»Warum fragen Sie?«
»Ich stelle nur fest, dass der Bulle, dieser Morell, ihn beim Verhör ziemlich sanft angefasst hat.«
»In den sechziger Jahren hatten Pfarrer immer noch eine besondere Stellung in der Gesellschaft. Dass er hier auf der Insel wohnte, im direkten Umfeld der Macht sozusagen, war ganz natürlich.«
»Ich frage mich nur, wie sorgfältig die Polizei das Pfarrhaus durchsucht hat. Auf den Bildern sieht man ein großes Holzhaus; da muss es genug Platz gegeben haben, um eine Leiche eine Weile zu verstecken.«
»Stimmt. Aber es gibt keinen Hinweis, dass er irgendwie mit der Mordserie oder Harriets Verschwinden in Verbindung stehen könnte.«
»O doch«, sagte Lisbeth Salander und grinste Mikael schief an. »Erstens war er Pfarrer, und gerade Pfarrer haben ein ganz besonderes Verhältnis zur Bibel. Zweitens war er der Letzte, der mit Harriet gesprochen hat.«
»Aber er ging sofort zur Unfallstelle und blieb dort mehrere Stunden. Er ist auf jeder Menge Bildern zu sehen, besonders während der Zeitspanne, in der Harriet verschwunden sein muss.«
»Ach wo, sein Alibi kann man widerlegen. Aber ich habe eigentlich an etwas ganz anderes gedacht. Diese Geschichte handelt doch von einem sadistischen Frauenmörder.«
»Ja?«
»Ich war … Ich habe im Frühjahr in einem ganz anderen Zusammenhang ein bisschen über Sadisten gelesen. Einer der Texte, den ich gelesen habe, war ein Handbuch des FBI; dort stand, dass auffällig viele der gefassten Serienmörder aus dysfunktionalen Familien kommen und in ihrer Kindheit Tiere gequält haben. Einige amerikanische Serienmörder wurden auch festgenommen, weil sie Feuer gelegt hatten, um andere Menschen zu töten.«
»Sie meinen Tieropfer und Brandopfer.«
»Ja. Sowohl Tierquälerei als auch Feuer tauchen in mehreren von Harriets Mordfällen auf. Doch eigentlich dachte ich daran, dass das Pfarrhaus Ende der siebziger Jahre abgebrannt ist.«
Mikael überlegte eine Weile.
»Ziemlich vage«, meinte er schließlich.
»Da stimme ich Ihnen zu. Aber man sollte es trotzdem festhalten. Die Brandursache habe ich im Ermittlungsbericht nicht gefunden, und es wäre mal interessant zu erfahren, ob es in den sechziger Jahren noch andere geheimnisvolle Brände gegeben hat. Außerdem sollten wir in Erfahrung bringen, ob in jener Zeit auch Fälle von Tierquälerei oder -verstümmelung in der Gegend dokumentiert wurden.«
Als Lisbeth sich in der siebten Nacht in Hedeby schlafen legte, war sie leicht irritiert. Sieben Tage lang hatte sie so gut wie jede Minute mit Mikael Blomkvist verbracht - normalerweise reichten ihr schon sieben Minuten mit einem anderen Menschen vollauf, um Kopfschmerzen zu bekommen.
Sie hatte schon vor langer Zeit festgestellt, dass ihr soziale Bindungen schwerfielen, und sich auf ein Leben als Einzelgänger eingerichtet. Mit diesem Leben war sie völlig zufrieden, wenn die Menschen sie nur in Frieden ließen und sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten. Doch leider war ihre Umwelt nicht immer so klug und verständig; ständig musste sie sich gegen irgendjemanden wehren: gegen Sozialämter, Jugendämter, Vormundschaftsgerichte, Finanzämter, Polizisten, Fürsorgebeauftragte, Psychologen, Psychiater, Lehrer und Türsteher, die sie nicht in die Kneipe lassen wollten, obwohl sie ihr fünfundzwanzigstes Lebensjahr schon vollendet hatte (außer in der Mühle, wo man sie mittlerweile kannte). Es gab eine ganze Armada von Menschen, die anscheinend nichts Besseres zu tun hatten, als zu versuchen, ihr Leben zu lenken und nach Möglichkeit den Lebensstil, den sie gewählt hatte, zu korrigieren.
Sie hatte beizeiten gelernt, dass es nichts nutzte, wenn sie weinte. Sie hatte auch gelernt, dass jeder ihrer Versuche, jemanden auf irgendetwas in ihrem Leben aufmerksam zu machen, die Situation nur noch verschlimmerte. Sie musste ihre Probleme also selbst lösen - mit den Methoden, die sie für nötig hielt. Wie Rechtsanwalt Bjurman am eigenen Leib erfahren hatte.
