»Ich dachte, sie interessierte sich für die Pfingstbewegung?«
»Nein, nein, nicht die Pfingstbewegung. Sie sucht die verbotene Wahrheit. Sie ist keine gute Christin.«
Dann schien Pfarrer Falk Mikael und das Gesprächsthema zu vergessen und begann mit einem der anderen Patienten zu reden.
Mikael war kurz nach zwei Uhr nachmittags wieder auf der Hedeby-Insel. Er ging zu Cecilia hinüber und klopfte, aber ohne Erfolg. Er probierte es auf ihrem Handy, aber sie ging nicht dran.
Er brachte einen Rauchmelder in der Küche an und einen vor dem Eingang. Einen Feuerlöscher stellte er neben den Eisenofen vor der Schlafzimmertür und den anderen neben die Toilettentür. Danach machte er sich Mittagessen, bestehend aus Kaffee und Stullen, und setzte sich in den Garten, wo er die Notizen von seinem Gespräch mit Pfarrer Falk in sein iBook übertrug. Er überlegte lang und hob dann den Blick zur Kirche.
Das neue Pfarrhaus von Hedeby war ein ganz normales modernes Haus, das ein paar Gehminuten von der Kirche entfernt lag. Gegen vier klopfte Mikael bei der Pfarrerin Margareta Strandh und erklärte, er brauche Rat in einer theologischen Frage. Margareta Strandh war eine dunkelhaarige Frau in seinem Alter. Sie trug Jeans und ein Flanellhemd, war barfuß und hatte lackierte Zehennägel. Er war ihr früher schon einmal in Susannes Brücken-Café begegnet und hatte mit ihr über Pfarrer Falk gesprochen. Sie nahm Mikael freundlich auf und bat ihn in den Garten.
Mikael erzählte von seinem Gespräch mit Falk und dessen kryptischen Äußerungen. Margareta Strandh hörte ihm zu und bat ihn dann, Wort für Wort zu wiederholen, was Falk gesagt habe. Sie überlegte ein Weilchen.
»Ich habe meinen Dienst hier in Hedeby erst vor drei Jahren angetreten und Pfarrer Falk niemals getroffen. Er ist schon ein paar Jahre vorher in Pension gegangen, aber soviel ich weiß, war er ziemlich orthodox. Was er zu Ihnen gesagt hat, bedeutet ungefähr, dass man sich allein an die Schrift halten soll - sola scriptura. Sufficientia scripturae bedeutet, dass für die Buchstabengläubigen die Schrift völlig ausreicht. Sola fide heißt Glaube allein oder reiner Glaube.«
»Ich verstehe.«
»All das ist sozusagen ein grundlegendes Dogma. Es ist im Großen und Ganzen das Fundament der Kirche und überhaupt nichts Ungewöhnliches. Er hat ganz einfach gesagt: Lies die Bibel - sie lehrt dich genug und gibt dir den reinen Glauben.«
Mikael fühlte sich ein bisschen verlegen.
»Nun muss ich Sie fragen, in welchem Zusammenhang Sie dieses Gespräch geführt haben.«
»Ich habe nach einem Menschen gefragt, den er vor vielen Jahren gekannt hatte und über den ich etwas schreibe.«
»Jemand, der einen religiösen Sinn suchte?«
»So was in der Richtung.«
»Ich glaube, ich verstehe den Zusammenhang. Pfarrer Falk hat noch zwei Dinge gesagt - dass Josef sie bestimmt ausschließt und dass sie niemals in den Kanon aufgenommen wurden. Ist es wohl möglich, dass Sie sich verhört haben und er Josephus statt Josef gesagt hat? Das ist eigentlich derselbe Name.«
»Das ist nicht unmöglich«, sagte Mikael. »Ich habe das Gespräch auf Band aufgenommen. Wollen Sie es hören?«
»Nein, ich glaube, das ist nicht notwendig. Diese zwei Sätze sagen ziemlich eindeutig, worauf er hinauswollte. Josephus war ein jüdischer Geschichtsschreiber, und der Ausspruch, dass sie niemals in den Kanon aufgenommen wurden, dürfte auf den hebräischen Kanon abzielen.«
»Und das bedeutet?«
Sie lachte.
