Выбрать главу

»Was hat sie damals in Ihrem Zimmer gemacht?«

»Ich war an jenem Tag nicht bei klarstem Verstand. Ich hatte Angst vor Martin, aber solange er in Uppsala war, konnte ich das Problem verdrängen. Dann stand er da einfach auf der Straße in Hedestad, und ich begriff, dass ich niemals in meinem ganzen Leben sicher sein würde. Ich schwankte zwischen zwei Möglichkeiten - entweder Henrik alles zu erzählen oder zu fliehen. Als Henrik keine Zeit hatte, lief ich rastlos durch die Stadt. Ich verstehe natürlich, dass dieser Unfall auf der Brücke für meine Familienmitglieder alles überschattet hat, aber eben nicht für mich. Ich hatte meine eigenen Probleme und war mir des Unfalls kaum bewusst. Alles kam mir so unwirklich vor. Dann lief mir zufällig Anita über den Weg, die in einem kleinen Gästehäuschen auf Gerdas und Alexanders Grundstück wohnte. Da entschloss ich mich, sie um Hilfe zu bitten. Ich blieb die ganze Zeit bei ihr und traute mich kein einziges Mal, den Fuß vor die Tür zu setzen. Aber eins musste ich auf meiner Flucht unbedingt mitnehmen - ich hatte alles, was geschehen war, in ein Tagebuch geschrieben, außerdem brauchte ich ja ein paar Sachen zum Anziehen. Anita holte alles für mich.«

»Ich nehme an, sie konnte der Versuchung nicht widerstehen, das Fenster zu öffnen und einen Blick auf den Unfallort zu werfen.« Mikael überlegte kurz. »Nur eines begreife ich nicht: Warum sind Sie nicht zu Henrik gegangen, wie Sie es ursprünglich vorgehabt hatten?«

»Was glauben Sie?«

»Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin überzeugt, dass Henrik Ihnen geholfen hätte. Martin wäre sofort unschädlich gemacht worden, und Henrik hätte Sie natürlich nicht bloßgestellt. Er hätte das Ganze irgendwo diskret mit einer Art Therapie geregelt.«

»Sie haben nicht kapiert, was passiert ist.«

Bis zu diesem Moment hatte Mikael zwar Gottfrieds sexuelle Übergriffe auf Martin erwähnt, Harriets Rolle aber offen gelassen.

»Gottfried hat sich an Martin vergangen«, sagte er vorsichtig. »Und ich befürchte, er hat sich auch an Ihnen vergriffen.«

Harriet Vanger bewegte keinen Muskel. Dann holte sie tief Luft und vergrub das Gesicht in den Händen. Es dauerte ungefähr drei Sekunden, dann war Jeff bei ihr und fragte, ob alles in Ordnung sei. Harriet Vanger sah ihn an und schenkte ihm ein schwaches Lächeln. Dann überraschte sie Mikael, indem sie aufstand, ihren Studs Manager umarmte und auf die Wange küsste. Den Arm um seine Schulter gelegt, wandte sie sich an Mikael.

»Jeff, das hier ist Mikael, ein alter … Freund aus längst vergangenen Tagen. Er bringt Probleme und schlechte Nachrichten, aber wir wollen ja nicht den Überbringer der schlechten Nachricht erschießen. Mikael, das hier ist Jeff Cochran. Mein ältester Sohn. Ich habe noch einen Sohn und eine Tochter.«

Mikael nickte. Jeff war um die dreißig. Harriet hatte also nicht lange mit dem Kinderkriegen gewartet, nachdem sie Spencer Cochran geheiratet hatte. Er stand auf, streckte Jeff die Hand entgegen und erklärte, wie leid es ihm tat, seine Mutter traurig gemacht zu haben, es sei aber leider notwendig gewesen. Harriet wechselte ein paar Worte mit Jeff und schickte ihn dann fort. Sie setzte sich wieder zu Mikael und schien einen Entschluss gefasst zu haben.

»Keine Lügen mehr. Ich denke, es ist alles vorbei. Irgendwie habe ich seit 1966 auf diesen Tag gewartet. Jahrelang war es meine größte Angst, dass jemand wie Sie kommen und meinen wahren Namen aussprechen würde. Und wissen Sie was - auf einmal ist es mir egal. Mein Verbrechen ist verjährt. Und ich pfeife drauf, was die Leute von mir denken.«

»Verbrechen?«, hakte Mikael nach.

Sie sah ihn herausfordernd an, aber er verstand nicht, wovon sie sprach.