Wie alle anderen Menschen hatte auch Mikael Blomkvist die ärgerliche Angewohnheit, neugierige Fragen zu stellen, die sie nicht beantworten wollte. Hingegen reagierte er überhaupt nicht so wie der Großteil der Männer, die sie bis jetzt getroffen hatte.
Wenn sie seine Fragen ignorierte, zuckte er nur mit den Achseln und ließ sie in Frieden. Verblüffend.
Als sie sich am ersten Morgen in seinem Haus sein iBook vornahm, hatte sie gleich alle Informationen auf ihren eigenen Computer kopiert. Damit war es nicht mehr so wichtig, ob er sie von der weiteren Arbeit an diesem Fall ausschloss, denn so hatte sie immer noch Zugang zum gesamten Material.
Aber dann hatte sie ihn absichtlich provoziert, als sie vor seinem iBook saß und seine Dokumente durchlas, als er aufwachte. Sie hatte einen Wutanfall erwartet.
Stattdessen hatte er fast schon resigniert dreingeblickt und eine ironische Bemerkung gemacht. Danach war er duschen gegangen und hatte mit ihr über das diskutiert, was sie gelesen hatte. Ein seltsamer Typ. Man konnte fast versucht sein zu glauben, dass er ihr vertraute.
Aber dass er über ihre Hackertalente Bescheid wusste, war eine ernste Sache. Lisbeth war sich darüber im Klaren, dass der juristische Begriff für ihre beruflich wie auch privat betriebene Hackerei »Eindringen in fremde Datenbestände« lautete und mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft wurde. Das war ein heikler Punkt für sie, denn eine Gefängnisstrafe würde mit größter Wahrscheinlichkeit bedeuten, dass man ihr ihren Computer wegnahm und damit die einzige Beschäftigung, bei der sie richtig gut war. Es war ihr niemals in den Sinn gekommen, Armanskij oder sonst irgendjemand zu erzählen, wie sie an die Informationen kam, für die man sie bezahlte.
Abgesehen von Plague und ein paar wenigen Personen im Netz, die auf professionellem Niveau hackten - die meisten von ihnen kannten sie nur als Wasp und wussten nicht, wer sie war oder wo sie wohnte -, war nur Kalle Blomkvist über ihr Geheimnis gestolpert. Er war ihr auf die Schliche gekommen, weil sie einen Fehler gemacht hatte, wie ihn sich nicht mal ein zwölfjähriger Branchenneuling geleistet hätte - was nur bewies, dass sie an Gehirnschwund litt und Prügel verdiente. Aber er war nicht ausgerastet vor Wut und hatte auch nicht Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um sie zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen hatte er sie angestellt.
Als sie vorhin noch ein Brot gegessen hatten, bevor sie sich schlafen legte, hatte er sie plötzlich gefragt, ob sie eine gute Hackerin sei. Zu ihrer eigenen Überraschung beantwortete sie die Frage ganz spontan.
»Ich bin wahrscheinlich die beste in Schweden. Es gibt vielleicht noch zwei bis drei Personen, die so ungefähr mein Niveau haben.«
Sie zweifelte den Wahrheitsgehalt ihrer Antwort nicht an. Plague war früher einmal besser als sie gewesen, aber sie hatte ihn schon vor geraumer Zeit überholt.
Es fühlte sich jedoch seltsam an, diese Worte auszusprechen. Das hatte sie noch nie zuvor gemacht. Vor allem hatte es noch nie einen Außenstehenden gegeben, mit dem sie so ein Gespräch hätte führen können. Plötzlich gefiel es ihr, dass er von ihren Fähigkeiten beeindruckt schien. Dann hatte er dieses Gefühl gleich wieder zerstört, indem er die Frage stellte, wie sie das Hacken gelernt hatte.
Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Das habe ich schon immer gekonnt, hätte sie sagen sollen. Stattdessen war sie gereizt zu Bett gegangen, ohne Gute Nacht zu sagen.
Es irritierte sie noch mehr, dass Mikael nicht darauf zu reagieren schien, dass sie ihrer eigenen Wege ging. Während sie im Bett lag, hörte sie ihn in der Küche herumgehen, abräumen und abwaschen. Er war die ganze Zeit immer später als sie aufgestanden, aber nun wollte er offenbar auch gleich schlafen gehen. Sie hörte, wie er im Badezimmer rumorte, in sein Schlafzimmer ging und die Tür schloss. Nach einer Weile hörte sie das Knarzen, als er in sein Bett stieg, einen halben Meter von ihr entfernt, aber auf der anderen Seite der Wand.
Während der ganzen Woche hatte er nicht mit ihr geflirtet. Er hatte mit ihr gearbeitet, sie um ihre Meinung gefragt, hatte ihr auf die Finger geklopft, wenn sie Fehler machte, und es akzeptiert, wenn sie ihn korrigiert hat. Verdammt, er hatte sie wie einen Menschen behandelt.