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»Sind wir uns schon einmal irgendwo begegnet?«, fragte Harriet Vanger.

»Oh ja. Ich heiße Mikael Blomkvist. Sie waren mein Babysitter in dem Sommer, als ich drei Jahre alt war. Sie waren zwölf, dreizehn Jahre alt.«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sich ihr Blick aufhellte, und Mikael sah, dass sie sich plötzlich an ihn erinnern konnte. Sie sah verblüfft aus.

»Was wollen Sie?«

»Ich bin nicht Ihr Feind, Harriet. Ich bin nicht hier, um Ihnen etwas Böses zu tun. Aber wir müssen uns unterhalten.«

Sie bat Jeff, die Aufsicht zu übernehmen, und bedeutete Mikael, ihr zu folgen. Gemeinsam gingen sie ungefähr zweihundert Meter weiter, bis sie eine Gruppe weißer Segeltuchzelte an einem Hain erreichten. Sie wies auf einen Klappstuhl neben einem klapprigen Tisch, goss Wasser in ein Waschbecken und wusch sich das Gesicht. Dann trocknete sie sich ab, ging ins Zelt und wechselte das Hemd.

»Okay. Sprechen Sie.«

»Warum erschießen Sie die Schafe?«

»Wir haben eine ansteckende Epidemie. Die meisten dieser Schafe sind wahrscheinlich völlig gesund, aber wir können nicht riskieren, dass sich die Krankheit ausbreitet. Wir müssen nächste Woche sechshundert Schafe notschlachten. Deswegen bin ich nicht unbedingt bester Laune.«

Mikael nickte.

»Ihr Bruder ist vor ein paar Tagen bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«

»Ich hab’s gehört.«

»Von Anita Vanger, als sie Sie angerufen hat.«

Sie sah ihn eine Weile forschend an. Dann nickte sie. Sie begriff, dass es sinnlos war, solch einfache Wahrheiten abzustreiten.

»Wie haben Sie mich gefunden?«

»Wir haben Anitas Telefon abgehört.« Auch Mikael fand, dass es keinen Grund zum Lügen gab. »Ich habe Ihren Bruder ein paar Minuten vor seinem Tod getroffen.«

Harriet Vanger runzelte die Brauen. Sie sahen sich in die Augen. Dann nahm er seinen albernen Schal ab, zog den Hemdkragen nach unten und zeigte ihr den Streifen, den die Würgeschlinge hinterlassen hatte. Er war von der Entzündung gerötet; wahrscheinlich würde er dort zur Erinnerung an Martin Vanger eine Narbe zurückbehalten.

»Ihr Bruder hatte mich an einer Schlinge aufgehängt, als in letzter Minute meine Partnerin auftauchte und ihn vermöbelt hat.«

In Harriets Augen blitzte etwas auf.

»Ich glaube, am besten erzählen Sie mir die Geschichte von Anfang an.«

Es dauerte über eine Stunde. Mikael begann, indem er ihr erzählte, wer er war und welchen Job er ausübte. Er erzählte, wie Henrik ihn beauftragt hatte und warum es ihm nicht ungelegen gekommen war, sich in Hedeby niederzulassen. Er fasste zusammen, wie die polizeilichen Ermittlungen sich festgefahren und Henrik jahrelang auf eigene Faust ermittelt hatte, in der Überzeugung, irgendjemand aus der Familie habe Harriet ermordet. Er fuhr seinen Laptop hoch und erklärte, wie er an die Bilder von der Bahnhofstraße herangekommen war und wie Lisbeth und er einen Serienmörder aufgespürt hatten, der sich schließlich als zwei Personen entpuppte.

Während er redete, fing es an zu dämmern. Die Männer machten Feierabend, zündeten Lagerfeuer an, und bald köchelte in allen Töpfen der Eintopf vor sich hin. Mikael bemerkte, dass Jeff in der Nähe seiner Chefin blieb und ihn misstrauisch im Auge behielt. Der Koch brachte Harriet und Mikael ein Abendessen. Sie machten sich jeder eine Flasche Bier auf. Als er mit seiner Erzählung fertig war, schwieg Harriet eine Weile.

»Mein Gott«, sagte sie.

»Der Mord in Uppsala ist Ihnen entgangen.«

»Dem habe ich keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt. Ich war so froh, dass mein Vater tot war und die Gewalt ein Ende genommen hatte. Nie wäre mir eingefallen, dass Martin …« Sie brach ab. »Ich bin froh, dass er tot ist.«

»Ich kann Sie verstehen.«

»Aber Ihre Erzählung erklärt nicht, wie Sie darauf gekommen sind, dass ich noch am Leben bin.«

»Als wir herausgefunden hatten, was geschehen war, war der Rest nicht mehr schwer. Um verschwinden zu können, brauchten Sie Hilfe. Anita Vanger war Ihre Vertraute und die Einzige, die infrage kam. Sie waren Freundinnen geworden und hatten den Sommer miteinander verbracht. Sie wohnten draußen in Gottfrieds Häuschen. Wenn es jemand gab, dem Sie sich anvertrauen konnten, dann war sie es - außerdem hatte sie ja gerade den Führerschein gemacht.«

Harriet Vanger sah ihn mit neutralem Gesichtsausdruck an.

