Als er zum Gästehäuschen zurückkam, war Lisbeth in den Garten umgezogen und ganz in den Untersuchungsbericht versunken. Mikael ging hinein und wärmte den Kaffee auf. Er betrachtete sie durchs Küchenfenster. Sie schien den Bericht eher zu überfliegen und maximal zehn bis fünfzehn Sekunden auf jede Seite zu verwenden. Sie blätterte völlig mechanisch, und Mikael wunderte sich, dass sie mit der Lektüre so schlampig war; das stand in krassem Gegensatz zu der Kompetenz, mit der sie ihren eigenen Bericht verfasst hatte. Er brachte zwei Kaffeetassen nach draußen und leistete ihr am Gartentisch Gesellschaft.
»Als Sie dies geschrieben haben, wussten Sie noch nicht, dass wir einen Serienmörder jagen, stimmt’s?«
»Stimmt. Ich habe Dinge notiert, die ich für wichtig hielt, Fragen, die ich Henrik stellen wollte, und so weiter. Wie Ihnen sicher aufgefallen ist, war das Ganze ziemlich unstrukturiert. Bis jetzt bin ich eigentlich nur im Dunkeln herumgetappt und habe versucht, eine Story zu schreiben - ein Kapitel in Henrik Vangers Biografie.«
»Und jetzt?«
»Vorher hat sich die gesamte Ermittlung auf die Hedeby-Insel beschränkt. Mittlerweile bin ich aber davon überzeugt, dass diese Story schon früher begonnen hat, und zwar in Hedestad. Das verleiht dem Ganzen eine völlig neue Perspektive.«
Lisbeth nickte. Sie überlegte einen Moment.
»Das mit diesen Bildern hier war eine großartige Idee von Ihnen«, sagte sie.
Mikael hob die Augenbrauen. Lisbeth wirkte eigentlich nicht wie jemand, der verschwenderisch mit Lob umging, und Mikael fühlte sich seltsam geschmeichelt. Auf der anderen Seite - rein journalistisch betrachtet war es tatsächlich ein ungewöhnliches Vorgehen.
»Jetzt müssen Sie die Details klären. Wie ist es mit diesem Bild gelaufen, dem Sie in Norsjö hinterhergejagt sind?«
»Wollen Sie etwa behaupten, Sie hätten die Bilder in meinem Computer noch nicht gecheckt?«
»Ich hatte keine Zeit dazu. Ich wollte lieber lesen, auf was für Gedanken und Schlussfolgerungen Sie gekommen sind.«
Mikael seufzte, fuhr sein iBook hoch und öffnete den Ordner mit den Bildern.
»Es ist faszinierend. Der Besuch in Norsjö war ein Erfolg und gleichzeitig eine totale Enttäuschung. Ich habe das Bild gefunden, aber es gibt nicht viel her.
Diese Frau, Mildred Berggren, hat sämtliche Urlaubsfotos in einem Karton aufgehoben. Darunter auch dieses Bild. Nach siebenunddreißig Jahren war der Abzug ziemlich verblichen und gelbstichig, aber sie hatte noch das Negativ. Ich durfte mir alle Negative von Hedestad ausleihen und habe sie eingescannt. Folgendes hat Harriet also gesehen.«
Er klickte ein Bild mit dem Dokumentennamen HARRIET/bd-19.eps an.
Lisbeth konnte seine Enttäuschung verstehen. Sie sah ein leicht unscharfes, mit Weitwinkel aufgenommenes Bild, das die Clowns im Festzug zum »Tag des Kindes« zeigte. Im Hintergrund war die Ecke von Sundströms Herrenmode zu erkennen. Dort standen ungefähr zehn Personen auf dem Gehweg, die man durch eine Lücke zwischen den Clowns und dem Kühler des nachfolgenden Lastwagens sehen konnte.
»Ich glaube, dies hier war die Person, die sie gesehen hat. Zum einen habe ich diese Straßenkreuzung sehr exakt nachgezeichnet und versucht, den exakten Winkel ihrer Gesichtsdrehung auszurechnen. Zum anderen ist dies die einzige Person, die direkt in die Kamera zu blicken scheint. Das heißt, sie hat Harriet angestarrt.«
Lisbeth sah eine unscharfe Gestalt, die hinter den anderen Zuschauern in der Seitenstraße stand. Sie trug einen dunklen Steppanorak mit roter Schulterpartie und eine dunkle Hose, vielleicht Jeans. Mikael zoomte die Figur heran, sodass ihre obere Körperhälfte den ganzen Bildschirm ausfüllte. Sofort wurde das Bild verschwommener.
