»Ich habe keinen Plan B, aber ich glaube, wir begehen hier einen Fehler.«
»Es ist die einzige Lösung«, erwiderte Mikael. »Wenn das Magazin zugrunde geht, war die ganze Mühe umsonst. Du weißt, dass wir bereits viele Einbußen hatten. Was ist übrigens mit dieser Computerfirma geworden?«
Sie seufzte. »Tja, sie haben heute Morgen mitgeteilt, dass sie nicht in der Januarnummer inserieren wollen.«
»Wennerström hat bei denen einen beträchtlichen Aktienanteil. Das kann doch kein Zufall sein.«
»Nein, aber wir können neue Anzeigenkunden an Land ziehen. Wennerström mag ja ein Finanzmogul sein, aber ihm gehört nicht die ganze Welt, und wir haben unsere eigenen Kontakte.«
Mikael umarmte Erika und drückte sie an sich.
»Eines Tages werden wir Hans-Erik Wennerström dermaßen eins überziehen, dass die Wall Street bebt. Aber nicht heute. Millennium muss erst mal aus der Schusslinie. Wir dürfen nicht riskieren, dass das Vertrauen in unsere Zeitung völlig kaputtgemacht wird.«
»Ich weiß das alles, aber ich sehe aus wie ein verdammtes Luder, und du gerätst in eine abscheuliche Lage, wenn wir so tun, als wären wir geschiedene Leute.«
»Ricky, solange wir uns aufeinander verlassen können, haben wir auch eine Chance. Wir müssen unserer Intuition vertrauen, und momentan ist einfach Rückzug angesagt.«
Widerwillig hatte sie zugegeben, dass seine Schlussfolgerungen einer bedrückenden Logik folgten.
4. Kapitel
Montag, 23. Dezember - Donnerstag, 26. Dezember
Erika war übers Wochenende bei Mikael Blomkvist geblieben. Im Großen und Ganzen hatten sie das Bett nur für Toilettenbesuche und zum Essenkochen verlassen. Doch hatten sie sich nicht nur geliebt, sondern auch stundenlang Kopf an Fuß im Bett gelegen und über ihre Zukunft diskutiert, Konsequenzen, Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten gegeneinander abgewägt. Als der Montagmorgen graute, war es ein Tag vor Heiligabend. Erika hatte ihm einen Abschiedskuss gegeben - until the next time - und war nach Hause zu ihrem Mann gefahren.
Mikael verbrachte den Montag damit, erst einmal abzuwaschen und die Wohnung sauber zu machen. Danach ging er in die Redaktion, um sein Büro auszuräumen. Er hatte keinen Augenblick ernsthaft vor, mit der Zeitschrift zu brechen, aber er hatte Erika zu guter Letzt davon überzeugt, dass es in absehbarer Zukunft wichtig war, den Namen Mikael Blomkvist von dem des Magazins deutlich abzugrenzen. Bis auf Weiteres wollte er von seiner Wohnung in der Bellmangata aus arbeiten.
Er war allein in der Redaktion, denn über Weihnachten hatten alle Mitarbeiter frei. Er verstaute gerade Papiere und Bücher in einem Umzugskarton, als plötzlich das Telefon klingelte.
»Ich würde gerne Mikael Blomkvist sprechen«, sagte eine hoffnungsvolle, aber unbekannte Stimme am anderen Ende.
»Am Apparat.«
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie so einfach einen Tag vor Weihnachten störe. Mein Name ist Dirch Frode.« Mikael notierte sich automatisch Namen und Uhrzeit. »Ich bin Anwalt und vertrete einen Mandanten, der sich sehr gerne mit Ihnen unterhalten würde.«
»Na ja, dann bitten Sie Ihren Mandanten doch einfach, mich anzurufen.«
»Ich wollte damit sagen, dass er Sie persönlich treffen möchte.«
»In Ordnung, lassen Sie sich einen Termin geben und schicken Sie ihn in die Redaktion. Aber Sie müssen sich beeilen, ich räume gerade meinen Schreibtisch aus.«
»Mein Mandant hätte furchtbar gerne, dass Sie ihn besuchen. Er wohnt in Hedestad, das wären nur drei Stunden mit dem Zug.«
Mikael hielt im Papiersortieren inne. Die Massenmedien haben ein Talent dafür, die gestörtesten Menschen anzuziehen, die dann mit den verrücktesten Tipps anrufen. Jede Zeitungsredaktion auf der Welt bekommt Anrufe von Ufologen, Grafologen, Scientologen, Paranoikern und Verschwörungstheoretikern.
