Wenn Sie in der Klemme sitzen - ergreifen Sie die Initiative. Das ist besser, als abzuwarten. Er wartete und horchte zwei Minuten lang nach Geräuschen. Dann stemmte er sich aus dem Schützengraben hoch und rutschte den Abhang hinunter, so schnell er konnte.
Ein dritter Schuss wurde abgefeuert, als er schon den halben Weg zum Dickicht zurückgelegt hatte, aber die Kugel verfehlte ihn deutlich. Im nächsten Moment warf er sich mit dem ganzen Körper durch den Vorhang aus Buschwerk und rollte durch ein Meer von Brennnesseln. Dann kam er sofort wieder auf die Füße und begann sich geduckt von dem Schützen zu entfernen. Nach fünfzig Metern blieb er stehen und horchte. Plötzlich hörte er irgendwo zwischen sich und der Befestigung einen Zweig knacken. Vorsichtig legte er sich auf den Bauch.
Robben war ein anderer von Hauptmann Adolfssons Lieblingsausdrücken gewesen. Mikael legte die nächsten hundertfünfzig Meter durchs Unterholz robbend zurück. Er bewegte sich lautlos und achtete sorgfältig auf Reisig und Zweige. Zweimal hörte er ein plötzliches Knacken im Dickicht. Das erste Mal schien es aus seiner unmittelbaren Nähe zu kommen, vielleicht zwanzig Meter links von der Stelle, wo er lag. Er erstarrte und blieb regungslos liegen. Nach einer Weile hob er vorsichtig den Kopf und spähte um sich, aber er konnte niemanden sehen. Lange verharrte er so mit aufs Äußerste angespannten Nerven, bereit zu flüchten oder vielleicht einen verzweifelten Gegenangriff zu starten, wenn der Feind direkt auf ihn losging. Das nächste Knacken, das er hörte, kam aus bedeutend größerer Entfernung. Danach Stille.
Er weiß, dass ich hier bin. Aber hat er sich jetzt irgendwo postiert und wartet darauf, dass ich mich bewege? Oder hat er sich zurückgezogen?
Er kroch weiter durchs Unterholz, bis er zum Weidezaun von Östergården gelangte.
Das waren die nächsten kritischen Momente. Außen am Zaun führte ein Pfad entlang. Er lag der Länge nach auf dem Boden und hielt Ausschau. Wenn er geradeaus blickte, konnte er Gebäude erkennen, ungefähr vierhundert Meter weiter oben auf einem leichten Abhang, und rechts daneben ein Dutzend grasende Kühe. Warum hatte niemand den Schuss gehört und war gekommen, um nach dem Rechten zu sehen? - Sommer! Man kann nicht davon ausgehen, dass jemand zu Hause ist.
Die Weide zu betreten kam überhaupt nicht infrage - dort hätte er kein bisschen Deckung -, aber der gerade Weg am Zaun war andererseits genau der Platz, an dem er selbst sich postiert hätte, um ein unbehindertes Schussfeld zu haben. Er zog sich vorsichtig wieder ins Dickicht zurück und durchquerte es, bis es in einen lichten Kiefernwald überging.
Mikael nahm einen Umweg nach Hause. Als er am Östergården vorbeikam, stellte er fest, dass die Autos weg waren. Ganz oben auf dem Söderberg blieb er stehen und betrachtete Hedeby. In den alten Fischerhütten am Kleinboothafen wohnten Sommergäste; ein paar Frauen saßen im Badeanzug auf einem Steg und unterhielten sich. Er roch den Duft von gegrilltem Fisch. Ein paar Kinder plantschten bei den Stegen.
Mikael sah auf seine Armbanduhr. Kurz nach acht. Es waren fünfzig Minuten vergangen, seit die Schüsse gefallen waren. Gunnar Nilsson sprengte seinen Rasen mit nacktem Oberkörper und Shorts. Wie lange bist du schon dort? In Henriks Haus war niemand außer der Haushälterin Anna Nygren. Bei Harald Vanger wirkte alles so verlassen wie immer. Plötzlich sah er Isabella Vanger im Garten hinter seinem Haus. Sie saß am Gartentisch und unterhielt sich mit jemand. Mikael brauchte eine Sekunde, bis er erkannte, dass es die kränkliche Gerda Vanger war, geboren 1922, die mit ihrem Sohn Alexander in einem der Häuser hinter Henrik wohnte. Er hatte sie noch nie getroffen, sie aber ein paarmal auf dem Grundstück gesehen. Cecilias Haus sah unbewohnt aus, aber dann sah Mikael plötzlich, wie in der Küche das Licht anging. Sie ist zu Hause. War der Schütze eine Frau gewesen? Er zweifelte keinen Augenblick daran, dass Cecilia mit einem Gewehr umgehen konnte. Ein Stück entfernt konnte er Martin Vangers Auto auf dem Hof vor dem Haus stehen sehen. Wie lange bist du schon zu Hause?
