»Stell dich unter die Dusche. Jetzt.«
Sie half ihm aus seinen Kleidern. Dann setzte sie den Kaffeekessel auf und schmierte schnell ein halbes Dutzend Brote mit Käse, Leberwurst und Salzgurken. Als Mikael wieder ins Zimmer gehinkt kam, saß sie am Küchentisch und dachte intensiv nach. Sie musterte die Blutergüsse und Schürfwunden an seinem Körper. Die Würgeschlinge hatte so tief eingeschnitten, dass er ein dunkelrotes Mal um den ganzen Hals zurückbehalten hatte, und das Messer hatte einen blutigen Riss in der Haut an seiner linken Halsseite hinterlassen.
»Komm«, sagte sie. »Leg dich ins Bett.«
Sie holte Pflaster und deckte die Wunde mit einer Kompresse ab. Danach goss sie Kaffee ein und stellte die belegten Brote auf den Tisch.
»Ich hab keinen Hunger«, sagte Mikael.
»Iss!«, kommandierte Lisbeth und nahm einen großen Bissen.
Mikael blinzelte ein Weilchen. Schließlich setzte er sich auf und aß. Sein Hals war so wund, dass er nur mit Mühe schlucken konnte.
Lisbeth zog ihre Lederjacke aus und holte ein Döschen Tigerbalsam aus ihrem Kulturbeutel.
»Lass den Kaffee noch ein bisschen abkühlen. Leg dich auf den Bauch.«
Sie massierte ihm fünf Minuten mit der Salbe den Rücken. Dann drehte sie ihn um und ließ seiner Vorderseite die gleiche Behandlung angedeihen.
»Du wirst noch eine Weile ganz schöne blaue Flecken haben.«
»Lisbeth, wir müssen die Polizei anrufen.«
»Nein!«, gab sie so entschieden zurück, dass Mikael sie erstaunt ansah. »Wenn du die Polizei rufst, dann hau ich ab. Mit denen will ich nichts zu tun haben. Martin Vanger ist tot. Er ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er war allein im Auto. Es gab Zeugen. Lass die Polizei oder irgendjemand sonst diese verdammte Folterhöhle entdecken. Du und ich wissen genauso wenig von ihrer Existenz wie alle anderen hier in der Stadt.«
»Warum?«
Sie ignorierte ihn und massierte seine schmerzenden Oberschenkel.
»Lisbeth, wir können nicht einfach …«
»Wenn du mich weiter nervst, dann schleif ich dich zurück in Martins Höhle und kette dich wieder an.«
Während sie redete, schlief Mikael so plötzlich ein, als wäre er ohnmächtig geworden.
25. Kapitel
Samstag, 12. Juli - Montag, 14. Juli
Mikael wurde gegen fünf Uhr morgens schlagartig wach und fuhrwerkte hektisch an seinem Hals herum, um die Schlinge zu entfernen. Lisbeth kam in sein Zimmer, nahm seine Hände und hielt ihn fest. Er schlug die Augen auf und sah sie mit vernebeltem Blick an.
»Ich wusste gar nicht, dass du Golf spielst«, murmelte er und schloss die Augen wieder. Sie blieb noch ein paar Minuten bei ihm sitzen, bis sie sicher war, dass er wieder schlief. Zwischenzeitlich war Lisbeth in Martin Vangers Keller zurückgegangen, um den Tatort zu untersuchen. Neben den Folterwerkzeugen hatte sie eine große Sammlung von Heften mit Gewaltpornographie gefunden und jede Menge Polaroidbilder, die in ein Album eingeklebt worden waren.
Ein Tagebuch hatte es nicht gegeben. Allerdings hatte sie zwei A4-Ordner mit Passfotos und handschriftlichen Notizen zu verschiedenen Frauen gefunden. Sie hatte die Ordner in einer Nylontasche mitgenommen, ebenso Martin Vangers Laptop, den sie auf dem Flurtisch im Obergeschoss entdeckt hatte. Als Mikael wieder eingeschlafen war, fuhr Lisbeth damit fort, Martin Vangers Computer und seine Ordner durchzugehen. Es war sechs Uhr morgens, als sie den Laptop ausschaltete. Sie steckte sich eine Zigarette an und biss nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum, während sie überlegte.
Gemeinsam mit Mikael hatte sie die Jagd auf einen vermeintlich in der Vergangenheit aktiven Serienmörder aufgenommen. Sie hatten etwas völlig anderes gefunden. Sie konnte sich kaum ausmalen, was für grauenhafte Szenen sich in Martin Vangers Keller abgespielt haben mussten, mitten in dieser trauten Idylle.
Sie versuchte zu begreifen.
