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Die Rubinette war im Großen und Ganzen eine verblüffend anspruchslose Blume. Wirtschaftlichen Wert hatte sie überhaupt nicht. Soviel man wusste, besaß sie keine Heilkräfte und enthielt auch keine halluzinogenen Substanzen. Man konnte sie weder essen noch als Gewürz verwenden, und für die Erzeugung pflanzlicher Farbstoffe war sie ebenfalls wertlos. Für die australischen Ureinwohner, die Aborigines, hatte sie hingegen eine gewisse Bedeutung, da diese das Gebiet und die Flora rund um den Ayers Rock traditionell als heilig betrachteten. Der einzige Daseinszweck dieser Blume schien also darin zu bestehen, ihre Umgebung mit ihrer unbeständigen Schönheit zu erfreuen.

In ihrem Gutachten schrieb die Botanikerin, dass der desert snow in Australien schon ungewöhnlich war, in Skandinavien aber geradezu eine Rarität. Sie selbst hatte noch nie ein Exemplar zu Gesicht bekommen, doch als sie Kollegen zurate zog, erfuhr sie, dass man versucht hatte, diese Pflanze in einem Garten in Göteborg einzuführen, und dass es denkbar war, dass sie hie und da privat angepflanzt wurde, von Blumenliebhabern und Amateurbotanikern in ihren eigenen kleinen Gewächshäusern. Die Blume war in Schweden nur schwer zu ziehen, weil sie ein mildes und trockenes Klima benötigte und während des Winterhalbjahres in einem geschlossenen Raum stehen musste. Für kalkhaltigen Boden war sie ungeeignet. Das Wasser musste ihr von unten her zugeführt werden, direkt an die Wurzeln. Man musste schon ein Händchen für sie haben.

Dass diese Blume in Schweden derart selten war, hätte die Suche nach ihrer Herkunft theoretisch erleichtern müssen, aber praktisch gesehen war das eine unlösbare Aufgabe. Man konnte weder in Registern nachschlagen noch Lizenzen überprüfen. Niemand wusste, wie viele private Blumenzüchter sich überhaupt darum bemüht hatten, eine so schwer zu kultivierende Blume zu ziehen - alles war möglich, von einem einzelnen bis hin zu mehreren hundert Blumenfans, die Zugang zu Samen oder Pflanzen hatten. Die konnten entweder privat gekauft oder über den Postweg von einem anderen Züchter oder jedem beliebigen botanischen Garten in Europa bestellt werden. Man konnte sie sogar direkt von einer Australienreise mitbringen. Mit anderen Worten: Unter den Millionen von Schweden, die ein kleines Gewächshaus oder auch nur einen Blumentopf im Wohnzimmerfenster hatten, ausgerechnet diesen einen Züchter herauszufinden, war ein hoffnungsloses Unterfangen.

Diese Blume war nur eines der vielen rätselhaften Exemplare, die jedes Jahr am 1. November in einem gefütterten Umschlag eintrafen. Jedes Jahr war es eine andere Art, aber es waren stets schöne und meistens relativ seltene Blumen. Wie immer war die Blume gepresst, sorgfältig auf Aquarellpapier gelegt und hinter Glas in einem einfachen Rahmen mit dem Format 29 x 16 Zentimeter befestigt worden.

Das Geheimnis um die Blumen war den Massenmedien oder der Allgemeinheit nie bekannt geworden, sondern nur einem ausgewählten Kreis. Vor drei Jahrzehnten war das jährliche Eintreffen der Blume Gegenstand von Analysen des Staatlichen Kriminaltechnischen Laboratoriums gewesen; Experten für Fingerabdrücke und Grafologen, Ermittler und ein paar Verwandte und Freunde des Empfängers hatten sich mit dem Rätsel beschäftigt. Nun bestand der Kreis der Akteure nur mehr aus drei Personen: dem alternden Geburtstagskind, dem pensionierten Polizisten und natürlich dem Unbekannten, der das Geschenk geschickt hatte. Da sich zumindest die beiden Erstgenannten bereits in einem so respektablen Alter befanden, dass es Zeit wurde, sich auf das Unausweichliche vorzubereiten, würde sich der Kreis der Interessierten bald noch verkleinern.

