Danach saß sie wie gelähmt auf dem Sofa und grübelte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Sehnsucht verspürt. Sie wollte, dass Mikael an ihrer Tür klingelte und … was? Sie in den Arm nahm, leidenschaftlich ins Schlafzimmer zerrte und ihr die Kleider vom Leib riss? Nein, eigentlich wollte sie bloß mit ihm zusammen sein. Sie wollte hören, wie er sagte, dass er sie so mochte, wie sie war. Sie wollte hören, wie er sagte, dass sie in seiner Welt und in seinem Leben etwas ganz Besonderes war. Sie wollte, dass er ihr eine Geste der Liebe zuteil werden ließ, nicht nur der Freundschaft und Kameradschaft. Jetzt dreh ich wohl langsam durch.
Sie zweifelte an sich selbst. Mikael Blomkvist lebte in einer anderen Welt, voller Menschen mit respektablen Berufen und einem wohlgeordneten Dasein. Seine Bekannten machten tolle Sachen, waren im Fernsehen zu sehen und sorgten für Schlagzeilen. Wofür solltest du mich brauchen? Lisbeths größte Angst - so groß und so schwarz, dass sie schon fast die Ausmaße einer Phobie annahm - war, dass die Leute sie für ihre Gefühle auslachen könnten. Und während sie ihre Wohnung putzte, schien plötzlich nach und nach all ihr mühsam aufgebautes Selbstwertgefühl wieder einzustürzen.
Da fasste sie einen Entschluss. Sie brauchte zwar ein paar Stunden, um den erforderlichen Mut aufzubringen, aber sie musste ihn unbedingt treffen und ihm erzählen, wie sie sich fühlte.
Alles andere wäre unerträglich.
Sie benötigte freilich einen Vorwand, um an seine Tür zu klopfen. Sie hatte ihm kein Weihnachtsgeschenk gegeben, wusste aber, was sie ihm kaufen wollte. In einem Trödelladen hatte sie ein paar alte Reklameschilder aus Blech aus den fünfziger Jahren gefunden, auf denen die Figuren in Halbreliefs hervortraten. Eines der Schilder stellte Elvis Presley dar, die Gitarre auf der Hüfte und daneben eine Sprechblase mit dem Text Heartbreak Hotel. Zwar hatte Lisbeth nicht das geringste Gespür für Inneneinrichtung, aber sogar ihr war klar, dass dieses Schild perfekt in die Hütte in Sandhamn passen würde. Es kostete 780 Kronen, und rein aus Prinzip handelte sie den Preis auf 700 herunter. Sie ließ es sich einpacken, nahm es unter den Arm und spazierte damit zu seiner Wohnung in der Bellmansgata.
Auf der Hornsgata warf sie zufällig einen Blick in die Kaffeebar und sah plötzlich Mikael mit Erika im Schlepptau herauskommen. Er sagte etwas, woraufhin Erika lachte, ihm die Arme um die Taille legte und ihm einen Kuss auf die Wange gab. Sie verschwanden über die Brännkyrkagata in Richtung Bellmansgata. Ihre Körpersprache ließ keinen Zweifel daran, was sie im Sinn hatten.
Der Schmerz war so jäh und brutal, dass Lisbeth innehielt - unfähig, auch nur einen einzigen weiteren Schritt zu tun. Ein Teil von ihr wollte ihnen hinterherlaufen. Am liebsten hätte sie das Blechschild genommen, um mit der scharfen Kante Erikas Kopf zu spalten. Sie unternahm gar nichts, während die Gedanken durch ihren Kopf rasten. Konsequenzanalyse. Schließlich beruhigte sie sich wieder.
Salander, du bist so ein peinliches Rindvieh, sagte sie laut zu sich selbst.
Sie drehte sich auf dem Absatz um und ging nach Hause in ihre frisch geputzte Wohnung. Als sie am Zinkensdamm vorbeikam, begann es zu schneien. Den Elvis Presley warf sie in einen Müllcontainer.
STIEG LARSSON
Verdammnis
Roman
Ein ehrgeiziger junger Journalist bietet Mikael Blomkvist für sein Magazin Millennium eine Story an, die skandalöser nicht sein könnte. Amts- und Würdenträger der schwedischen Gesellschaft vergehen sich an jungen russischen Frauen, die gewaltsam zur Prostitution gezwungen werden. Als sich Lisbeth Salander in die Recherchen einschaltet, stößt sie auf ein pikantes Detaiclass="underline" Nils Bjurman, ihr ehemaliger Betreuer, scheint in den Mädchenhandel involviert zu sein. Wenig später werden der Journalist und Bjurman tot aufgefunden. Die Tatwaffe trägt Lisbeths Fingerabdrücke. Sie wird an den Pranger gestellt und flüchtet. Nur Mikael Blomkvist glaubt an ihre Unschuld und beginnt, auf eigene Faust zu ermitteln. Seine Nachforschungen führen in Lisbeth Salanders Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die ihn bald das Fürchten lehrt.