Martin Vanger hatte seit den sechziger Jahren Frauen getötet, in den letzten fünfzehn Jahren mit einer Frequenz von ungefähr einem oder zwei Opfern pro Jahr. Die Tötung war so diskret und wohldurchdacht, dass niemand bemerkt hatte, dass ein Serienmörder am Werk war. Wie war so etwas möglich?
Die Ordner beantworteten diese Frage zumindest teilweise.
Seine Opfer waren anonyme Frauen, oft gerade erst in Schweden angekommene Einwanderinnen, die weder Freunde noch andere Sozialkontakte in Schweden hatten. Daneben fanden sich auch noch Prostituierte und Außenseiterinnen der Gesellschaft, die Drogenprobleme oder anderweitige soziale Schwierigkeiten hatten.
Aus ihren eigenen Studien über die Psychologie des sexuellen Sadismus hatte Lisbeth Salander gelernt, dass diese Art Mörder gerne Souvenirs von ihren Opfern sammelten. Solche Souvenirs dienten als Erinnerung, mit deren Hilfe der Mörder sein erlebtes Vergnügen nach Bedarf wieder aufleben lassen konnte. Martin Vanger hatte diese Gewohnheit gepflegt, indem er ein Todesbuch führte. Er hatte seine Opfer sorgfältig katalogisiert und benotet. Er hatte die Leiden seiner Opfer kommentiert und beschrieben. Er hatte sein mörderisches Tun mit Videofilmen und Fotografien dokumentiert.
Gewalt und Töten, das war seine Zielsetzung, aber Lisbeth kam zu dem Schluss, dass es in Wirklichkeit die Jagd war, die ihn hauptsächlich interessiert hatte. In seinem Laptop hatte er eine Datenbank angelegt, in der Hunderte von Frauen gespeichert waren: Angestellte des Vanger-Konzerns, Bedienungen in Restaurants, die er häufig besuchte, Empfangsdamen in Hotels, Personal der Kranken- und Sozialversicherung, Sekretärinnen von Geschäftsfreunden. Anscheinend nahm Martin Vanger so gut wie jede Frau in sein Verzeichnis auf, mit der er jemals in Kontakt gekommen war, und erforschte ihr Leben so umfassend wie möglich.
Nur einen Bruchteil von ihnen hatte er tatsächlich ermordet, aber alle Frauen in seiner Umgebung waren potenzielle Opfer, über die er Buch führte und die er genau beobachtete. Diese systematischen Untersuchungen hatten geradezu den Charakter eines Hobbys, dem er Tausende von Stunden gewidmet haben musste.
Ist sie verheiratet oder ledig? Hat sie Kinder und Familie? Wo arbeitet sie? Wo wohnt sie? Was für eine Ausbildung hat sie? Haarfarbe? Hautfarbe? Figur?
Lisbeth kam zu dem Schluss, dass dieses Sammeln persönlicher Informationen über seine potenziellen Opfer ein wichtiger Bestandteil von Martin Vangers sexuellen Phantasien gewesen sein musste. Er war in erster Linie ein Stalker und erst in zweiter Linie ein Mörder.
Als Lisbeth fertig gelesen hatte, entdeckte sie ein kleines Kuvert in einem der Umschläge. Sie fummelte zwei abgegriffene, verblichene Polaroidaufnahmen heraus. Auf dem ersten Bild saß ein dunkelhaariges Mädchen an einem Tisch. Sie trug eine schwarze Hose, ihr Oberkörper mit den kleinen spitzen Brüsten war nackt. Sie drehte das Gesicht von der Kamera weg und wollte gerade einen Arm heben, um sich zu schützen, so als ob der Fotograf sie plötzlich überrascht hatte, als er die Kamera hob. Auf dem anderen Bild war sie auch unten herum nackt. Sie lag bäuchlings auf einem Bett mit einem blauen Überwurf. Das Gesicht hielt sie immer noch von der Kamera abgewandt.
Lisbeth stopfte das Kuvert mit den Bildern in ihre Jackentasche. Danach trug sie die Ordner zum Ofen und riss ein Streichholz an. Als sie fertig war, stocherte sie noch einmal in der Asche. Es goss immer noch in Strömen, als sie einen kurzen Spaziergang unternahm und Martin Vangers Laptop ins Wasser unter der Brücke warf.
Als Dirch Frode um halb acht Uhr morgens die Tür aufmachte, saß Lisbeth rauchend am Küchentisch und trank Kaffee. Frode war aschgrau im Gesicht und sah aus, als wäre er brutal geweckt worden.
»Wo ist Mikael?«, fragte er.
»Der schläft noch.«
Frode setzte sich auf einen Küchenstuhl. Lisbeth goss Kaffee ein und schob ihm die Tasse hinüber.
»Martin … Ich habe gerade erfahren, dass Martin heute Nacht bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist.«
»Traurig«, sagte Lisbeth und nahm einen Schluck Kaffee.