Zum hundertsten Mal ging sie jedes Detail durch. Sie hatte keine Angst, etwas übersehen zu haben, aber sie war sich nicht ganz sicher, ob sie all die verschachtelten Zusammenhänge richtig verstand.
Wennerströms berühmtes Imperium war wie ein unförmiger, pulsierender lebendiger Organismus, der ständig seine Form änderte. Es bestand aus Optionen, Obligationen, Aktien, Firmenanteilen, Kreditzinsen, Ertragszinsen, Pfändern, Konten, Transaktionen und tausend anderen Elementen. Ein überwältigend großer Teil seines Vermögens steckte in Briefkastenfirmen, die sich gegenseitig besaßen.
In den fantastischsten Analysen der BWL-Streber wurde die Wennerstroem Group auf einen Wert von über 900 Milliarden Kronen taxiert. Das war ein Bluff, zumindest aber eine heftig übertriebene Zahl. Aber ein Habenichts war Wennerström auf keinen Fall. Lisbeth schätzte den echten Vermögenswert auf eine Höhe von 90 bis 100 Millionen Kronen, was ja auch nicht übel war. Eine seriöse Revision des gesamten Unternehmens würde Jahre in Anspruch nehmen. Insgesamt hatte Lisbeth an die 3000 verschiedene Konten auf der ganzen Welt identifiziert. Wennerström betrieb seine Betrügereien in einem solchen Ausmaß, dass man von organisierter Kriminalität im großen Stil sprechen musste.
Irgendwo in diesem Wennerströmschen Organismus gab es auch wirklich Substanz. Zwei Guthaben wurden ständig genannt. Die schwedischen Vermögenswerte waren authentisch, mit öffentlicher Prüfung, Jahresabschluss und Revision. Die amerikanische Firma war solide, ihre liquiden Mittel wurden von einer New Yorker Bank verwaltet. Dubios waren hingegen die Aktivitäten der Briefkastenfirmen an Orten wie Gibraltar, Zypern und Macao. Wennerström war wie ein Gemischtwarenladen - für illegalen Waffenhandel, Geldwäsche für suspekte Unternehmen in Kolumbien und äußerst unorthodoxe Geschäfte in Russland.
Ein anonymes Konto auf den Cayman Islands stach heraus: Es wurde von Wennerström persönlich kontrolliert, war aber in keines seiner Geschäfte direkt eingebunden. Ungefähr ein Zehntausendstel jedes Geschäftes, das Wennerström tätigte, floss mit schöner Regelmäßigkeit über diese Briefkastenfirma auf die Cayman Islands.
Salander arbeitete wie unter Hypnose. Konten - klick - Mails - klick - Bilanzen - klick. Sie bemerkte die letzten Geldtransaktionen. Sie verfolgte die Spur einer kleiner Transaktion von Japan nach Singapur und via Luxemburg weiter zu den Cayman Islands. Sie verstand, wie all das funktionierte. Sie war wie ein Teil der elektrischen Impulse im Cyberspace. Kleine Veränderungen. Die neueste Mail. Eine einzige magere Mail von peripherem Interesse, die er um zehn Uhr abends abgeschickt hatte. Das Verschlüsselungsprogramm PGP, ratter, ratter, ein Kinderspiel für jemand, der bereits in seinem Computer war und die Mitteilung decodiert lesen konnte:
[Berger hat aufgehört, um Anzeigenkunden zu kämpfen. Hat sie aufgegeben, oder brütet sie irgendetwas anderes aus? Ihr Informant in der Redaktion hatte ja versichert, dass das Magazin auf dem absteigenden Ast ist, aber es sieht so aus, als wäre gerade eine neue Mitarbeiterin eingestellt worden. Finden Sie raus, was da läuft. Blomkvist hat die letzten Wochen draußen in Sandhamn geschrieben wie ein Geisteskranker, aber keiner weiß, woran er schreibt. In den letzten Tagen ist er in der Redaktion aufgetaucht. Können Sie ein Vorabexemplar der nächsten Millennium-Nummer besorgen? HEW]
Nichts Dramatisches. Lass ihn nur grübeln. Dein Schicksal ist besiegelt, Alter.
Um halb sechs Uhr morgens schaltete sie den Computer aus und suchte nach einer unangebrochenen Schachtel Zigaretten. Sie hatte in der Nacht vier, nein, fünf Flaschen Coca-Cola getrunken, holte sich eine sechste und setzte sich aufs Sofa. Sie trug nur eine weiße Unterhose und ein verwaschenes Werbe-T-Shirt in Tarnfarben vom Soldier of Fortune Magazine mit der Aufschrift Kill them all and let God sort them out. Sie gab sich der politischen Analyse dieses Textes nicht weiter hin, bemerkte aber, dass sie fror, und wickelte sich in eine Wolldecke.