»Ich war sechzehn. Ich hatte Angst. Ich schämte mich. Ich war verzweifelt. Ich war allein. Die Einzigen, die die Wahrheit kannten, waren Anita und Martin. Anita hatte ich von den sexuellen Übergriffen erzählt, aber ich hatte es nicht über mich gebracht, ihr zu erzählen, dass mein Vater obendrein ein verrückter Frauenmörder war. Davon hat Anita nie erfahren. Ich habe ihr jedoch von dem Verbrechen erzählt, das ich selbst begangen habe. Es war so furchtbar, dass ich es Henrik im entscheidenden Moment nicht zu sagen wagte. Ich betete, dass Gott mir verzeihen mochte. Und ich versteckte mich mehrere Jahre in einem Kloster.«

»Harriet, Ihr Vater war ein Vergewaltiger und Mörder. Sie traf keine Schuld.«

»Ich weiß. Mein Vater hat mich ein Jahr lang missbraucht. Ich habe alles getan, um zu vermeiden, dass … aber er war mein Vater, und ich konnte mich nicht plötzlich weigern, ihn zu sehen, ohne den Grund zu erklären. Also lächelte ich und spielte ein Spiel und versuchte so zu tun, als wäre alles okay. Ich sorgte nach Möglichkeit dafür, dass andere in der Nähe waren, wenn wir uns trafen. Meine Mutter wusste natürlich, was er machte, aber sie kümmerte sich nicht weiter darum.«

»Isabella wusste es?«, rief Mikael bestürzt aus.

Harriets Stimme wurde wieder hart.

»Natürlich wusste sie davon. In unserer Familie gab es nichts, was sie nicht gewusst hätte. Aber Dinge, die ihr unangenehm waren oder die sie in ein schlechtes Licht rückten, ignorierte sie einfach. Mein Vater hätte mich mitten im Wohnzimmer vor ihren Augen vergewaltigen können, ohne dass sie es gesehen hätte. Sie war unfähig, sich einzugestehen, dass in meinem oder ihrem Leben etwas nicht stimmte.«

»Ich habe sie kennengelernt. Sie ist eine alte Hexe.«

»Das ist sie ihr Lebtag gewesen. Ich habe oft über das Verhalten meiner Eltern nachgedacht. Ich weiß, dass sie selten oder nie Sex miteinander hatten, seitdem ich zur Welt gekommen war. Auf eine ganz seltsame Art hatte er Angst vor Isabella. Er ging ihr aus dem Weg, konnte sich aber nicht scheiden lassen.«

»In der Familie Vanger lässt man sich nicht scheiden.«

Zum ersten Mal lachte sie.

»Nein, das tut man nicht. Aber ich brachte es eben nicht über mich, alles zu erzählen. Die ganze Welt hätte es erfahren. Meine Klassenkameraden, die gesamte Familie …«

Mikael legte eine Hand auf die ihre. »Harriet, es tut mir so entsetzlich leid.«

»Ich war vierzehn, als er mich zum ersten Mal vergewaltigte. Und im Jahr danach nahm er mich immer in sein Häuschen mit. Mehrmals war auch Martin dabei. Unser Vater zwang uns beide, gewisse Sachen mit ihm zu machen. Und er hielt mir die Arme fest, während Martin sich an mir … befriedigen durfte. Als mein Vater starb, stand Martin schon bereit, seine Rolle zu übernehmen. Er erwartete, dass ich seine Geliebte würde, und fand es ganz natürlich, dass ich mich ihm unterwerfe. Zu jenem Zeitpunkt hatte ich keine Wahl mehr. Ich musste Martin zu Willen zu sein. Den einen Peiniger war ich losgeworden, nur um dem nächsten in die Hände zu fallen. Ich musste also aufpassen, dass sich möglichst keine Gelegenheit ergab, bei der ich mit ihm allein war.«

»Henrik hätte …«

»Sie verstehen mich immer noch nicht.«

Sie wurde lauter. Mikael sah, wie ein paar Männer im Zelt nebenan zu ihm hinüberschielten. Sie dämpfte ihre Stimme wieder und beugte sich ihm entgegen.

»Alles liegt ganz offen vor Ihnen. Sie müssen sich den Rest nur an den Fingern abzählen.«

Sie stand auf und holte noch zwei Flaschen Bier. Als sie zurückkam, sagte Mikael nur ein Wort zu ihr.

»Gottfried?«

Sie nickte.

»Am 7. August 1965 hatte mein Vater mich gezwungen, mit ihm in seine Hütte zu kommen. Henrik war verreist. Mein Vater war heillos betrunken und versuchte, mich zu vergewaltigen. Dabei kriegte er ihn nicht mal hoch, er war ja schon kurz vorm Delirium. Er war immer … grob und gewalttätig, wenn wir allein waren, aber diesmal überschritt er die Grenze. Er urinierte auf mich. Dann erzählte er mir wieder, was er mit mir machen würde. Am Abend sprach er von den Frauen, die er ermordet hatte. Er prahlte damit. Er zitierte die Bibel. Stundenlang ging das so. Ich verstand nicht mal die Hälfte von dem, was er sagte, aber ich begriff, dass er vollkommen krank im Kopf war.«

Sie nahm einen Schluck Bier.

»Irgendwann gegen Mitternacht bekam er einen richtigen Anfall. Er wurde total wahnsinnig. Wir waren oben in seinem Schlafgeschoss. Er legte mir ein T-Shirt um den Hals und zog so fest zu, wie er nur konnte. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich hegte nicht den geringsten Zweifel, dass er mich wirklich umbringen wollte, und zum ersten Mal in der Nacht gelang es ihm auch, mich vollständig zu vergewaltigen.«