»Ich kann nicht behaupten, dass ich wüsste, welche Anforderungen ein Journalist genau erfüllen muss, aber nach diesem Schlag dürfte es wohl ein bisschen dauern, bis der Meisterdetektiv Blomkvist den Großen Journalistenpreis verliehen bekommt. Er hat sich ganz schön ins Aus katapultiert«, stellte Salander nüchtern fest. »Wenn ich eine persönliche Überlegung anfügen darf …«
Armanskij riss die Augen auf. In all den Jahren, in denen Lisbeth Salander für ihn tätig war, hatte sie noch nie eine persönliche Überlegung zu einem Zielobjekt verlauten lassen. Für sie galten nur die staubtrockenen Fakten.
»Es gehörte nicht zu meinem Auftrag, die Wennerström-Affäre sachlich zu durchleuchten, aber ich habe den Prozess verfolgt und muss zugeben, ich war völlig verblüfft. Das Ganze sieht so falsch aus, und es ist so völlig … out of character für einen Mikael Blomkvist, etwas zu veröffentlichen, das dann geradewegs in die Binsen geht.«
Salander kratzte sich am Hals. Frode wartete geduldig. Armanskij fragte sich, ob er sich täuschte oder ob Salander wirklich unschlüssig war, wie sie weitermachen sollte. Die Salander, die er kannte, war nie unschlüssig oder unsicher. Zu guter Letzt schien sie sich entschieden zu haben.
»Mal ganz inoffiziell gesprochen … Ich hab mich nicht gründlich mit der Wennerström-Affäre befasst, aber ich glaube tatsächlich, dass man Kalle Blomkvist … Entschuldigung, Mikael Blomkvist, geleimt hat. Ich glaube, hinter der Story steckt etwas ganz anderes, als das Urteil ahnen lässt.«
Jetzt war es an Dirch Frode, sich in seinem Stuhl aufzurichten. Der Rechtsanwalt musterte Salander mit forschendem Blick, und Armanskij bemerkte, dass ihr Auftraggeber zum ersten Mal, seit sie ihren Bericht begonnen hatte, mehr als nur höfliches Interesse an den Tag legte. Er registrierte auch, dass die Wennerström-Affäre für Frode offensichtlich von gewissem Interesse war. Stimmt nicht, dachte Armanskij im nächsten Moment, Frode interessierte sich nicht für die Wennerström-Affäre - er hat erst reagiert, als Salander andeutete, dass Blomkvist hinters Licht geführt worden ist.
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Frode interessiert.
»Das ist nur eine Spekulation meinerseits, aber ich bin ziemlich sicher, dass ihn jemand reingelegt hat.«
»Und wie kommen Sie darauf?«
»Alles weist darauf hin, dass er stets ein sehr umsichtiger Reporter war. Alle anderen heiklen Enthüllungsstorys, die er davor gebracht hat, waren immer aufs Beste dokumentiert. Ich war an einem der Verhandlungstage dabei und habe zugehört. Er brachte überhaupt keine Gegenargumente und schien sich kampflos zu ergeben. Nur, das passt so gar nicht zu seinem Charakter. Wenn wir dem Gericht Glauben schenken wollen, dann hat er eine Geschichte über Wennerström zusammenfantasiert, ohne die geringste Spur eines Beweises zu haben, und hat sie dann quasi als journalistisches Selbstmordattentat veröffentlicht - das ist einfach nicht Blomkvists Stil.«
»Was ist also Ihrer Meinung nach passiert?«
»Ich kann nur eine Vermutung anstellen. Blomkvist glaubte an seine Story, aber dann ist irgendetwas passiert, und seine Information stellte sich als falsch heraus. Das bedeutet wiederum, dass seine Quelle entweder jemand war, dem er blind vertraute, oder dass ihn jemand vorsätzlich mit falschen Informationen versorgte - was wenig wahrscheinlich ist. Die Alternative wäre die, dass man ihn so ernsthaft bedroht hat, dass er das Handtuch warf und sich lieber als unfähigen Idioten hinstellen ließ, als den Kampf aufzunehmen. Aber wie gesagt, ich spekuliere nur.«
Als Salander ansetzte, mit ihrem Bericht fortzufahren, hob Dirch Frode die Hand. Er schwieg eine Weile und trommelte mit den Fingern nachdenklich auf die Lehne, bevor er wieder das Wort an sie richtete.