»Und jetzt, wo Sie wissen, dass ich lebe - was werden Sie tun?«

»Ich werde es Henrik erzählen. Er verdient es, die Wahrheit zu erfahren.«

»Und dann? Sie sind Journalist.«

»Ich habe nicht vor, Sie öffentlich vorzuführen, Harriet. Ich habe in diesem ganzen Schlamassel schon so viele Unkorrektheiten begangen, dass der Journalistenverband mich wahrscheinlich ausschließen würde, wenn er davon erführe.« Er versuchte zu scherzen. »Eine mehr oder weniger spielt da auch keine Rolle mehr, und ich will doch mein altes Kindermädchen nicht gegen mich aufbringen.«

Sie lächelte nicht einmal.

»Wie viele kennen die Wahrheit?«

»Dass Sie am Leben sind? Derzeit nur ich und Sie und Anita und meine Partnerin Lisbeth. Dirch Frode kennt ungefähr zwei Drittel der Geschichte, aber er glaubt immer noch, dass Sie in den sechziger Jahren gestorben sind.«

Harriet Vanger schien nachzudenken. Sie blickte ins Dunkel hinaus. Erneut beschlich Mikael das unangenehme Gefühl, sich ganz alleine in einer heiklen Lage zu befinden. Harriet Vangers Gewehr lehnte immer noch einen halben Meter von ihr entfernt an der Zeltwand. Schließlich besann er sich und wechselte das Thema.

»Aber wie haben Sie es geschafft, Schafzüchterin in Australien zu werden? Ich weiß bereits, dass Anita Vanger Sie von der Hedeby-Insel fortgeschmuggelt hat, vermutlich im Kofferraum, als die Brücke einen Tag nach dem Unfall wieder freigegeben worden war.«

»Ich lag tatsächlich nur auf dem Boden vor den Rücksitzen und war mit einer Wolldecke zugedeckt. Ich ging zu Anita, als sie auf die Insel kam und sagte ihr, dass ich fliehen musste. Sie haben richtig geraten, ich habe mich ihr anvertraut. Sie hat mir geholfen und war mir über all die Jahre eine loyale Freundin.«

»Wie sind Sie nach Australien gekommen?«

»Zuerst habe ich ein paar Wochen in Anitas Studentenzimmer in Stockholm gewohnt, bis ich Schweden verließ. Anita hatte eigenes Geld und lieh mir eine größere Summe. Ich bekam auch ihren Pass. Wir sahen uns sehr ähnlich, ich musste mir nur die Haare blond färben. Vier Jahre lang wohnte ich in einem Kloster in Italien - ich war zwar keine Nonne, aber es gibt Klöster, in denen man billig Zimmer mieten kann, um in Ruhe und Frieden nachdenken zu können. Dann begegnete ich zufällig Spencer Cochran. Er war ein paar Jahre älter als ich, hatte gerade sein Examen in England gemacht und reiste noch ein bisschen kreuz und quer durch Europa. Ich verliebte mich. Und er sich auch. So einfach war das. Ich heiratete ihn 1971 als Anita Vanger. Ich habe es nie bereut. Er war ein wunderbarer Mann. Leider ist er vor acht Jahren gestorben, und mir fiel mit einem Mal die Farm zu.«

»Aber der Pass - es musste doch jemand auffallen, dass es zwei Anita Vangers gab?«

»Nein, wieso? Eine Schwedin namens Anita Vanger ist verheiratet mit Spencer Cochran. Ob sie jetzt in London oder Australien wohnt, spielt keine Rolle. In London ist sie Spencer Cochrans Frau, die eben getrennt von ihm lebt. In Australien lebt sie mit ihm zusammen. Niemand gleicht die Melderegister zwischen London und Canberra ab. Außerdem bekam ich ja bald einen australischen Pass auf den Namen Cochran. Dieses Arrangement funktioniert prächtig. Die Sache hätte nur gefährdet werden können, wenn es Anita in den Sinn gekommen wäre, zu heiraten. Meine Ehe ist in den schwedischen Melderegistern eingetragen.«

»Sie hat es also bleiben lassen.«

»Sie behauptet, dass sie keinen gefunden hat. Aber ich weiß, dass sie für mich verzichtet hat. Sie war eine echte Freundin.«