Erika umarmte Mikael und zog seinen Kopf an ihre Brust. Sie drückte ihn fest an sich. Schweigend und unglücklich blieben sie ein paar Minuten so sitzen.
»Soll ich heute Abend bei dir bleiben?«, fragte sie.
Mikael Blomkvist nickte.
»Gut. Ich habe Greger schon angerufen und ihm Bescheid gesagt, dass ich heute Nacht bei dir schlafe.«
Die einzige Lichtquelle im Zimmer war die Straßenlaterne, die vom Fenstersturz reflektiert wurde. Als Erika irgendwann nach zwei Uhr morgens einschlief, lag Mikael wach und betrachtete im Halbdunkel ihr Profil. Sie war nur bis zur Taille zugedeckt, und er sah zu, wie sich ihre Brust langsam hob und senkte. Er war entspannt, und der angsterfüllte Knoten in seinem Zwerchfell hatte sich gelöst. Erika hatte diese Wirkung auf ihn. Sie hatte sie schon immer gehabt. Und er wusste, dass er dieselbe Wirkung auf sie hatte.
Zwanzig Jahre, dachte er. So lange hatten Erika und er schon ein Verhältnis. Wenn es nach ihm ging, konnten sie auch die nächsten zwanzig Jahre noch miteinander Sex haben. Mindestens. Sie hatten nie ernsthaft versucht, ihr Verhältnis zu verbergen, wenngleich sich dadurch ungeheuer heikle Situationen in ihren Beziehungen zu anderen Menschen ergeben hatten. Er wusste, dass man in ihrem Bekanntenkreis über sie sprach, und dass die Leute sich fragten, was für eine Art Verhältnis die beiden eigentlich verband. Erika und er gaben rätselhafte Antworten und ignorierten die Kommentare.
Sie hatten sich auf einem Fest bei gemeinsamen Freunden kennengelernt. Sie studierten beide im zweiten Jahr Journalistik und lebten jeweils in einer festen Beziehung. Im Laufe des Abends hatten sie sich gegenseitig mehr provoziert, als gut für sie war. Ihr Flirt hatte vielleicht als Scherz begonnen - er war sich da nicht ganz sicher -, doch bevor sie auseinandergingen, tauschten sie Telefonnummern. Sie wussten, dass sie miteinander im Bett landen würden, und innerhalb einer Woche hatten sie dieses Vorhaben in die Tat umgesetzt, hinter dem Rücken ihrer jeweiligen Partner.
Mikael war sich sicher, dass es hierbei nicht um Liebe ging - zumindest nicht um Liebe im traditionellen Sinne, die in eine gemeinsame Wohnung, gemeinsame Ratenzahlungen, Weihnachtsbäume und Kinder mündet. In den achtziger Jahren hatten sie ein paarmal überlegt zusammenzuziehen, als sie gerade keine Beziehungen hatten, auf die sie hätten Rücksicht nehmen müssen. Er wollte. Aber Erika hatte immer im letzten Moment einen Rückzieher gemacht. Sie sagte, es würde nicht funktionieren, und sie sollten ihre Beziehung nicht aufs Spiel setzen, indem sie sich jetzt auch noch verliebten.
Sie waren sich einig, dass es bei ihrer Beziehung um Sex ging - vielleicht sogar um sexuellen Irrsinn -, und Mikael hatte sich oft gefragt, ob er für eine andere Frau je so eine wahnsinnige Begierde empfinden könne wie für Erika. Sie funktionierten einfach perfekt miteinander. Sie hatten ein Verhältnis, das nicht weniger abhängig machte als Heroin.
In gewissen Phasen trafen sie sich so häufig, dass sie sich fast wie ein Paar fühlten; manchmal konnten Wochen und Monate zwischen ihren Treffen verstreichen. Doch so wie der Alkoholiker nach einer abstinenten Phase stets wieder loszieht und sich neuen Schnaps besorgt, kehrten auch die beiden immer wieder zueinander zurück, um sich eine neue Dosis zu holen.
Das konnte freilich nicht auf Dauer funktionieren. Ein derartiges Verhältnis musste früher oder später Schmerzen verursachen. Erika und er hatten gebrochene Versprechen und Beziehungen rücksichtslos hinter sich gelassen - seine eigene Ehe war daran gescheitert, dass er sich nicht von Erika fernhalten konnte. Er hatte seine Frau Monica in Sachen Erika nie belogen, doch Monica hatte geglaubt, die Affäre würde mit ihrer Heirat und der Geburt ihrer Tochter ein Ende nehmen, zumal Erika beinahe gleichzeitig die Ehe mit Greger Beckman einging. Er glaubte das auch und hatte Erika in den ersten Jahren seiner Ehe nur rein beruflich getroffen. Dann hatten sie Millennium gegründet, und innerhalb von ein paar Wochen waren alle Vorsätze den Bach runtergegangen, und eines Abends hatten sie heftigen Sex auf ihrem Schreibtisch gehabt. Das war der Beginn einer quälenden Zeit gewesen, in der Mikael einerseits bei seiner Familie sein und seine Tochter aufwachsen sehen wollte, sich andererseits aber mit solcher Kraft zu Erika hingezogen fühlte, dass er seine Handlungen nicht mehr kontrollieren konnte. Wie Lisbeth ganz richtig vermutete, hatte seine ständige Untreue dazu geführt, dass Monica ihn verließ.
