Sie stattete der Kirche einen Besuch ab. Auch hier kein Mikael. Eine Weile blieb sie unschlüssig stehen. Dann kehrte sie um, holte eine Taschenlampe aus der Satteltasche ihres Motorrads und ging noch einmal am Wasser entlang. Es dauerte eine Weile, auf dem halb überwucherten Weg voranzukommen, und noch länger, um den Pfad zu Gottfrieds Häuschen zu finden. Als sie schon fast dort war, tauchte es schließlich hinter ein paar Bäumen aus der Dunkelheit auf. Mikael war nicht auf der Veranda zu sehen, die Tür war abgeschlossen.
Sie war schon auf dem Rückweg, als sie noch einmal innehielt, umkehrte und ganz bis ans Wasser hinunterging. Plötzlich sah sie Mikaels Silhouette in der Dunkelheit. Er saß auf dem Bootssteg, an dem Harriet ihren Vater ertränkt hatte. Erst in diesem Moment konnte sie erleichtert ausatmen.
Er hörte ihre Schritte auf den Planken und drehte sich um. Wortlos setzte sie sich neben ihn. Schließlich brach er das Schweigen.
»Entschuldige. Ich musste nur eine Weile alleine sein.«
»Ich weiß.«
Sie steckte zwei Zigaretten an und gab ihm eine. Er sah sie an. Lisbeth war der unsozialste Mensch, den er jemals getroffen hatte. Für gewöhnlich ignorierte sie jeden seiner Versuche, über persönliche Dinge zu sprechen, und nicht ein einziges Mal hatte sie ihm ihre Sympathie bekundet. Sie hatte ihm das Leben gerettet, und jetzt war sie mitten in der Nacht losgezogen, um ihn zu suchen. Er legte einen Arm um sie.
»Jetzt weiß ich, für welchen Preis man mich kaufen kann. Wir haben diese Frauen verraten«, sagte er. »Die werden die ganze Geschichte vertuschen. Alles, was in Martins Keller geschah, wird totgeschwiegen.«
Lisbeth entgegnete nichts.
»Erika hatte recht«, fuhr er fort. »Ich hätte für einen Monat nach Spanien fahren, mich mit ein paar Spanierinnen vergnügen und dann heimkommen sollen, um mir Wennerström vorzuknöpfen. Jetzt habe ich Monate nutzlos vergeudet.«
»Wenn du nach Spanien gefahren wärst, dann hätte Martin seine Verbrechen fortgesetzt.«
Schweigen. Sie blieben eine ganze Weile nebeneinander sitzen, bis er aufstand und vorschlug, nach Hause zu gehen.
Mikael schlief vor Lisbeth ein. Sie konnte nicht schlafen und lauschte seinen Atemzügen. Dann ging sie in die Küche und machte sich einen Kaffee, setzte sich aufs Küchensofa und rauchte mehrere Zigaretten, während sie intensiv nachdachte. Dass Vanger und Frode Mikael ausgenutzt hatten, betrachtete sie als selbstverständlich. Das lag in ihrer Natur. Aber das war Mikaels Sache und nicht ihr Problem. Oder?
Schließlich fasste sie einen Entschluss. Sie drückte ihre Zigarette aus, ging zu Mikael, machte die Nachttischlampe an und rüttelte ihn wach. Es war halb drei Uhr morgens.
»Ich habe eine Frage. Setz dich mal auf.«
Mikael setzte sich auf und sah sie schlaftrunken an.
»Als du damals angeklagt wurdest - warum hast du dich nicht verteidigt?«
Mikael schüttelte den Kopf und sah ihr in die Augen. Dann warf er einen Blick auf die Uhr.
»Das ist eine lange Geschichte, Lisbeth.«
»Erzähl. Ich hab Zeit.«
Er schwieg eine geraume Weile und überlegte, was er sagen sollte. Schließlich entschied er sich für die Wahrheit.
»Ich konnte mich nicht verteidigen. Der Inhalt meines Artikels war falsch.«
»Als ich mich in deinen Computer gehackt habe und deine Mailkorrespondenz mit Erika Berger las, gab es da jede Menge Verweise auf die Wennerström-Affäre, aber ihr habt die ganze Zeit die praktischen Details des Prozesses besprochen und alle möglichen anderen Dinge - nur nicht das, was eigentlich passiert ist. Erzähl mir, was da schiefgegangen ist.«
»Ich kann dir die wahre Geschichte nicht erzählen, Lisbeth. Ich bin auf einen riesigen Fake reingefallen. Erika und ich waren uns einig, dass unsere Glaubwürdigkeit nur noch mehr leiden würde, wenn wir zu erzählen versuchten, was wirklich geschehen war.«
»Jetzt hör mir mal gut zu, Kalle Blomkvist, gestern Nachmittag hast du noch hier gesessen und hast eine Predigt gehalten über Freundschaft und Vertrauen und was weiß ich noch alles. Ich habe nicht vor, deine Story ins Netz zu stellen.«
Mikael protestierte noch ein paarmal. Er erinnerte sie daran, dass es mitten in der Nacht war, und behauptete, er könne jetzt nicht an diese Geschichte denken. Sie blieb stur, bis er nachgab. Er ging zur Toilette, wusch sich das Gesicht und setzte neuen Kaffee auf. Dann kam er zurück ins Bett und erzählte, wie sein alter Klassenkamerad Robert Lindberg vor zwei Jahren im Gästehafen von Arholma auf einer gelben Mälar-30 seine Neugier geweckt hatte.
