Es war das erste Mal, dass Mikael Blomkvist verurteilt worden war - überhaupt das erste Mal, dass man ihn eines Vergehens verdächtigt und angeklagt hatte. Eigentlich handelte es sich um eine vergleichsweise harmlose Verfehlung. Es ging ja nicht um bewaffneten Raubüberfall, Mord oder Vergewaltigung. Finanziell gesehen traf ihn das Urteil freilich empfindlich. Millennium war nicht gerade das Flaggschiff der Medienwelt - das Magazin lebte mehr schlecht als recht von seiner Gewinnspanne -, aber das hier war auch nicht wirklich eine Katastrophe. Dummerweise war Mikael gleichzeitig Teilhaber, Journalist und verantwortlicher Herausgeber der Zeitschrift. Die Schadenersatzforderung, 150 000 Kronen, gedachte er aus eigener Tasche zu begleichen, was seine Ersparnisse nahezu vollständig aufzehren würde. Die Zeitschrift übernahm die Gerichtskosten. Wenn man klug mit dem Geld wirtschaftete, würde es schon wieder in Ordnung kommen.
Er überlegte, sein Wohnrecht zu verkaufen, aber das würde ihm ganz schön wehtun. Gegen Ende der unbekümmerten achtziger Jahre, in einer Phase, als er über eine feste Anstellung und ein relativ gutes Einkommen verfügte, hatte er sich nach einer Eigentumswohnung umgesehen. Er war zu zahlreichen Wohnungsbesichtigungen gerannt und hatte das meiste abgelehnt, bis er über eine Mansardenwohnung mit fünfundsechzig Quadratmetern stolperte, die genau an der Ecke zur Bellmansgata lag. Der vorherige Besitzer hatte bereits angefangen, sie gemütlich auszubauen, dann jedoch plötzlich einen Job in einer Dotcom-Firma im Ausland bekommen, und so konnte Mikael das Renovierungsobjekt spottbillig kaufen.
Michael hatte die Skizzen des Innenarchitekten verworfen und den Ausbau selbst übernommen. Er steckte einiges an Geld in die Renovierung des Badezimmers und der Küche und pfiff auf den Rest. Statt Parkett zu verlegen und Zwischenwände einzuziehen, um die geplante Zweizimmerwohnung zu schaffen, schliff er die Dachbalken ab und strich Kalkfarbe direkt auf die Originalwände. Über die schlimmsten Schadstellen hängte er ein paar Aquarelle von Emanuel Bernstone. Das Ergebnis war ein völlig offener Raum mit einer Schlafnische hinter einem Bücherregal und einem kombinierten Ess- und Wohnzimmer mit einer kleinen Küche, wie in einer Bar. Die Wohnung hatte zwei Mansarden- und ein Giebelfenster mit Ausblick über die Dächer in Richtung Riddarfjärden und der Altstadt Gamla Stan. Er konnte einen schmalen Streifen Wasser und das Rathaus sehen. Heutzutage würde er sich eine solche Wohnung nicht mehr leisten können, und er wollte sie gerne behalten.
Aber er riskierte ja nicht nur den Verlust seiner Wohnung. Viel schlimmer war, dass sein berufliches Ansehen gelitten hatte. Es würde lange dauern, bis es wiederhergestellt war. Falls dies überhaupt je der Fall sein würde.
Es ging um Vertrauen. In der nächsten Zeit würden viele Redakteure erst mal zögern, einen Artikel von ihm zu drucken. Er hatte immer noch genügend Freunde in der Branche, die akzeptieren würden, dass er einfach Opfer unglücklicher Zufälle gewesen war, aber ab jetzt konnte er sich keinen Fehler mehr leisten.
Am meisten schmerzte allerdings die Demütigung.
Er hatte alle Trümpfe in der Hand gehabt und dann doch verloren, gegen einen Gangster im Armani-Anzug. Einen Schweinehund von einem Börsenhai. Einen Yuppie mit einem Promi-Anwalt, der sich durch den ganzen Prozess gegrinst hatte.
Wie zum Teufel hatte alles nur so schiefgehen können?
Die Wennerström-Affäre hatte so vielversprechend begonnen, hinter dem Steuer seines Bootes, einer gelben Mälar-30, an einem Mittsommerabend vor achtzehn Monaten. Ein ehemaliger Journalistenkollege, mittlerweile Pressebeauftragter beim Provinziallandtag, hatte seiner neuen Freundin imponieren wollen und unbedachterweise ein Boot gemietet, eine Scampi, mit der sie ein paar Tage ebenso planlos wie romantisch durch die Schären segeln wollten. Seine Freundin, die für ihr Studium gerade erst von Hallstahammar nach Stockholm gezogen war, hatte zunächst ein bisschen Widerstand geleistet, sich dann aber überreden lassen, allerdings unter der Bedingung, dass ihre Schwester und deren Freund mitkommen durften. Das Problem war nur, dass der Angestellte des Landtags mehr Enthusiasmus als Segelerfahrung vorweisen konnte. Drei Tage bevor sie ablegen wollten, hatte er Mikael verzweifelt angerufen und ihn überredet, sich ihnen als fünftes und navigationskundiges Besatzungsmitglied anzuschließen.
