Mit einem Mal ging ihr auf, dass sie Mikael Blomkvists Gesellschaft mochte und ihm vielleicht sogar vertraute. Sie hatte noch nie jemandem vertraut, außer vielleicht Holger Palmgren. Wenn auch aus ganz anderen Gründen. Palmgren war ein vorhersehbarer do gooder gewesen.
Sie stand plötzlich auf, stellte sich nackt ans Fenster und blickte rastlos ins Dunkel. Sie kannte nichts Schwierigeres, als sich einem anderen Menschen zum ersten Mal nackt zu zeigen. Sie war überzeugt, dass ihr magerer Körper abstoßend wirken musste. Ihr Busen war ein schlechter Witz. Sie hatte keine nennenswerten Hüften. In ihren Augen hatte sie nicht sonderlich viel zu bieten. Aber abgesehen davon war sie eine ganz normale Frau mit genau derselben Lust und demselben Sexualtrieb wie alle anderen. Sie blieb am Fenster stehen und überlegte fast zwanzig Minuten, bis sie sich zu einem Entschluss durchgerungen hatte.
Mikael hatte sich ins Bett gelegt und gerade einen Roman von Sara Paretsky aufgeschlagen, als er hörte, wie sich die Türklinke bewegte, und aufblickte. Lisbeth stand schweigend im Türrahmen und sah aus, als würde sie über etwas nachdenken. Sie hatte sich das Laken um den Körper gewickelt.
»Stimmt was nicht?«, fragte Mikael.
Sie schüttelte den Kopf.
»Was wollen Sie denn?«
Sie ging zu ihm, nahm ihm das Buch aus der Hand und legte es auf den Nachttisch. Dann beugte sie sich zu ihm hinunter und küsste ihn auf den Mund. Deutlicher konnte sie ihre Absichten kaum mehr zeigen. Sie kroch schnell unter seine Decke und betrachtete ihn mit forschendem Blick. Sie legte eine Hand auf das Betttuch auf seinem Bauch. Als er nicht protestierte, beugte sie sich herab und biss ihn in eine Brustwarze.
Mikael war völlig perplex. Nach ein paar Sekunden nahm er sie bei den Schultern und schob sie von sich, sodass er ihr Gesicht sehen konnte. Er wirkte nicht gleichgültig.
»Lisbeth … ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Wir sollen zusammenarbeiten.«
»Ich will Sex mit dir. Und ich werde deswegen kein Problem haben, mit dir zusammenzuarbeiten, aber wenn du mich hier rauswirfst, dann werd ich damit ein verdammtes Problem haben.«
»Aber wir kennen uns kaum.«
Sie lachte plötzlich, kurz, es klang fast wie ein Husten.
»Als ich über dich recherchiert habe, konnte ich feststellen, dass dich so etwas früher auch nicht abgehalten hat. Im Gegenteil, du bist einer von denen, die die Finger nicht von den Frauen lassen können. Was passt dir nicht? Bin ich nicht sexy genug für deinen Geschmack?«
Mikael schüttelte den Kopf und suchte nach irgendeiner intelligenten Bemerkung. Als er nicht antwortete, zog sie ihm das Betttuch weg und setzte sich rittlings auf ihn.
»Ich hab keine Kondome«, sagte Mikael.
»Scheiß drauf.«
Als Mikael aufwachte, war Lisbeth schon aufgestanden. Er hörte sie mit dem Kaffeekessel hantieren. Es war kurz vor sechs. Er hatte nur zwei Stunden geschlafen und blieb blinzelnd liegen.
Aus Lisbeth Salander wurde er nicht schlau. Sie hatte ihm kein einziges Mal auch nur mit einem Blick angedeutet, dass sie das geringste Interesse an ihm hatte.
»Guten Morgen.« Sie stand im Türrahmen und lächelte tatsächlich ein bisschen.
»Hallo«, sagte Mikael.
»Wir haben keine Milch mehr. Ich fahr schnell zur Tanke. Die machen um sieben auf.«
Sie drehte sich so schnell um, dass Mikael nicht zum Antworten kam. Er hörte, wie sie sich Schuhe anzog, ihre Tasche und ihren Helm nahm und durch die Haustür verschwand. Er schloss die Augen. Dann hörte er, wie die Tür wieder geöffnet wurde. Wenige Sekunden später stand sie wieder in seinem Türrahmen. Diesmal lächelte sie nicht.
»Du kommst am besten mal raus und guckst dir das selbst an«, sagte sie mit seltsamer Stimme.
