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Harriet Vanger richtete ihre Augen flehentlich auf Mikael.

»Aber er war so besoffen, dass ich mich irgendwie befreien konnte. Ich lief panisch aus der Hütte. Ich war nackt und rannte, ohne groß nachzudenken, bis ich plötzlich unten am Bootssteg ankam. Er kam mir torkelnd hinterher.«

Mikael wünschte sich plötzlich, sie würde nicht weitererzählen.

»Meine Kräfte reichten aus, um einen Besoffenen ins Wasser zu stoßen. Ich benutzte ein Ruder, um ihn unter Wasser zu drücken, bis er aufhörte zu zappeln. Es dauerte nur ein paar Sekunden.«

Sie hielt inne. Die Stille war plötzlich ohrenbetäubend.

»Und als ich wieder aufblickte, stand Martin da. Er sah erschrocken aus, grinste aber dann. Ich weiß nicht, wie lange er sich schon vor dem Häuschen herumgetrieben und uns nachspioniert hatte. Von diesem Moment an war ich ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Er packte mich bei den Haaren, führte mich in die Hütte zurück und wieder in Gottfrieds Bett. Er fesselte und vergewaltigte mich, während unser Vater immer noch im Wasser unten am Landesteg trieb, und ich konnte mich nicht einmal widersetzen.«

Mikael blinzelte. Er schämte sich plötzlich und wünschte, er hätte Harriet Vanger in Frieden gelassen. Aber ihre Stimme war jetzt wieder fest.

»Von jenem Tag an war ich ganz in seiner Gewalt. Ich tat, was er mir sagte. Ich war wie gelähmt. Was mir den Verstand rettete, war, dass Isabella darauf verfiel, sie könnte Martin nach Uppsala schicken, weil er nach dem Tod seines Vaters eine andere Umgebung brauchte. Sie schickte ihn natürlich fort, weil sie wusste, was er mit mir machte. Das war eben ihre Art, dieses Problem zu lösen. Sie können sich vorstellen, wie enttäuscht Martin war.«

Mikael nickte.

»Im Laufe des folgenden Jahres war er nur in den Weihnachtsferien zu Hause, und es gelang mir, ihm aus dem Weg zu gehen. Zwischen den Jahren begleitete ich Henrik auf eine Reise nach Kopenhagen. Und in den Sommerferien war ja Anita da, der ich mich anvertraute. Sie blieb die ganze Zeit bei mir und sorgte dafür, dass er nicht in meine Nähe kommen konnte.«

»Sie haben ihn auf der Bahnhofstraße wiedergesehen.«

Sie warf Mikael einen fast schon amüsierten Blick zu.

»Es ist tatsächlich schön, endlich die Wahrheit zu erzählen. Jetzt wissen Sie Bescheid. Was gedenken Sie mit diesem Wissen anzufangen?«

27. Kapitel

Samstag, 26. Juli - Montag, 28. Juli

Mikael holte Lisbeth um zehn Uhr morgens vor ihrer Haustür in der Lundagata ab und fuhr sie zum Krematorium des Nordfriedhofs. Während des Gedenkgottesdienstes blieb er bei ihr. Lisbeth und Mikael waren lange Zeit die einzigen Anwesenden außer dem Pfarrer, aber als die Beerdigungszeremonie begann, kam plötzlich Dragan Armanskij ganz leise zur Tür herein. Er nickte Mikael kurz zu, stellte sich hinter Lisbeth und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie nickte, ohne ihn anzusehen, als wüsste sie, wer hinter ihr stand. Dann ignorierte sie sowohl ihn als auch Mikael.

Lisbeth hatte nichts von ihrer Mutter erzählt, aber der Pfarrer hatte offensichtlich mit jemand aus dem Pflegeheim gesprochen, in dem sie gestorben war. Mikael wusste, dass eine Hirnblutung die Todesursache gewesen war. Lisbeth sprach während der gesamten Zeremonie kein Wort. Zweimal verlor der Pfarrer den Faden, als er sich direkt an Lisbeth wandte, die ihm in die Augen blickte, ohne zu antworten. Als alles vorüber war, drehte sie sich auf dem Absatz um und ging, ohne Danke oder Auf Wiedersehen zu sagen. Mikael und Dragan atmeten tief durch und warfen sich einen verstohlenen Blick zu. Sie hatten keine Ahnung, was in Lisbeths Kopf vorging.

»Es geht ihr furchtbar schlecht«, sagte Dragan.

»Ich weiß«, antwortete Mikael. »Es war gut, dass Sie gekommen sind.«

»Da bin ich mir überhaupt nicht so sicher.«

Armanskij sah Mikael durchdringend an.