»Du meinst, dein alter Kumpel hat dich angelogen?«
»Nein, überhaupt nicht. Ich konnte jedes seiner Worte im Revisionsbericht des SIB nachprüfen. Ich bin sogar nach Polen gefahren und habe die Blechbaracke fotografiert, in der die große Minos-Fabrik untergebracht gewesen war. Und ich habe mehrere Personen interviewt, die dort angestellt gewesen waren. Alle haben genau dasselbe gesagt.«
»Das kapier ich nicht.«
Mikael seufzte. Es dauerte einen Moment, bevor er weitersprach.
»Ich hatte eine verdammt gute Story. Ich hatte Wennerström selbst noch nicht damit konfrontiert, aber die Story war wasserdicht, und wenn ich sie damals veröffentlicht hätte, wäre er in ziemliche Schwierigkeiten geraten. Wahrscheinlich hätte es nicht zu einer Anklage wegen Betrugs gereicht - die Sache war ja durch die Revision schon abgenickt worden -, aber ich hätte seinem Ansehen geschadet.«
»Was ist schiefgegangen?«
»Irgendjemand hatte von meinen Recherchen erfahren und Wennerström offenbar gewarnt. Und auf einmal geschahen lauter seltsame Dinge. Zuerst erhielt ich Drohungen. Anonyme Telefonanrufe von Kartentelefonen, die man nicht zurückverfolgen konnte. Auch Erika wurde massiv bedroht. Sie war natürlich ziemlich verstört.«
Er nahm sich eine Zigarette von Lisbeth.
»Dann geschah etwas furchtbar Unangenehmes. Eines Nachts, als ich spät aus der Redaktion kam, wurde ich von zwei Männern überfallen, die mir ein paar Fausthiebe versetzten. Ich war völlig unvorbereitet, landete auf der Straße und holte mir eine geschwollene Lippe. Ich konnte sie nicht identifizieren, aber der eine sah aus wie ein alter Rocker.«
»Okay.«
»Dieser Vorfall hatte nur zur Folge, dass Erika stinkwütend wurde und ich noch sturer. Wir verschärften die Sicherheitsvorkehrungen bei Millennium. Aber irgendwie standen diese Schikanen in keinem Verhältnis zum Inhalt der Story. Wir konnten uns nicht erklären, was das alles sollte.«
»Aber die Story, die du veröffentlicht hast, war doch eine ganz andere.«
»Genau. Ganz plötzlich gelang uns ein Durchbruch. Wir fanden eine Quelle, einen Deep Throat aus Wennerströms Umfeld. Dieser Informant hatte buchstäblich Todesangst, und wir konnten ihn nur in anonymen Hotelzimmern treffen. Er erzählte uns, dass die Gelder von Minos für Waffengeschäfte im jugoslawischen Bürgerkrieg verwendet worden waren. Wennerström hatte Geschäfte mit der Ustascha gemacht. Und damit nicht genug, er konnte uns als Beweis Kopien von Dokumenten geben.«
»Ihr habt ihm geglaubt?«
»Er war geschickt. Dank seiner Informationen konnten wir eine weitere Quelle auftun, die unsere Story bestätigte. Wir bekamen sogar ein Foto, auf dem zu sehen war, wie einer von Wennerströms engsten Mitarbeitern dem Käufer die Hand schüttelte. Das war detaillierte Munition, und es sah so aus, als könnte man alles belegen. Wir gingen mit der Story an die Öffentlichkeit.«
»Und es war alles gefaked.«
»Es war gefaked von A bis Z«, bestätigte Mikael. »Die Dokumente waren geschickte Fälschungen. Wennerströms Anwalt konnte sogar beweisen, dass das Foto von Wennerströms Unterhändler und dem Ustascha-Führer eine Fälschung war - zwei verschiedene Bilder, die man in PhotoShop zusammenmontiert hatte.«
»Faszinierend«, sagte Lisbeth nüchtern und nickte versonnen.
»Ja, nicht? Im Nachhinein konnte man leicht erkennen, wie wir manipuliert worden waren. Unsere Originalstory hatte Wennerström aufgeschreckt, aber die wurde jetzt völlig von dieser Fälschungsgeschichte verdrängt - die übelste Falle, von der ich jemals gehört habe. Wir veröffentlichten eine Story, aus der Wennerström tatsächlich einen Punkt nach dem anderen herauspicken konnte, um dann jeweils seine Unschuld zu beweisen. Und es war so verflucht geschickt gemacht.«