Oder war es jemand anders, an den er noch nicht einmal gedacht hatte? Frode? Alexander? Zu viele Möglichkeiten.
Er ging den Söderberg hinunter und folgte dem Weg in die Siedlung bis zu sich nach Hause, ohne jemanden zu treffen. Als Erstes sah er, dass die Haustür einen Spalt offen stand. Er duckte sich fast schon instinktiv. Dann roch er den Duft von Kaffee und erkannte Lisbeth durchs Küchenfenster.
Lisbeth hörte Mikael vor der Haustür und drehte sich zu ihm um. Sie hob die Augenbrauen. Sein Gesicht sah schrecklich aus - überall verschmiertes Blut, das schon zu verkrusten begann. Die linke Seite seines weißen T-Shirts war blutdurchtränkt. Er presste sich einen Stofffetzen an den Kopf.
»Das ist eine Kopfwunde, die heftig blutet, aber es ist nichts Gefährliches«, sagte Mikael, bevor sie zu Wort kam.
Sie drehte sich um und holte den Verbandskasten aus der Speisekammer, der nichts enthielt als zwei Schachteln Pflaster, einen Mückenstift und eine kleine Rolle Leukoplast. Er zog seine Sachen aus, ließ sie auf den Boden fallen, ging ins Badezimmer und besah sich im Spiegel.
Die Wunde an der Stirn war ungefähr drei Zentimeter lang und so tief, dass Mikael ein großes Stück Gewebe anheben konnte.
Sie blutete immer noch und hätte genäht werden müssen, aber er glaubte, dass sie auch von allein heilen würde, wenn er sie verpflasterte. Er feuchtete ein Handtuch an und säuberte sich das Gesicht.
Er hielt das Handtuch an die Stirn, während er sich duschte, und blinzelte. Dann schlug er mit der Faust so heftig gegen die Kacheln, dass er sich die Knöchel aufschürfte. Fuck you! Dich krieg ich schon noch.
Als Lisbeth ihn am Arm berührte, zuckte er zusammen, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Er starrte sie so hasserfüllt an, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Sie gab ihm ein Stück Seife und ging wortlos zurück in die Küche.
Nachdem Mikael geduscht hatte, verpflasterte er seine Wunde. Er ging ins Schlafzimmer, zog sich saubere Jeans und ein frisches T-Shirt an und nahm die Mappe mit den ausgedruckten Bildern mit. Er war so wütend, dass er beinahe zitterte.
»Du bleibst hier«, brüllte er Lisbeth zu.
Er ging zu Cecilia hinüber, drückte anderthalb Minuten immer wieder auf die Türklingel, bis sie öffnete.
»Ich will dich nicht sehen«, sagte sie. Dann sah sie sein Gesicht und den blutgetränkten Verband. »Was hast du denn gemacht?«, entfuhr es ihr unwillkürlich.
»Lass mich rein. Wir müssen reden.«
Sie zögerte.
»Wir haben nichts zu bereden.«
»Jetzt haben wir etwas zu bereden, und du kannst es entweder hier auf der Treppe oder in der Küche mit mir diskutieren.«
Mikaels Stimme klang so aggressiv, dass Cecilia Vanger zur Seite trat und ihn hereinließ. Er marschierte zu ihrem Küchentisch.
»Was hast du gemacht?«, fragte sie noch einmal.
»Du behauptest, dass meine Suche nach der Wahrheit über Harriet nur eine fixe Idee von Henrik ist. Das mag sein, aber vor einer Stunde hat irgendjemand versucht, mir den Kopf wegzupusten, und heute Nacht hat jemand eine zerstückelte Katze vor meiner Haustür hinterlassen.«