Seltsamerweise schien Greger Beckman ihr Verhältnis völlig zu akzeptieren. Erika hatte ihr Verhältnis mit Mikael nie verheimlicht und es ihrem Mann auch sofort erzählt, als sie die Affäre wieder aufnahmen. Vielleicht lag es an seiner Künstlerseele, die derart mit ihren Schaffensprozessen (oder auch nur mit sich selbst) beschäftigt war, dass er so gar nicht darauf reagierte, als Erika mit einem anderen Mann schlief. Er teilte sogar die Ferien so auf, dass sie ab und an eine Woche mit ihrem Liebhaber in dessen Sommerhäuschen in Sandhamn verbringen konnte. Mikael mochte Greger nicht besonders und hatte nie begreifen können, warum Erika ihn liebte. Aber er war froh, dass Greger es hinnahm, dass sie zwei Männer gleichzeitig liebte.
Außerdem hatte er Greger im Verdacht, dass er die Untreue seiner Frau als Würze ihrer Ehe betrachtete. Doch darüber hatten sie nie gesprochen.
Mikael fand keinen Schlaf, und gegen vier gab er auf und setzte sich in die Küche, um das Urteil noch einmal von Anfang bis Ende durchzulesen. Mit diesem Resultat in der Hand konnte er spüren, dass die Begegnung in Arholma fast schon schicksalhaft gewesen war. Er wurde sich jedoch einfach nicht klar darüber, ob Robert Lindberg Wennerströms Betrug enthüllt hatte, weil er ihm auf seinem Boot eine gute Geschichte erzählen wollte, oder ob er wirklich gewollt hatte, dass alles an die Öffentlichkeit kam.
Spontan tendierte Mikael zur ersten Alternative, aber es war genauso gut möglich, dass Robert aus höchst privaten oder geschäftlichen Gründen Wennerström schaden wollte und einfach die Gelegenheit beim Schopf ergriff, als er einen harmlosen Journalisten an Bord hatte. Robert war nicht gerade nüchtern gewesen, als er im entscheidenden Augenblick seiner Geschichte Mikael fixiert hatte und ihm die magischen Worte entlockte, die ihn von einer Klatschtante in eine anonyme Quelle verwandelten. Auf diese Art spielte es für Robert keine Rolle, was er erzählte, denn Mikael würde ihn nie als Urheber dieser Aussagen nennen können.
Über eines war sich Mikael jedoch vollkommen im Klaren: Wenn das Treffen in Arholma wirklich von einem Verschwörer inszeniert worden wäre, mit der Absicht, seine Aufmerksamkeit zu erregen, hätte Robert seine Sache kaum besser machen können. Aber das Treffen in Arholma war reiner Zufall gewesen.
Robert wusste gar nicht, wie groß Mikaels Verachtung für Männer wie Hans-Erik Wennerström war. Nach langjährigen Studien auf diesem Gebiet war Mikael überzeugt davon, dass es keinen einzigen Bankdirektor oder bekannten Geschäftsführer gab, der nicht gleichzeitig ein Schweinehund war.
Mikael hatte noch nie von Lisbeth Salander gehört und wusste nichts von dem Bericht, den sie vor einigen Stunden abgeliefert hatte. Doch hätte er ihr zugestimmt, dass seine ausgesprochene Abscheu gegen allzu gewitzt rechnende Betriebswirtschaftler kein Zeichen für politischen Linksradikalismus war. Mikael war nicht uninteressiert an Politik, aber er betrachtete politische Ismen mit größtem Misstrauen. Bei der einzigen Reichstagswahl, bei der er jemals seine Stimme abgegeben hatte - 1982 -, hatte er die Sozialdemokraten gewählt, wenn auch weniger aus Überzeugung als ganz einfach deswegen, weil in seinen Augen nichts schlimmer sein konnte als weitere drei Jahre mit Gösta Bohman als Finanzminister und Thorbjörn Fälldin oder am Ende gar Ola Ullsten als Ministerpräsident. Also hatte er ohne allzu großen Enthusiasmus für Olof Palme gestimmt, um später die Ermordung des Ministerpräsidenten sowie Bofors und Ebbe Carlsson erleben zu müssen.