Mikael war sofort auf den Beinen und zog sich seine Jeans an. In der Nacht war jemand mit einem unwillkommenen Geschenk beim Haus gewesen. Auf dem Treppenabsatz lag der halb verkohlte Kadaver einer zerstückelten Katze. Die Beine und der Kopf der Katze waren abgetrennt worden, danach hatte man dem Rumpf das Fell abgezogen und Gedärme und Magen herausgenommen. Die Reste waren neben den Kadaver geworfen worden, der anscheinend auf einem Feuer gebraten worden war. Der Kopf der Katze war unversehrt und auf den Sattel von Lisbeths Motorrad gesetzt worden. Mikael erkannte das rotbraune Fell sofort wieder.
22. Kapitel
Donnerstag, 10. Juli
Sie frühstückten schweigend und tranken schwarzen Kaffee. Lisbeth hatte eine kleine Canon-Digitalkamera hervorgezogen und das makabre Arrangement fotografiert, bevor Mikael einen Müllsack geholt und alles aufgeräumt hatte. Er hatte die Katze in den Kofferraum seines geliehenen Autos gelegt, war aber nicht sicher, was er mit dem toten Tier anfangen sollte. Eigentlich hätte er bei der Polizei Anzeige wegen Tierquälerei erstatten müssen, vielleicht auch wegen Bedrohung, aber er wusste nicht, wie er die Bedrohung erklären sollte.
Gegen halb neun kam Isabella auf dem Weg über die Brücke vorbei. Sie sah sie, ließ sich aber nichts anmerken.
»Wie geht es dir?«, fragte Mikael Lisbeth schließlich.
»Gut.« Sie sah ihn verwundert an. Okay, okay. Vermutlich will er, dass ich mich empöre. »Wenn ich das Arschloch erwische, das eine unschuldige Katze zu Tode gequält hat, nur um uns eine Warnung zukommen zu lassen, dann werde ich einen Baseballschläger benutzen.«
»Du glaubst, das war eine Warnung?«
»Hast du eine bessere Erklärung?«
Mikael schüttelte den Kopf. »Was auch immer die Wahrheit hinter dieser Geschichte ist, auf jeden Fall scheint sich irgendjemand von uns gewaltig provoziert zu fühlen. Aber da gibt es noch ein anderes Problem.«
»Ich weiß. Das war ein Tieropfer im Stile von 1954 und 1960. Aber es wäre nicht sonderlich logisch, dass ein Mörder, der vor fünfzig Jahren aktiv war, hier rumschleicht und dir die Kadaver gefolterter Tiere auf die Schwelle legt.«
Mikael gab ihr recht.
»Die Einzigen, die da infrage kommen, sind Harald und Isabella Vanger. Es gibt noch ein paar ältere Verwandte von Johan Vangers Seite, aber keiner von ihnen wohnt hier in der Gegend.«
Mikael seufzte.
»Isabella ist eine böse alte Hexe, die bestimmt eine Katze umbringen kann, aber ich bezweifle, dass sie in den fünfziger Jahren serienmäßig Frauen ermordete. Harald Vanger … ich weiß nicht, der ist doch so altersschwach. Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass er in der Nacht rausgeschlichen ist und das da gemacht hat.«
»Wenn es nicht zwei Personen sind. Eine ältere und eine jüngere.«
Plötzlich hörte Mikael ein Auto vorbeifahren. Er blickte auf und sah Cecilia über die Brücke verschwinden. Harald und Cecilia, dachte er. Aber bei diesem Gedanken gab es ein großes Fragezeichen - Vater und Tochter hatten keinen Kontakt und sprachen kaum miteinander. Trotz Martin Vangers Zusicherung, dass er mit ihr reden würde, hatte sie noch immer keinen von Mikaels Anrufen angenommen.
»Es muss jemand sein, der weiß, dass wir den Fall gründlich untersuchen und Fortschritte gemacht haben«, sagte Lisbeth, stand auf und ging ins Haus. Als sie wieder herauskam, hatte sie ihre Motorradlederjacke an.
»Ich fahre nach Stockholm. Heute Abend bin ich wieder da.«
»Was willst du machen?«
»Ein paar Sachen holen. Wenn jemand so verrückt ist, eine Katze auf diese Art zu massakrieren, dann kann er oder sie sich nächstes Mal auch uns vornehmen. Oder nachts ein Feuer legen, damit wir beide im Haus ersticken und verbrennen. Ich möchte, dass du gleich heute nach Hedestad reinfährst und zwei Feuerlöscher und zwei Rauchmelder kaufst. Einer von den Feuerlöschern sollte ein Halonlöscher sein.«
Ohne ein weiteres Abschiedswort setzte sie den Helm auf, kickte das Motorrad an und verschwand über die Brücke.