Armanskij saß ganz still da und wagte kaum zu atmen.
»Es ist mir nicht entgangen, was Sie für mich getan haben«, sagte sie, »und ich bin nicht undankbar. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie sich über Ihre Vorurteile hinweggesetzt haben und mir hier eine Chance gegeben haben. Aber ich will Sie nicht als Liebhaber, und Sie sind auch nicht mein Vater.«
Sie verstummte. Nach einer Weile stieß Armanskij einen hilflosen Seufzer aus. »Was wollen Sie eigentlich von mir?«
»Ich will weiter für Sie arbeiten. Wenn das für Sie okay ist.«
Er nickte und antwortete ihr dann so ehrlich, wie er konnte: »Ich möchte furchtbar gerne, dass Sie für mich arbeiten. Aber ich möchte auch, dass Sie mir irgendwie Freundschaft und Vertrauen entgegenbringen.«
Sie nickte.
»Sie sind nicht gerade der Typ Mensch für freundschaftliche Annäherungen«, stieß er plötzlich hervor. Ihr Gesicht verfinsterte sich ein wenig, aber er fuhr unbeirrt fort: »Ich hab schon verstanden, Sie wollen nicht, dass sich jemand in Ihr Leben einmischt, und ich werde mir Mühe geben, das auch nicht zu tun. Aber ist es in Ordnung, wenn ich Sie trotzdem weiterhin gern habe?«
Salander hatte lange überlegt. Dann antwortete sie, indem sie aufstand, um den Tisch herumging und ihn umarmte. Er saß da wie gelähmt. Erst, als sie ihn wieder losließ, konnte er nach ihrer Hand greifen.
»Können wir Freunde sein?«, fragte er.
Sie nickte erneut.
Das war das einzige Mal gewesen, dass sie ein gewisses Maß an Gefühl gezeigt hatte. Ein Augenblick, an den sich Armanskij heute noch mit Wärme erinnerte.
Noch nach vier Jahren hatte sie Armanskij kaum etwas über ihr Privatleben oder ihren persönlichen Hintergrund verraten. Er hatte einmal seine eigenen P-Unt-Fähigkeiten bei ihr angewandt und ein langes Gespräch mit Holger Palmgren geführt, der gar nicht verwundert schien, ihn zu sehen. Was er schließlich in Erfahrung brachte, trug nicht dazu bei, sein Vertrauen in sie zu stärken. Er hatte ihr gegenüber natürlich nicht erwähnt, dass er in ihrem Privatleben herumgeschnüffelt hatte. Stattdessen versteckte er seine Besorgnis und erhöhte seine Wachsamkeit.
Noch bevor der denkwürdige Abend vorüber war, hatten Salander und Armanskij eine Übereinkunft getroffen. In Zukunft sollte sie als freie Mitarbeiterin Rechercheaufträge für ihn durchführen. Sie bekam ein bescheidenes Festgehalt, doch den wesentlichen Teil ihres Einkommens machte das aus, was sie Armanskij für seine Aufträge in Rechnung stellte. Sie konnte arbeiten, wie es ihr passte, und verpflichtete sich im Gegenzug, nichts zu tun, was ihn oder Milton Security jemals in Verlegenheit bringen könnte.
Für Armanskij war das eine praktische Lösung, die ihm, dem Unternehmen und Salander selbst gleichermaßen zugute kam. Er reduzierte die lästige PU-Abteilung auf einen einzigen fest angestellten Mitarbeiter, einen älteren Mann, der Routinearbeiten verrichtete und Kreditauskünfte einholte.
Alle heiklen Aufträge überließ er Salander und ein paar anderen freien Mitarbeitern, die - sollte es wirklich einmal Schwierigkeiten geben - praktisch selbstständige Unternehmer waren, für die Milton Security keine Verantwortung übernahm. Da er sie oft konsultierte, kam sie auf ein sehr anständiges Gehalt. Es hätte noch wesentlich höher ausfallen können, aber sie arbeitete nur, wenn sie Lust dazu hatte, und vertrat den Standpunkt, dass Armanskij sie ja jederzeit rauswerfen konnte, wenn ihm das nicht passte.
Armanskij akzeptierte sie, wie sie war, hielt sie aber von den Kunden fern.
Ausnahmen waren selten. Leider war das heutige Thema so eine Ausnahme.
Lisbeth Salander trug ein schwarzes T-Shirt, auf dem ein Bild von E. T. mit Fangzähnen und der Schriftzug I am also an alien zu sehen waren. Außerdem trug sie einen schwarzen Rock mit ausgefranstem Saum, eine kurze, schwarze, abgewetzte Lederjacke, einen Nietengürtel, klobige Doc-Marten’s-Stiefel und Kniestrümpfe mit rot-grünen Querstreifen. Sie hatte Make-up aufgelegt, dessen Farbskala die Vermutung nahelegte, sie sei farbenblind. Mit anderen Worten, sie hatte sich ungewöhnlich hübsch zurechtgemacht.