Mikael hatte einmal einen Vortrag angehört, den der Schriftsteller Karl Alvar Nilsson anlässlich des Jahrestages des Mordes an Ministerpräsident Olof Palme hielt. Der Vortrag war völlig seriös, und im Publikum saßen Lennart Bodström und andere alte Freunde von Palme. Aber es hatte sich auch eine verblüffend große Zahl Privatdetektive eingefunden. Einer von ihnen, eine ungefähr vierzigjährige Frau, hatte während der obligatorischen Fragerunde das Mikrofon ergriffen und ihre Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern gesenkt. Schon dieses Benehmen sicherte ihr die allgemeine Aufmerksamkeit, und niemand war sonderlich überrascht, als die Frau ihren Beitrag mit der Behauptung begann: »Ich weiß, wer Olof Palme ermordet hat.« Aus dem Publikum kam, leicht ironisch, der Vorschlag, wenn sie denn diese höchst dramatische Information besitze, möge sie die Palme-Ermittlungskommission doch davon in Kenntnis setzen. Hastig, in kaum hörbarem Flüsterton, hatte sie geantwortet: »Das kann ich nicht … das ist zu gefährlich!«
Mikael fragte sich, ob Dirch Frode auch zu diesem Heer von beseelten Kündern der Wahrheit gehörte, die das geheime psychiatrische Krankenhaus enttarnen wollten, in dem die schwedische Sicherheitspolizei ihre Versuche zur Hirnkontrolle anstellte.
»Ich mache keine Hausbesuche«, sagte er kurz angebunden.
»Dann hoffe ich, Sie überreden zu können, hier eine Ausnahme zu machen. Mein Mandant ist achtzig Jahre alt, für ihn ist die Fahrt nach Stockholm eine anstrengende Reise. Wenn Sie darauf bestehen, können wir sicher etwas arrangieren, aber um ehrlich zu sein, es wäre schön, wenn Sie die Freundlichkeit besäßen …«
»Wer ist Ihr Mandant?«
»Eine Person, von der Sie durch Ihre Arbeit schon gehört haben, nehme ich an. Henrik Vanger.«
Mikael lehnte sich verblüfft zurück. Henrik Vanger - natürlich hatte er schon von ihm gehört. Der Großindustrielle und Geschäftsführer des Vanger-Konzerns, früher Synonym für Sägewerke, Wald, Gruben, Stahl, Schwerindustrie, Textilien, Produktion und Export. Henrik Vanger hatte zu seiner Zeit den Ruf eines ehrenhaften, altmodischen Patriarchen gehabt, der nicht so schnell klein beigab, wenn der Wind von vorne kam. Er war aus dem schwedischen Wirtschaftsleben nicht wegzudenken; eine Koryphäe wie ein Matts Carlgren von MoDo oder Hans Werthén, damals bei Electrolux. Das Rückgrat der heimischen Industrie und so weiter und so fort.
Aber der Vanger-Konzern, bis auf den heutigen Tag ein Familienunternehmen, war in den letzten fünfundzwanzig Jahren durch verheerende Rationalisierungen und Umstrukturierungen, Börsenkrisen, Zinskrisen, Konkurrenz aus Fernost, sinkende Exportzahlen und andere Unbill gebeutelt worden. All das hatte den Namen Vanger in Misskredit und die Firma in Schwierigkeiten gebracht. Das Unternehmen wurde heute von Martin Vanger geführt, den Mikael als pummeligen Mann mit buschigem Haar kannte, der ab und zu über den Bildschirm flimmerte, über den er ansonsten aber nur wenig wusste. Henrik Vanger war seit fünfundzwanzig Jahren von der Bildfläche verschwunden, und Mikael war sich nicht einmal sicher gewesen, ob er noch lebte.
»Warum will Henrik Vanger mich treffen?«, war seine logische nächste Frage.
»Es tut mir leid, ich bin seit vielen Jahren Henrik Vangers Anwalt, aber er muss Ihnen selbst erzählen, was er von Ihnen will. Ich kann Ihnen allerdings verraten, dass Henrik Vanger über eine eventuelle Zusammenarbeit mit Ihnen sprechen will.«
»Zusammenarbeit? Ich habe nicht die geringste Absicht, für das Unternehmen Vanger zu arbeiten. Brauchen Sie einen Pressesprecher?«
»Nicht diese Art von Arbeit, Herr Blomkvist. Ich weiß nicht, wie ich es anders formulieren soll, aber Herrn Vanger liegt äußerst viel daran, Sie zu treffen und in einer privaten Angelegenheit zurate zu ziehen.«
»Sie drücken sich etwas rätselhaft aus.«
»Ich bitte um Entschuldigung. Aber gibt es irgendeine Möglichkeit, Sie zu einem Besuch in Hedestad zu überreden? Wir bezahlen Ihnen selbstverständlich die Fahrt und ein angemessenes Honorar.«