»Wenn ein Autor ein so komplexes und faszinierendes Porträt abliefert wie das von Lisbeth Salander, können wir nur schweigend und dankbar den Hut ziehen. Besser geht es kaum noch.«
Gefle Dagblad
»Der zweite Band ist noch einen Tick besser. Nicht mal der eifrigste Fehlersucher findet hier etwas Störendes. Stieg Larsson ist der bedeutendste Krimiautor unserer Zeit«.
Kristianstadsbladet
Der neue große Roman des preisgekrönten Bestsellerautors Stieg Larsson!
Prolog
Er hatte sie mit Lederriemen auf einer schmalen, stählernen Pritsche gefesselt. Ein straff gespannter Riemen verlief über ihren Brustkorb. Sie lag auf dem Rücken. Die Hände hatte er zu beiden Seiten auf Hüfthöhe an das Stahlgestell gebunden.
Den Versuch, sich loszumachen, hatte sie schon lange aufgegeben. Obwohl sie wach war, hielt sie die Augen geschlossen, denn um sie herum war es dunkel. Nur ein schmaler Streifen Licht drang durch den Spalt über der Tür. Sie hatte einen widerlichen Geschmack im Mund und sehnte sich danach, sich die Zähne putzen zu dürfen.
Unbewusst horchte sie immer mit einem Ohr nach dem Geräusch von Schritten, mit dem er sich ankündigte. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es schon war; es kam ihr allerdings so vor, als ob es langsam schon zu spät für seinen Besuch wäre. Als ihre Liege plötzlich leicht vibrierte, öffnete sie die Augen. Es war, als hätte man irgendwo im Haus eine Maschine angeworfen. Doch nach ein paar Sekunden war sie schon nicht mehr sicher, ob sie sich das Ganze einbildete oder ob das Geräusch tatsächlich existierte.
Im Geiste hakte sie einen weiteren Tag ab.
Heute war der dreiundvierzigste Tag ihrer Gefangenschaft.
Ihre Nase juckte, und sie drehte den Kopf zur Seite, um sich am Kissen reiben zu können. Sie schwitzte. Im Zimmer herrschte schwüle Wärme. Sie trug ein schlichtes Nachthemd, das unter ihrem Körper Falten schlug. Wenn sie die Hüften hob, konnte sie mit Zeigefinger und Mittelfinger gerade eben den Stoff zu fassen bekommen und das Hemd einen Zentimeter hinunterziehen. Dann wiederholte sie die Prozedur mit der anderen Hand. Trotzdem blieb im Kreuz eine hartnäckige Falte.
Ihre Matratze war durchgelegen und unbequem. Durch die völlige Isolation steigerte sich jeder geringfügige Reiz, den sie sonst kaum wahrgenommen hätte, um ein Vielfaches. Immerhin waren ihre Lederfesseln so locker, dass sie ab und zu ihre Stellung ändern und sich auf die Seite drehen konnte, aber das war auf die Dauer auch nicht sonderlich bequem, denn dann blieb eine Hand hinter ihrem Rücken, und der Arm schlief ihr ständig ein.
Trotz ihrer allgegenwärtigen Angst spürte sie, wie sich von Tag zu Tag mehr Wut in ihr aufstaute.
Gleichzeitig wurde sie von ihren Gedanken gequält, von unschönen Fantasien, was mit ihr geschehen würde. Sie hasste die Hilflosigkeit, in die er sie gezwungen hatte. So sehr sie auch versuchte, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, um sich die Zeit zu vertreiben und ihre Situation zu verdrängen, so hing die Angst doch über ihr wie eine Gaswolke und drohte jeden Moment durch ihre Poren zu dringen und ihr Dasein völlig zu vergiften. Mittlerweile hatte sie jedoch eine Methode entdeckt, mit der sie ihre Angst in Schach halten konnte: Sie fantasierte sich ein Szenario zusammen, das ihr ein Gefühl von Kraft einflößte. Sie schloss die Augen und beschwor den Geruch von Benzin herauf.