Sie war high, als hätte sie Drogen genommen. Sie konzentrierte ihren Blick auf eine Straßenlaterne vor ihrem Fenster und blieb ganz still sitzen, während ihr Gehirn auf Hochtouren lief. Mama - klick - meine Schwester - klick - Mimmi - klick - Holger Palmgren. Evil Fingers. Und Armanskij. Der Job. Harriet Vanger. Klick. Martin Vanger. Klick. Der Golfschläger. Klick. Rechtsanwalt Bjurman. Klick. Jedes verdammte Detail, das sie nicht vergessen konnte, egal, wie sehr sie sich bemühte.
Sie fragte sich, ob Bjurman sich wohl jemals wieder vor einer Frau ausziehen würde, und wenn ja, wie er das Tattoo auf seinem Bauch erklärte. Und wie er es vermeiden wollte, bei seinem nächsten Arztbesuch seine Kleidung abzulegen.
Und Mikael Blomkvist. Klick.
Sie hielt ihn für einen guten Menschen, auch wenn sein Streber-Komplex manchmal überhandnahm. Außerdem war er unerträglich naiv in gewissen grundlegenden Moralfragen. Er war eine nachsichtige Natur und suchte ständig Erklärungen und psychologische Rechtfertigungen für das Tun der Menschen, weil er nicht begriff, dass die Raubtiere dieser Welt nur eine Sprache verstanden. Sie empfand einen fast schon lästigen Beschützerinstinkt, wenn sie an ihn dachte.
Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie eingeschlafen war, wachte aber am nächsten Morgen um neun Uhr mit steifem Genick auf dem Sofa auf, den Kopf schräg nach hinten an die Wand gelehnt. Sie taumelte ins Schlafzimmer und schlief wieder ein.
Zweifellos war dies die wichtigste Reportage ihres Lebens. Erika war zum ersten Mal seit achtzehn Monaten wieder so glücklich, wie es nur eine Herausgeberin sein kann, die eine Riesenstory in petto hat. Als sie dem Artikel gemeinsam mit Mikael den letzten Schliff gab, rief Lisbeth ihn auf seinem Handy an.
»Ich habe vergessen zu sagen, dass Wennerström nach all deinem Geschreibe in der letzten Zeit unruhig geworden ist und ein Vorabexemplar eurer nächsten Nummer bestellt hat.«
»Woher weißt du … ach, vergiss es. Irgendwelche Infos, wie er das anstellen will?«
»Nein. Aber es gäbe da einen guten Tipp, wenn man mal logisch nachdenkt.«
Mikael überlegte kurz. »Die Druckerei«, platzte er heraus.
Erika hob die Augenbrauen.
»Wenn ihr in der Redaktion wirklich alle dichthaltet, dann gibt es nicht mehr viel andere Möglichkeiten. Solange nicht einer seiner Handlanger vorhat, Millennium einen nächtlichen Besuch abzustatten.«
Mikael wandte sich an Erika: »Buch eine neue Druckerei für diese Nummer. Sofort. Und ruf Armanskij an - ich will hier während der nächsten Woche Nachtwachen haben.« Wieder an Lisbeth gewandt: »Danke, Sally.«
»Was war dir das wert?«
»Wie meinst du das?«
»Was war dieser Tipp wert?«
»Was willst du haben?«
»Das will ich bei einem Kaffee mit dir besprechen. Sofort.«
Sie trafen sich in der Kaffeebar an der Hornsgata. Als Mikael sich neben ihr auf einen Hocker setzte, wirkte Lisbeth so ernst, dass er einen beunruhigten Stich verspürte. Sie kam wie immer ohne Umschweife zur Sache.
»Ich muss mir Geld leihen.«
Mikael lächelte sein einfältigstes Lächeln und tastete nach seiner Brieftasche.
»Okay. Wie viel?«
»120 000 Kronen.«
»Hoppla.« Er steckte seine Brieftasche wieder ein. »So viel Geld habe ich nicht dabei.«
»Ich mache keine Witze. Ich muss mir 120 000 Kronen leihen, für - sagen wir mal - sechs Wochen. Ich habe da so eine Möglichkeit, Geld zu investieren, aber ich kenne niemand, an den ich mich wenden könnte. Du hast im Moment ungefähr 140 000 auf deinem Konto. Du bekommst das Geld natürlich zurück.«
Mikael verkniff sich die Frage, woher sie seinen Kontostand kannte. Er nutzte das Internetbanking, da lag die Antwort auf der Hand.