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»Gottfried hatte es nicht nur auf Martin abgesehen, sondern auch auf Harriet.«

Mikael nickte. »Gottfried war der Lehrmeister. Martin war der Lehrling. Harriet war ihr … ja, was, ihr Spielzeug?«

»Gottfried hat Martin beigebracht, seine Schwester zu ficken.« Lisbeth tippte auf die Polaroidaufnahmen. »Man kann anhand dieser beiden Bilder schwerlich beurteilen, wie sie diese Spiele fand, weil man ihr Gesicht nicht sieht. Aber sie versucht, sich vor der Kamera zu verstecken.«

»Sagen wir mal, es fing an, als sie vierzehn war, 1964. Sie wehrte sich - konnte es nicht akzeptieren, wie Martin sich ausdrückte. Das drohte sie also auszuplaudern. Martin hatte in diesem Zusammenhang sicher nicht viel zu sagen, sondern ordnete sich einfach seinem Vater unter, aber Gottfried und er hatten eine Art … Pakt, in den sie Harriet einzuweihen versuchten.«

Lisbeth nickte. »In deinen Notizen steht, dass Henrik im Winter 1964 Harriet in sein Haus ziehen ließ.«

»Henrik merkte, dass in ihrer Familie etwas schieflief. Er hielt die Streitereien und Reibereien zwischen Gottfried und Isabella für die Ursache und nahm Harriet zu sich, damit sie ihren Frieden hatte und sich aufs Lernen konzentrieren konnte.«

»Womit er Gottfried und Martin einen Strich durch die Rechnung machte. Sie konnten ihrer nicht so leicht habhaft werden und ihr Leben kontrollieren. Aber hie und da … wo geschah der Übergriff?«

»Es muss in Gottfrieds Häuschen gewesen sein. Ich bin ziemlich sicher, dass diese Bilder dort aufgenommen wurden - das lässt sich leicht nachprüfen. Die Hütte ist perfekt gelegen, isoliert und weit weg von der Stadt. Dann besoff Gottfried sich ein letztes Mal und ertrank ganz undramatisch.«

Lisbeth nickte nachdenklich. »Harriets Vater hatte Sex mit ihr oder versuchte es zumindest, aber vermutlich hat er sie nicht in das Geheimnis seiner Morde eingeweiht.«

Mikael musste den Schwachpunkt in seiner Theorie zugeben. Harriet hatte die Namen von Gottfrieds Opfern niedergeschrieben und mit den Bibelzitaten in Verbindung gebracht, aber ihr Interesse an Bibelkunde war erst im letzten Jahr ihres Lebens aufgekommen, also bereits nach dem Tod ihres Vaters. Er überlegte kurz und versuchte, eine logische Erklärung zu finden.

»Irgendwann ging Harriet auf, dass Gottfrieds Verbrechen nicht nur im Inzest bestanden, sondern dass er auch noch ein verrückter Serienmörder war«, sagte er.

»Wir wissen nicht, wann sie hinter die Morde kam. Das kann auch unmittelbar vor Gottfrieds Tod gewesen sein. Vielleicht sogar später, falls er Tagebuch geführt oder Zeitungsartikel über die Morde gesammelt hatte. Irgendwas hat sie auf die richtige Fährte gebracht.«

»Das war aber nicht das, was sie Henrik zu erzählen drohte«, ergänzte Mikael.

»Es war Martin«, sagte Lisbeth. »Ihr Vater war tot, doch Martin hörte nicht auf, sie zu belästigen.«

»Genau.« Mikael nickte.

»Aber sie brauchte ein Jahr, bis sie endlich handelte.«

»Was würdest du denn machen, wenn du plötzlich entdecken würdest, dass dein Vater ein wahnsinniger Serienmörder ist, der deinen Bruder gefickt hat?«

»Den ganzen Scheiß kurz und klein hauen«, erwiderte Lisbeth mit derart nüchterner Stimme, dass Mikael vermuten musste, dass sie es ernst meinte. Plötzlich hatte er ihr Gesicht wieder vor Augen, wie es ausgesehen hatte, als sie auf Martin Vanger losging. Er lächelte freudlos.

»Ihr Vater starb 1965, bevor sie loslegte. Das ist auch logisch. Nach Gottfrieds Tod schickte Isabella Martin nach Uppsala. Er war vielleicht über Weihnachten und in den Ferien mal zu Hause, aber im Laufe des folgenden Jahres traf er Harriet nicht besonders oft. Sie bekam Abstand zu ihm.«

»Und sie begann die Bibel gründlich zu lesen«, ergänzte sie.

