Der Schlafbereich war mit einer Reihe frei stehender Kleiderschränke und Bücherregale abgetrennt. Sie zogen sich aus und schliefen ein paar Stunden.
Tags darauf gegen zwölf landeten sie am Londoner Flughafen Gatwick. Regenwetter empfing sie. Mikael hatte ein Zimmer im Hotel James am Hyde Park gebucht, ein hervorragendes, modernes Hotel im Vergleich zu all den Bruchbuden in Bayswater, in denen er bei früheren Besuchen in London immer logiert hatte. Die Rechnung wurde von Frodes Konto für die laufenden Ausgaben gedeckt.
Um fünf Uhr nachmittags standen sie an der Bar, als sich ihnen ein Mann um die dreißig näherte. Er war fast kahlköpfig, trug einen blonden Bart und eine zu große Jacke, Jeans und Segelschuhe.
»Wasp?«, fragte er.
»Trinity?«, fragte sie zurück. Sie nickten sich zu. Nach Mikaels Namen erkundigte er sich gar nicht.
Trinitys Partner wurde ihnen als »Bob the Dog« vorgestellt. Er wartete um die Ecke in einem alten Lieferwagen auf sie. Sie kletterten durch die Schiebetüren hinein und setzten sich auf die an der Wand befestigten Klappsitze. Während Bob sich durch den Londoner Verkehr navigierte, unterhielten sich Wasp und Trinity.
»Plague hat gesagt, es geht um einen crash-bang job.«
»Telefon abhören und E-Mails in einem Computer kontrollieren. Es kann superschnell gehen oder ein paar Tage dauern, je nachdem, wie viel Druck er macht.« Lisbeth deutete mit dem Daumen auf Mikael. »Kriegt ihr das hin?«
»Peanuts«, gab Trinity zur Antwort.
Anita Vanger wohnte in einem kleinen Reihenhaus im hübschen Städtchen St. Albans, eine knappe Autostunde in nördlicher Richtung. Aus dem Lieferwagen heraus beobachteten sie, wie sie gegen sieben Uhr abends nach Hause kam und die Tür aufschloss. Sie warteten, bis sie geduscht, eine Kleinigkeit gegessen und sich dann vor den Fernseher gesetzt hatte, bevor Mikael bei ihr klingelte.
Eine fast identische Ausgabe von Cecilia Vanger öffnete ihm, auf dem Gesicht ein höfliches Fragezeichen.
»Hallo, Anita. Ich heiße Mikael Blomkvist. Henrik Vanger lässt Sie schön grüßen. Ich nehme an, Sie kennen die Neuigkeiten von Martin schon.«
Ihr Gesichtsausdruck wechselte von Erstaunen zu Wachsamkeit. Als sie den Namen hörte, wusste sie genau, wer Mikael Blomkvist war. Sie hatte Kontakt mit Cecilia gehabt, die höchstwahrscheinlich eine gewisse Verärgerung über Mikael zum Ausdruck gebracht hatte. Aber da er Henriks Namen nannte, musste sie ihn hereinbitten. Sie bat Mikael, im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Er sah sich um. Anita Vangers Zuhause war geschmackvoll eingerichtet - von einer Person, die Geld und ein erfülltes Berufsleben hatte, aber kein großes Aufheben von sich machte. Er bemerkte eine signierte Grafik von Anders Zorn über einem offenen Kamin.
»Verzeihen Sie, dass ich Sie so aus heiterem Himmel behellige, aber ich war sowieso in London und habe tagsüber versucht, Sie anzurufen.«
»Verstehe. Worum geht es denn?« Ihre Stimme klang defensiv.
»Haben Sie vor, zur Beerdigung zu fahren?«
»Nein, Martin und ich standen uns nicht sehr nahe, und ich kann mir auch nicht freinehmen.«
Mikael nickte. Anita Vanger hatte sich dreißig Jahre lang tunlichst von Hedestad ferngehalten. Seit ihr Vater auf die Hedeby-Insel zurück gezogen war, hatte sie kaum einen Fuß dorthin gesetzt.
»Ich will wissen, was mit Harriet Vanger passiert ist. Es wird Zeit für die Wahrheit.«
»Harriet? Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
Mikael lächelte über ihre gespielte Verwunderung.
»Sie waren Harriets engste Freundin in der Familie. Sie hat sich mit ihrem schrecklichen Wissen an Sie gewandt.«
»Sie spinnen wohl!«, sagte Anita Vanger.
»Damit haben Sie wahrscheinlich sogar recht«, meinte Mikael leichthin. »Sie waren in Harriets Zimmer, Anita. Das kann ich mit einem Foto beweisen. In ein paar Tagen werde ich Henrik Bericht erstatten, und dann erfährt er es auf diese Art. Warum erzählen Sie mir nicht einfach, was geschehen ist?«
Anita Vanger stand auf.