Der pensionierte Polizist war ein mit allen Wassern gewaschener Veteran. Er würde niemals seinen ersten Einsatz vergessen, bei dem er einen gewalttätigen und schwer betrunkenen Anlagenmechaniker festgenommen hatte, bevor dieser sich selbst oder anderen weiteren Schaden zufügen konnte. Im Laufe seiner Karriere hatte er Wilderer, prügelnde Ehemänner, Betrüger, Autodiebe und angesäuselte Autofahrer eingesperrt. Er war Einbrechern, Räubern, Dealern, Sexualverbrechern und mindestens einem mehr oder weniger geisteskranken Sprengstoffattentäter begegnet. An neun Ermittlungen in Mord- beziehungsweise Totschlagsfällen war er beteiligt gewesen. Davon waren fünf so verlaufen, dass der Täter selbst die Polizei angerufen und voller Reue gestanden hatte, er habe seine Frau oder seinen Bruder oder einen anderen ihm nahe stehenden Menschen getötet. Von den Morden wurden zwei nach ein paar Tagen aufgeklärt und einer nach zwei Jahren mit Hilfe der Reichskrimininalbehörde.

Der neunte Fall war aus polizeilicher Sicht gelöst, sprich, die Ermittler kannten den Mörder, aber die Beweislage war so unsicher, dass der Staatsanwalt beschlossen hatte, den Fall ruhen zu lassen. Die Angelegenheit wurde dann zur Erbitterung des Kommissars für verjährt erklärt. Aber im Großen und Ganzen konnte er auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken und hätte mit seiner Arbeit zufrieden sein können.

Doch er war alles andere als zufrieden.

Für den Kommissar steckte Der Fall mit den Gepressten Blumen in seinem Berufsleben wie ein kleiner Stachel, den er einfach nie hatte entfernen können - ein frustrierender Fall, dessen Lösung immer noch ausstand, obwohl er ihm, verglichen mit anderen Fällen, doch am meisten Zeit gewidmet hatte.

Die Situation war umso komplizierter, da er nach buchstäblich Tausenden von durchgrübelten Stunden während und außerhalb seiner Dienstzeiten nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, ob überhaupt ein Verbrechen begangen worden war.

Wie die beiden Männer wussten, hatte die Person, die die Blumen gepresst und gerahmt hatte, Handschuhe getragen, denn weder auf dem Rahmen noch auf dem Glas waren Fingerabdrücke zu finden. Sie wussten, dass es unmöglich war, den Absender aufzuspüren. Sie wussten, dass man solche Rahmen in Fotoläden oder Schreibwarengeschäften auf der ganzen Welt kaufen konnte. Es gab einfach keine Spur, der die Ermittler hätten folgen können. Und die Poststempel wechselten ständig: Meistens kamen sie aus Stockholm, je zweimal aus Paris und Kopenhagen, je einmal aus Madrid, Bonn sowie - was sicherlich das größte Rätsel war - aus Pensacola, USA. Im Gegensatz zu den anderen Namen war Pensacola so unbekannt, dass der Kommissar die Stadt in einem Atlas nachschlagen musste.

Nachdem sie sich verabschiedet hatten, blieb der zweiundachtzigjährige Jubilar eine Weile ganz still sitzen und betrachtete die schöne, aber bedeutungslose Blume, von der er noch nicht einmal den Namen kannte. Dann hob er den Blick zur Wand über seinem Schreibtisch. Dort hingen dreiundvierzig gepresste Blumen hinter Glas in ihren Rahmen; vier Reihen mit jeweils zehn Blumen und eine noch nicht abgeschlossene Reihe mit fünf. In der obersten Reihe fehlte eine. Platz Nummer zehn war ebenfalls leer. Desert Snow würde die Nummer vierundvierzig werden.

Zum ersten Mal geschah aber etwas, was das Muster der früheren Jahre durchbrach. Ganz plötzlich und ohne jede Vorwarnung begann er zu weinen. Er wunderte sich selbst über diesen jähen Gefühlsausbruch nach fast vierzig Jahren.

Teil I

Reizmittel

20. Dezember bis 3. Januar

18% aller schwedischen Frauen über fünfzehn sind schon einmal von einem Mann bedroht worden.

1. Kapitel

Freitag, 20. Dezember

Der Prozess war unbestreitbar vorüber, und alles, was es zu sagen gab, war bereits gesagt worden. Er hatte keine Sekunde daran gezweifelt, dass er verurteilt werden würde. Das schriftliche Urteil war am Freitagmorgen um zehn Uhr ergangen, und nun stand nur noch der abschließende Bericht der Reporter aus, die im Korridor vor dem Gerichtssaal warteten.