Armanskij ließ den Blick seufzend zu der dritten Person im Raum schweifen, dem konservativ gekleideten Besucher mit der dicken Brille. Der Rechtsanwalt Dirch Frode war achtundsechzig Jahre alt und hatte darauf bestanden, die Mitarbeiterin, die den Bericht erstellt hatte, persönlich zu treffen, um ihr Fragen stellen zu können. Armanskij hatte versucht, dieses Treffen mit allen möglichen Ausflüchten abzuwenden: Sie sei erkältet, auf Reisen oder bis über beide Ohren mit anderer Arbeit eingedeckt. Frode hatte leichthin geantwortet, das mache ihm nichts aus; die Angelegenheit sei ja nicht dringend, und er könne gut und gerne ein paar Tage warten. Armanskij hatte innerlich geflucht, aber zu guter Letzt keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als das Gespräch zu arrangieren. Somit saß Rechtsanwalt Frode nun hier und betrachtete Lisbeth Salander mit halb geschlossenen Augen und offensichtlicher Faszination. Salander hingegen schoss Blicke auf ihn ab, die verrieten, dass sie keine allzu warmen Gefühle hegte.
Armanskij seufzte nochmals und betrachtete die Mappe auf seinem Schreibtisch, die mit CARL MIKAEL BLOMKVIST und einem fein säuberlich notierten Personenkennzeichen beschriftet war. Er sprach den Namen laut aus. Rechtsanwalt Frode erwachte aus seiner Verzauberung und wandte seinen Blick Armanskij zu. »Also, das ist Fräulein Salander, die den Bericht verfasst hat.« Armanskij zögerte eine Sekunde und fuhr mit einem Lächeln, das vertraulich aussehen sollte, aber hilflos entschuldigend wirkte, fort: »Lassen Sie sich von ihrer Jugend nicht täuschen. Sie ist unbestritten unsere beste Ermittlerin.«
»Davon bin ich überzeugt«, entgegnete Frode mit dürrer Stimme, die seine Aussage Lügen strafte. »Erzählen Sie mir, was sie herausgefunden hat.«
Offensichtlich wusste Rechtsanwalt Frode nicht, wie er sich Lisbeth Salander gegenüber verhalten sollte, und blieb auf sicherem Terrain, indem er seine Frage an Armanskij richtete. Salander ergriff die Gelegenheit und machte eine große Blase mit ihrem Kaugummi. Bevor Armanskij etwas sagen konnte, wandte sie sich an ihren Chef, als wäre Frode gar nicht anwesend.
»Können Sie den Kunden fragen, ob er eine lange oder eine kurze Version hören möchte?«
Rechtsanwalt Frode begriff augenblicklich, dass er einen Fauxpas begangen hatte. Es folgte ein peinliches Schweigen, worauf er sich an Lisbeth Salander wandte und den Schaden wiedergutzumachen versuchte, indem er einen freundlich jovialen Ton anschlug.
»Ich würde mich freuen, wenn das Fräulein mir eine mündliche Zusammenfassung dessen geben könnte, was Sie herausgefunden haben.«
Salander sah aus wie ein tückisches nubisches Raubtier, das überlegte, ob es Dirch Frode zum Mittagessen verzehren sollte. Ihr Blick war so hasserfüllt, dass es Frode kalt den Rücken hinunterlief. Doch im nächsten Moment hatten sich ihre Gesichtszüge wieder entspannt. Frode fragte sich, ob er sich das Ganze nur eingebildet hatte. Als sie anfing zu sprechen, klang sie wie ein Staatsbediensteter.
»Lassen Sie mich vorausschicken, dass dieser Auftrag nicht sonderlich kompliziert war, wenn man von der vagen Auftragsbeschreibung absieht. Sie wollten ›alles wissen, was man über ihn in Erfahrung bringen kann‹, haben jedoch nicht angedeutet, ob Sie dabei etwas Bestimmtes im Sinn hatten. Deshalb ist quasi eine Unmenge von Fakten aus seinem gesamten Leben zusammengetragen worden. Der Bericht ist 193 Seiten lang, aber knapp 120 davon bestehen nur aus Kopien von Artikeln, die er verfasst hat, oder aus Presseausschnitten von Artikeln, in denen er selbst vorkam. Blomkvist ist eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens mit wenigen Geheimnissen, der nicht viel zu verbergen hat.«
»Demnach hat er aber doch das eine oder andere zu verbergen?«, erkundigte sich Frode.
»Jeder Mensch hat Geheimnisse«, antwortete sie neutral. »Man muss nur herausfinden, was für welche.«