Mikael hatte zuerst rundheraus abgelehnt, sich dann aber von dem Versprechen verführen lassen, dass man sich in den Schären ein paar Tage bei gutem Essen in guter Gesellschaft entspannen würde. Aus diesem Versprechen wurde allerdings überhaupt nichts, und der Segeltörn hatte sich zu einer weit größeren Katastrophe ausgewachsen, als er sich hätte träumen lassen. Obwohl sie die schöne, aber wenig dramatische Strecke ab Bullandö über die Furusund-Route eingeschlagen hatten, war die neue Freundin sofort seekrank geworden. Ihre Schwester hatte angefangen, mit ihrem Freund zu streiten, und keiner von ihnen zeigte auch nur das geringste Interesse daran, ein paar Segelkenntnisse zu erwerben. Wie sich bald herausstellte, erwartete man von Mikael, dass er sich um das Boot kümmerte, während ihm die anderen gute, aber größtenteils nutzlose Ratschläge gaben. Nach der ersten Übernachtung auf Ängsö war er so weit, dass er in Furusund anlegen und den ersten Bus nach Hause nehmen wollte. Nur das verzweifelte Flehen seines Freundes hatte ihn bewogen, an Bord zu bleiben.
Am nächsten Tag gegen zwölf Uhr, früh genug, um noch ein paar freie Plätze zu finden, hatten sie das Boot auf Arholma an der Anlegestelle für Besucher festgemacht. Sie hatten gerade zu Mittag gegessen, als Mikael eine gelbe M-30 bemerkte, die nur das Großsegel gesetzt hatte und langsam in die Bucht glitt. Das Boot machte eine ruhige Drehung nach Luv, während der Skipper nach einem Platz an der Landungsbrücke Ausschau hielt. Mikael sah sich um und stellte fest, dass der Platz zwischen ihrer Scampi und einem H-Boot auf der Steuerbordseite vermutlich die einzige verbliebene Lücke war. Die schmale M-30 würde dort gerade noch hineinpassen. Er stand auf und gab ein Zeichen; der Skipper der M-30 hob die Hand, um sich bei ihm zu bedanken, und hielt auf die Landungsbrücke zu. Ein Einhandsegler, der sich nicht die Mühe machen wollte, den Motor anzuwerfen, sagte sich Mikael. Er hörte das Rasseln der Ankerkette, und wenige Sekunden später wurde das Großsegel eingeholt, während der Skipper nur so hin und her flitzte, um gleichzeitig das Ruder gerade zu richten und am Vordersteven ein Tau für das Anlegemanöver vorzubereiten.
Mikael kletterte auf die Reling und streckte eine Hand aus, um zu signalisieren, dass er das Tau entgegennehmen konnte. Der Neuankömmling nahm eine letzte Kursänderung vor und glitt perfekt, in ganz langsamer Fahrt, ans Heck der Scampi heran. Erst als der Skipper Mikael den Tampen zuwarf, erkannten sie einander und brachen in lautes Gelächter aus.
»Hallo, Robban!«, rief Mikael. »Warum schmeißt du nicht den Motor an, dann schrammst du nicht allen Booten im Hafen den Lack ab.«
»Hallo, Micke! Dachte ich mir doch, dass du mir irgendwie bekannt vorkommst. Und den Motor würde ich ja gerne anmachen, wenn ich ihn in Gang kriegen könnte. Das Biest ist mir vor zwei Tagen bei Rödlöga endgültig abgestorben.«
Sie schüttelten sich über die Reling hinweg die Hand.
Vor ewigen Zeiten, in den siebziger Jahren, waren Mikael Blomkvist und Robert Lindberg am Kungsholmer Gymnasium Freunde gewesen, sogar sehr gute Freunde. Doch wie es so oft mit alten Schulkameraden geht, war die Freundschaft nach den Abschlussprüfungen zu Ende. Sie waren getrennte Wege gegangen und hatten sich in den letzten zwanzig Jahren höchstens fünf oder sechs Mal getroffen. Als sie sich unerwartet auf der Landungsbrücke von Arholma begegneten, hatten sie sich schon mindestens sieben oder acht Jahre nicht mehr gesehen. Jetzt musterten sie einander neugierig. Robert war braun gebrannt, sein Haar war verfilzt, und wie man an den Bartstoppeln sehen konnte, hatte er sich seit Wochen nicht mehr rasiert.