»Wenn wir Sie damit beauftragen würden, in der Wennerström-Affäre zu recherchieren … wie groß wären die Chancen, dass Sie etwas herausfinden?«
»Das kann ich nicht beantworten. Vielleicht gibt es gar nichts herauszufinden.«
»Aber Sie würden sich bereit erklären, es zu versuchen?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Darüber habe nicht ich zu bestimmen. Ich arbeite für Dragan Armanskij; er entscheidet, welche Aufträge er mir zuteilen will. Und dann kommt es noch darauf an, welche Art Information Sie haben wollen.«
»Lassen Sie es mich so formulieren … Ich kann doch davon ausgehen, dass dieses Gespräch vertraulich behandelt wird?«
Armanskij nickte. »Ich weiß nichts über diese Affäre, aber ich weiß ohne jeden Zweifel, dass Wennerström bei anderen Gelegenheiten unehrlich gewesen ist. Die Wennerström-Affäre hat Mikael Blomkvists Leben in höchstem Maße beeinflusst, und ich will wissen, ob etwas an Ihren Spekulationen dran ist.«
Das Gespräch hatte eine unerwartete Wendung genommen, und Armanskij war sofort hellwach. Frodes Anliegen bedeutete, dass Milton Security weitere Untersuchungen in einer bereits ad acta gelegten Strafsache anstellen sollte, während deren Verhandlung Mikael Blomkvist möglicherweise rechtswidrig bedroht worden war. Mit so etwas lief Milton potenziell Gefahr, mit Wennerströms Rechtsanwaltsimperium aneinanderzugeraten. Die Vorstellung, Salander in so einer Angelegenheit wie ein unkontrollierbares Cruisemissile loszulassen, fand Armanskij nicht unbedingt amüsant.
Das hatte nicht nur mit seiner Sorge um die Firma zu tun. Salander hatte hinreichend deutlich gemacht, dass ihr Armanskij in der Rolle des beunruhigten Stiefpapas überhaupt nicht zusagte, und nachdem sie darüber einig gewesen waren, hatte er sorgfältig darauf geachtet, nicht als solcher aufzutreten. Innerlich konnte er allerdings nie aufhören, sich um sie zu sorgen. Manchmal ertappte er sich dabei, wie er Salander mit seinen eigenen Töchtern verglich. Er hielt sich für einen guten Vater, der sich nicht übertrieben ins Privatleben seiner Töchter einmischte, aber ihm war auch klar, dass er es niemals akzeptieren würde, wenn sie sich wie Lisbeth Salander benehmen oder ihre Art Leben führen würden.
In den Tiefen seines serbischen - vielleicht auch bosnischen oder armenischen - Herzens war er die Überzeugung nie losgeworden, dass Salanders Leben in voller Fahrt auf eine Katastrophe zusteuerte. Seiner Meinung nach bot sie sich als geradezu perfektes Opfer für jemanden an, der ihr übel wollte, und ihm graute vor dem Morgen, an dem er mit der Neuigkeit geweckt werden würde, dass ihr jemand Schaden zugefügt hatte.
»Eine solche Untersuchung kann ziemlich teuer werden«, unternahm Armanskij einen vorsichtigen Abschreckungsversuch, um zu sondieren, wie ernst es Frode mit seiner Anfrage war.
»Wir müssen freilich eine Obergrenze festlegen«, erwiderte Frode nüchtern. »Ich verlange nichts Unmögliches von Ihnen, aber es ist ganz offensichtlich, wie Sie mir ja selbst versicherten, dass Ihre Mitarbeiterin äußerst kompetent ist.«
»Salander?«, fragte Armanskij mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ich habe gerade nichts anderes laufen«, sagte sie.
»Okay. Aber ich hätte gerne, dass wir uns über die Bedingungen dieses Auftrages einig sind. Lassen Sie uns noch den Rest Ihres Berichtes hören.«
»Nur noch ein paar Details aus seinem Privatleben. 1988 heiratete er eine Frau namens Monica Abrahamsson, und im selben Jahr bekamen sie eine Tochter, Pernilla. Sie ist heute sechzehn. Die Ehe hielt nicht lange, die beiden wurden 1991 geschieden. Frau Abrahamsson hat wieder geheiratet, aber die zwei sind offensichtlich immer noch befreundet. Die Tochter wohnt bei ihrer Mutter und trifft ihren Vater nicht sonderlich oft.«
Frode bat um einen weiteren Kaffee aus der Thermoskanne und wandte sich dann wieder an Salander.
»Zu Beginn haben Sie angedeutet, dass jeder Mensch Geheimnisse hat. Haben Sie welche gefunden?«
»Damit wollte ich sagen, dass jeder Mensch gewisse Dinge hat, die er als privat betrachtet und die er nicht unbedingt öffentlich macht. Blomkvist ist ein Frauentyp. Er hat mehrere Affären und jede Menge Zufallsbekanntschaften gehabt. Um es kurz zu machen - er hat ein buntes Sexleben. Eine Person taucht jedoch seit vielen Jahren immer wieder in seinem Leben auf, und das ist ein ziemlich ungewöhnliches Verhältnis.«