»Es ist ein Mann. Er ist ungefähr 1 Meter 80 groß, normale Statur. Er hat dunkelblondes, halblanges Haar und ist glatt rasiert. Aber es ist unmöglich, seine Gesichtszüge genauer zu erkennen oder auch nur das Alter zu schätzen. Von Teenager bis mittelalt ist alles möglich.«
»Man kann das Bild noch manipulieren …«
»Ich habe das Bild bereits manipuliert. Ich habe sogar eine Kopie an Christer Malm bei Millennium geschickt, und der ist ein echter Fuchs in Sachen Bildbearbeitung.« Mikael klickte ein neues Bild an. »Mehr als das hier kann ich nicht rausholen. Die Kamera war ganz einfach mies und der Abstand zu groß.«
»Haben Sie die Bilder jemandem gezeigt? Die Leute könnten die Körperhaltung wiedererkennen...«
»Ich habe Frode das Bild gezeigt. Er hatte keine Ahnung, wer diese Person ist.«
»Na ja, Dirch Frode ist ja nicht gerade der aufgeweckteste Mensch in Hedestad.«
»Nein, aber ich arbeite nun mal für Henrik Vanger und ihn. Ich will das Bild Henrik vorlegen, bevor ich es anderen zeige.«
»Vielleicht ist er ja nur ein argloser Zuschauer.«
»Schon möglich. Aber dann hat er doch eine sonderbare Reaktion bei Harriet ausgelöst.«
In der nächsten Woche arbeiteten Mikael und Lisbeth nahezu ununterbrochen am Fall Harriet. Lisbeth las weiter im Untersuchungsbericht und bombardierte Mikael mit Fragen. Es konnte nur eine Wahrheit geben, und jede Unklarheit und ungenaue Antwort führte zu einer abermaligen Prüfung ihrer Überlegungen.
Lisbeth war Mikael zunehmend ein Rätsel. Obwohl es stets so aussah, als würde sie den Bericht nur überfliegen, schien sie regelmäßig bei den fragwürdigsten und widersprüchlichsten Details hängen zu bleiben.
Nachmittags, wenn es in der Hitze im Garten nicht mehr auszuhalten war, machten sie eine Pause. Ein paarmal gingen sie hinunter ans Wasser und badeten, oder sie setzten sich auf die Terrasse von Susannes Brücken-Café. Susanne begegnete Mikael plötzlich mit einer gewissen demonstrativen Kühle. Ihm ging auf, dass Lisbeth aussah, als wäre sie kaum volljährig, und trotzdem wohnte sie offensichtlich mit ihm in seinem Gästehäuschen zusammen. Das machte ihn in Susannes Augen zu einem Lüstling, der sich mit jungen Mädchen vergnügte. Ein unschönes Gefühl.
Mikael machte weiterhin jeden Abend seinen Geländelauf. Lisbeth gab keinen Kommentar ab, wenn er atemlos zum Gästehaus zurückkam. Über Stock und Stein zu rennen entsprach anscheinend nicht ihrer Vorstellung von Sommerfrische.
»Ich bin über vierzig«, verteidigte sich Mikael. »Ich muss mich bewegen, wenn ich in der Mitte nicht auseinandergehen will.«
»Aha.«
»Trainieren Sie nie?«
»Ich boxe ab und zu.«
»Boxen?«
»Ja, Sie wissen schon, mit Handschuhen.«
Mikael ging duschen und versuchte, sich Lisbeth in einem Boxring vorzustellen. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn nicht vielleicht doch auf den Arm genommen hatte.
»In welcher Gewichtsklasse boxen Sie denn?«
»In gar keiner. Ich mache hie und da ein bisschen Sparring mit den Typen vom Boxclub in Söder.«
Warum wundert mich das gar nicht?, fragte sich Mikael. Aber er stellte fest, dass sie auf jeden Fall etwas Persönliches über sich erzählt hatte. Er wusste immer noch nicht über die grundlegendsten Fakten in ihrem Leben Bescheid - wie es sich ergeben hatte, dass sie für Armanskij arbeitete, was für eine Ausbildung sie hatte und was ihre Eltern machten. Sobald Mikael versuchte, mehr über sie zu erfahren, verschloss sie sich wie eine Auster und gab entweder einsilbige Antworten oder ignorierte ihn komplett.
Eines Nachmittags legte Lisbeth plötzlich einen Ordner aus der Hand und sah Mikael mit einer senkrechten Falte zwischen den Augenbrauen an.
»Was wissen Sie über Otto Falk, den Pfarrer?«
»Ziemlich wenig. Anfang des Jahres habe ich die jetzige Pfarrerin hier in der Kirche ein paarmal gesehen. Sie hat mir erzählt, dass Falk inzwischen in einem Altenheim in Hedestad lebt. Alzheimer.«
»Woher kommt er?«
»Hier aus Hedestad. Er hat in Uppsala studiert und war ungefähr dreißig, als er wieder hierherzog.«
»Er war unverheiratet. Und Harriet war viel mit ihm zusammen.«