»Im Lichte der Umstände, die uns heute bekannt sind, hat sie das wohl nicht aus religiösen Gründen getan. Sie wollte vielleicht einfach verstehen, was ihren Vater getrieben hatte. Sie grübelte bis zum Tag des Kindes 1966. Da sieht sie plötzlich ihren Bruder auf der Bahnhofstraße und weiß, dass er wieder zurück ist. Wir wissen nicht, ob sie miteinander gesprochen haben und ob er irgendwas gesagt hat. Aber was auch immer geschehen sein mag, Harriet sah sich veranlasst, direkt nach Hause zu fahren, um mit Henrik zu reden.«

»Und dann verschwand sie.«

Nachdem sie die Kette der Ereignisse durchgesprochen hatten, konnte man sich unschwer vorstellen, wie der Rest des Puzzles aussehen musste. Mikael und Lisbeth packten ihre Koffer. Bevor sie losfuhren, rief Mikael Dirch Frode an und gab ihm Bescheid, dass Lisbeth und er verreisen müssten. Vor seiner Abfahrt wolle er aber unbedingt noch Henrik Vanger treffen.

Mikael wollte wissen, was Frode Henrik erzählt hatte. Die Stimme des Rechtsanwalts klang so gepresst, dass Mikael sich Sorgen um ihn machte. Schließlich erklärte er, ihm nur von Martins Unfalltod berichtet zu haben.

Als Mikael vor dem Krankenhaus von Hedestad parkte, grollte schon wieder der Donner, und am Himmel hatten sich erneut dicke Regenwolken zusammengezogen. Als er eilig den Parkplatz überquerte, fielen die ersten Tropfen.

Henrik Vanger saß im Morgenrock an einem Tisch vor dem Fenster. Die Krankheit war zweifellos nicht spurlos an ihm vorübergegangen, aber der alte Mann hatte wieder etwas Farbe im Gesicht und sah zumindest so aus, als sei er auf dem Wege der Besserung. Sie gaben sich die Hand. Mikael bat die Privatpflegerin, sie ein paar Minuten allein zu lassen.

»Sie haben sich eine Weile ferngehalten«, sagte Henrik Vanger.

Mikael nickte. »Ganz bewusst. Ihre Familie will nicht, dass ich mich hier sehen lasse, aber heute sind alle bei Isabella.«

»Armer Martin«, sagte Henrik.

»Henrik, Sie haben mich beauftragt, die Wahrheit ans Licht zu bringen und herauszufinden, was mit Harriet passiert ist. Hatten Sie erwartet, dass diese Wahrheit schmerzfrei für Sie sein würde?«

Der Alte sah ihn an. Dann weiteten sich seine Augen.

»Martin?«

»Er ist ein Teil dieser Geschichte.«

Henrik Vanger blinzelte.

»Ich muss Sie jetzt etwas fragen.«

»Was?«

»Wollen Sie immer noch wissen, was geschehen ist? Auch, wenn es wehtut und die Wahrheit schrecklicher ist, als Sie es sich vorgestellt haben?«

Henrik sah Mikael lange an. Dann nickte er.

»Ich will es wissen. Das war Sinn und Zweck dieses Auftrags.«

»Gut. Ich glaube, ich weiß, was mit Harriet passiert ist. Aber ich bin noch nicht ganz fertig, ein Puzzleteil fehlt noch.«

»Erzählen Sie.«

»Nein. Nicht heute. Ich will, dass Sie sich jetzt weiter erholen. Der Arzt sagt, dass die Krise überstanden ist und Sie langsam wieder zu Kräften kommen.«

»Behandeln Sie mich nicht wie ein Kind.«

»Ich bin noch nicht am Ziel. Momentan habe ich nur eine Theorie. Ich werde jetzt losziehen und versuchen, das letzte Puzzleteil zu finden. Nächstes Mal werde ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen. Das kann ein wenig dauern. Aber Sie sollen wissen, dass ich auf jeden Fall zurückkomme, und dann erfahren Sie die Wahrheit.«

Lisbeth zog eine Plane über ihr Motorrad und stellte es an der windgeschützten Seite der Hütte ab. Als Mikael und sie mit dem geliehenen Auto losfuhren, brach das Gewitter mit neuer Kraft wieder los. Südlich von Gävle wurden sie von einem so heftigen Schauer überrascht, dass Mikael kaum noch die Straße erkennen konnte. Sicherheitshalber steuerten sie eine Tankstelle an, wo sie einen Kaffee tranken und warteten, bis sich der Regen wieder legte. Erst um sieben Uhr abends waren sie in Stockholm. Mikael gab Lisbeth den Nummerncode für seine Wohnung und ließ sie an der U-Bahn-Haltestelle Centralen aussteigen. Seine eigene Wohnung kam ihm fremd vor, als er durch die Tür trat.

Er staubsaugte und trocknete ab, während Lisbeth bei Plague in Sundbyberg etwas zu erledigen hatte. Gegen Mitternacht klopfte sie an Mikaels Tür. Zehn Minuten lang nahm sie gründlich jeden Winkel und jede Ecke seiner Wohnung in Augenschein. Danach blieb sie lange am Fenster stehen und blickte hinaus.