»Fahren Sie wieder in den Norden zurück? Passen Sie gut auf sie auf.«

Mikael versprach es ihm. Sie trennten sich vor der Kirchentür. Lisbeth wartete schon im Auto.

Sie musste nach Hedestad mitfahren, um ihr Motorrad und die von Milton Security geliehene Ausrüstung abzuholen. Erst hinter Uppsala brach sie das Schweigen und fragte, wie die Reise nach Australien verlaufen war. Mikael war am Abend zuvor sehr spät in Arlanda gelandet und hatte nur ein paar Stunden geschlafen. Während der Fahrt gab er Harriet Vangers Erzählung wieder. Lisbeth schwieg eine halbe Stunde, bis sie den Mund aufmachte.

»Verdammtes Miststück«, sagte sie.

»Wer?«

»Diese verfluchte Harriet Vanger. Wenn sie 1966 etwas unternommen hätte, dann hätte Martin nicht siebenunddreißig Jahre lang weiter morden und vergewaltigen können.«

»Harriet wusste von den Morden, die ihr Vater begangen hatte, aber sie hatte keinen Schimmer, dass Martin dabei gewesen war. Sie lief vor einem Bruder davon, der sie vergewaltigte. Falls sie ihm nicht zu Willen war, wollte er verraten, dass sie ihren Vater ertränkt hatte.«

»Bullshit.«

Danach schwiegen sie bis Hedestad. Lisbeth war ausgesprochen düsterer Laune. Mikael, der ein Treffen mit Henrik ausgemacht hatte, war schon spät dran und ließ sie an der Abzweigung nach Hedeby aussteigen. Er fragte, ob sie noch da sein würde, wenn er zurückkam.

»Hast du vor, über Nacht hierzubleiben?«

»Denke schon.«

»Willst du, dass ich noch da bin, wenn du zurückkommst?«

Er stieg aus dem Auto, ging auf die Beifahrerseite und nahm sie in die Arme. Sie schob ihn mit Gewalt fort. Mikael trat einen Schritt zurück.

»Lisbeth, wir sind Freunde.«

Sie sah ihn ausdruckslos an.

»Willst du, dass ich hierbleibe, damit du heute Nacht jemand zum Ficken hast?«

Mikael bedachte sie mit einem langen Blick. Dann drehte er sich um, setzte sich ins Auto und ließ den Motor an. Er ließ das Fenster herunter. Ihre Feindseligkeit war spürbar.

»Ich will, dass wir Freunde sind«, sagte er. »Wenn du irgendetwas anderes glaubst, dann will ich nicht, dass du noch da bist, wenn ich zurückkomme.«

Henrik Vanger saß aufrecht und voll bekleidet in seinem Bett, als Dirch Frode Mikael ins Krankenzimmer begleitete. Als Erstes fragte er den alten Mann nach seinem Gesundheitszustand.

»Sie wollen mich morgen zu Martins Begräbnis rauslassen.«

»Wie viel hat Dirch Ihnen erzählt?«

Henrik Vanger blickte auf den Boden.

»Er hat mir erzählt, was Martin und Gottfried getan haben. Das hier war alles viel schlimmer, als ich mir jemals hätte ausmalen können.«

»Ich weiß, was mit Harriet passiert ist.«

»Wie ist sie gestorben?«

»Harriet ist nicht gestorben. Sie lebt noch. Wenn Sie wollen, würde sie sich sehr gerne mit Ihnen treffen.«

Henrik Vanger und Dirch Frode starrten Mikael an, als wäre ihre Welt gerade aus den Angeln gehoben worden.

»Ich habe ein bisschen gebraucht, bis ich sie überzeugen konnte, nach Schweden zu kommen. Aber sie lebt, es geht ihr gut, und sie ist hier in Hedestad. Sie ist heute Morgen angekommen und kann in einer Stunde hier sein. Wenn Sie sie sehen wollten, heißt das natürlich.«

Und wieder musste Mikael die Geschichte von Anfang bis Ende erzählen. Henrik Vanger hörte so konzentriert zu, als lausche er der Bergpredigt eines modernen Jesus. An ein paar Stellen unterbrach er ihn mit einer Frage oder bat Mikael, etwas zu wiederholen. Dirch Frode sagte kein Wort.

Als Mikael fertig war, schwieg der Alte. Obwohl die Ärzte versichert hatten, Henrik habe sich von seinem Herzanfall erholt, fürchtete Mikael sich vor dem Augenblick, da er ihm die ganze Geschichte erzählen würde - er hatte Angst, es würde einfach zu viel für seinen Auftraggeber sein. Aber Henrik zeigte keine äußerlichen Anzeichen von Bewegtheit. Nur seine Stimme war vielleicht ein klein wenig belegt, als er das Schweigen brach.