»Verlassen Sie sofort mein Haus!«
Mikael stand auf.
»Früher oder später werden Sie mit mir reden müssen.«
»Ich habe Ihnen nichts zu sagen.«
»Martin ist tot«, sagte Mikael eindringlich. »Sie haben Martin nie gemocht. Ich glaube, Sie sind nicht nur nach London gezogen, um Ihren Vater nicht mehr sehen zu müssen, sondern auch, um Martin nicht mehr zu begegnen. Das bedeutet aber, dass Sie auch Bescheid wussten, und die Einzige, die es Ihnen erzählt haben kann, ist Harriet. Die Frage ist nur - was haben Sie mit diesem Wissen angefangen?«
Anita Vanger knallte Mikael die Tür vor der Nase zu.
Lisbeth lächelte Mikael zufrieden an, als sie ihn von dem Mikrofon befreite, das er unter seinem Hemd getragen hatte.
»Dreißig Sekunden, nachdem wir draußen waren, hat sie den Hörer abgenommen«, sagte sie.
»Die Vorwahl ist die von Australien«, verkündete Trinity und legte die Kopfhörer auf den kleinen Arbeitstisch im Lieferwagen. »Ich muss nur mal kurz den area code prüfen.« Er drückte ein paar Tasten auf seinem Laptop.
»Okay, sie hat diese Nummer hier gewählt. Das ist ein Anschluss in einem Ort namens Tennant Creek, nördlich von Alice Springs in Australien, Northern Territory. Wollen Sie das Gespräch hören?«
Mikael nickte. »Wie spät ist es jetzt in Australien?«
»Ungefähr fünf Uhr morgens.« Trinity schaltete den Digitalspieler ein und schloss ein paar Lautsprecher an. Mikael hörte acht Mal das Freizeichen, bevor jemand den Hörer abnahm. Das Gespräch wurde auf Englisch geführt.
»Hallo. Ich bin’s.«
»Puuh, ich bin ja bestimmt kein Morgenmuffel, aber …«
»Ich wollte gestern schon anrufen … Martin ist tot. Er hatte vorgestern einen Autounfall.«
Schweigen. Danach etwas, das wie ein Räuspern klang, aber auch als »Gut« interpretiert werden konnte.
»Aber wir haben ein Problem. Ein widerlicher Journalist, der von Henrik engagiert worden ist, hat gerade eben an meine Tür geklopft. Er will wissen, was 1966 geschehen ist. Irgendwas weiß er.«
Schweigen. Dann eine resolute Stimme: »Anita. Leg jetzt auf. Wir dürfen eine Weile keinen Kontakt mehr haben.«
»Aber …«
»Schreib mir einen Brief. Erzähl mir, was passiert ist.« Danach brach das Gespräch ab.
»Cleveres Mädchen«, sagte Lisbeth mit bewunderndem Unterton.
Sie kamen kurz vor elf Uhr abends ins Hotel zurück. An der Rezeption war man ihnen dabei behilflich, Plätze für den nächstmöglichen Flug nach Australien zu buchen. Nach einer Weile hatten sie Plätze in einem Flugzeug, das erst am nächsten Abend um 19.05 Uhr nach Canberra, New South Wales, abfliegen würde.
Als alle Details abgeklärt waren, zogen sie sich aus und fielen ins Bett.
Lisbeth Salander war zum ersten Mal in London. Sie verbrachten den Vormittag damit, die Tottenham Court Road entlangzulaufen und durch Soho zu bummeln. In der Old Compton Street legten sie eine Pause ein und tranken einen Milchkaffee. Gegen drei gingen sie zum Hotel zurück, um ihr Gepäck zu holen. Als Mikael die Rechnung bezahlte, schaltete Lisbeth ihr Handy ein und bemerkte, dass sie eine SMS bekommen hatte.
»Ich soll Armanskij zurückrufen.«
Sie benutzte das Telefon an der Rezeption, um ihren Chef anzurufen. Mikael stand ein Stück von ihr entfernt und sah nur, wie Lisbeth ihn mit versteinertem Gesicht anblickte. Er war sofort bei ihr.
»Was ist?«
»Meine Mutter ist tot. Ich muss sofort nach Schweden zurück.«
Lisbeth sah so verzweifelt aus, dass Mikael sie in den Arm nahm. Sie schob ihn von sich.
In der Hotelbar tranken sie noch einen Kaffee. Als Mikael erklärte, er wolle die Tickets nach Australien stornieren und mit ihr nach Stockholm fliegen, schüttelte sie den Kopf.
»Nein«, widersprach sie. »Wir können den Job jetzt nicht in den Sand setzen. Du musst allein nach Australien fliegen.«
Sie trennten sich vor dem Hotel.