»Falks Worte legen die Vermutung nahe, dass die betreffende Person für esoterische Quellen schwärmte, genauer gesagt, für die Apokryphen. Das Wort ›apokryphos‹ bedeutet ›verborgen‹, und die Apokryphen sind die verborgenen Bücher, von denen manche finden, dass sie ins Alte Testament gehören. Das sind Tobit, Judit, Ester, Baruch, Jesus Sirach, die Makkabäer-Bücher und noch ein paar andere.«
»Entschuldigen Sie mein Unwissen. Ich habe schon von den Apokryphen gehört, sie aber nie gelesen. Was ist so besonders an ihnen?«
»Es ist eigentlich überhaupt nichts Besonderes an ihnen, sie sind nur ein bisschen später hinzugekommen als der Rest des Alten Testaments. Die Apokryphen sind daher aus der hebräischen Bibel gestrichen worden - nicht, weil die jüdischen Schriftgelehrten ihrem Inhalt nicht trauten, sondern weil sie geschrieben wurden, nachdem das Offenbarungswerk Gottes abgeschlossen worden war. In den alten griechischen Bibelübersetzungen sind die Apokryphen jedoch dabei. In der römisch-katholischen Kirche sind sie zum Beispiel nicht strittig.«
»Verstehe.«
»In der protestantischen Kirche hingegen sind sie strittig. In der Reformationszeit griffen die Theologen auf die hebräische Bibel zurück. Martin Luther entfernte die Apokryphen aus der Reformationsbibel, und später erklärte Calvin, dass die Apokryphen absolut keinen Glaubensüberzeugungen zugrunde gelegt werden dürften. Sie enthalten also Dinge, die der claritas scripturae mehr oder weniger widersprechen - also der Klarheit der Schrift.«
»Mit anderen Worten, zensierte Bücher.«
»Genau. Die Apokryphen behaupten zum Beispiel, dass Magie praktiziert werden kann und dass in gewissen Fällen auch eine Lüge zulässig ist. Solche Aussagen versetzen die dogmatischen Ausleger der Schrift natürlich in Aufruhr.«
»Wenn jemand für Religion schwärmt, ist es also nicht undenkbar, dass die Apokryphen auf seiner Lektüreliste auftauchen und jemand wie Pfarrer Falk sich darüber aufregt.«
»Genau. Es ist fast unvermeidlich, dass Sie auf die Apokryphen stoßen, wenn Sie sich für Inhalte der Bibel oder für den Katholizismus interessieren, und ebenso ist es wahrscheinlich, dass jemand, der sich mit Esoterik beschäftigt, sie auch lesen würde.«
»Sie haben nicht zufällig ein Exemplar der Apokryphen?«
Sie lachte nochmals. Ein helles, freundliches Lachen.
»Natürlich. Die Apokryphen gibt es sogar in einer Ausgabe der staatlichen Bibelkommission aus den achtziger Jahren.«
Als Lisbeth Salander Armanskij um ein Gespräch bat, fragte er sich, was wohl im Busch sein mochte. Er schloss die Tür und machte ihr eine Geste, sich in den Besuchersessel zu setzen. Sie erklärte, dass die Arbeit für Mikael Blomkvist beendet war - Dirch Frode würde bis zum Monatsende bezahlen -, sie sich aber entschlossen habe, weiter bei dieser Untersuchung mitzuarbeiten. Mikael hatte ihr einen wesentlich niedrigeren Monatslohn angeboten.
»Ich arbeite freiberuflich«, sagte Lisbeth Salander. »Trotzdem habe ich bis jetzt nie einen Job angenommen, der nicht von Ihnen kam. Ich möchte wissen, wie es unser Verhältnis beeinflusst, wenn ich in eigener Verantwortung Jobs annehme.«
Armanskij zuckte die Achseln.
»Sie sind selbstständig, Sie können Jobs annehmen, wie es Ihnen gefällt, und Rechnungen nach Ihrem eigenen Geschmack schreiben. Ich freue mich, wenn Sie Ihr eigenes Geld verdienen. Es wäre aber unloyal von Ihnen, wenn Sie sich Kunden sichern, die Sie über uns bekommen haben.«
»Das habe ich nicht vor. Ich habe den Job gemäß unserem Vertrag mit Blomkvist erfüllt. Diese Arbeit ist abgeschlossen. Es geht darum, dass ich an dem Fall dranbleiben will. Ich würde es auch umsonst machen.«
»Machen Sie niemals irgendetwas umsonst.«
»Sie verstehen, was ich meine. Ich will wissen, was letztendlich hinter dieser Geschichte steckt. Ich habe Blomkvist überredet, Frode für mich um einen Verlängerungsvertrag als Recherche-Mitarbeiterin zu bitten.«
Sie gab Armanskij den Vertrag, den er überflog.
»Bei dem Honorar könnten Sie auch gleich umsonst arbeiten. Sie sind begabt, Lisbeth. Sie brauchen nicht für ein Taschengeld zu arbeiten. Sie wissen, dass Sie bei mir bedeutend mehr verdienen können, wenn Sie sich als Vollzeitmitarbeiterin anstellen lassen.«
»Ich will nicht Vollzeit arbeiten. Aber, Dragan, meine Loyalität gehört Ihnen. Sie waren nett zu mir, seit ich hier angefangen habe. Ich möchte wissen, ob so ein Vertrag für Sie in Ordnung geht, und will nicht, dass es da Schwierigkeiten zwischen uns gibt.«