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Kaum wollte er die Tür öffnen, als sie plötzlich von selbst aufging. Er fuhr zusammen und prallte zurück. Die Tür ging langsam und allmählich auf, und plötzlich zeigte sich eine Gestalt: es war der gestrige Mann von unter der Erde.

Der Mann blieb an der Schwelle stehen, blickte Raskolnikow schweigend an und trat einen Schritt ins Zimmer. Er sah genau so aus wie gestern, hatte die gleiche Figur und die gleiche Kleidung, aber in seinem Gesicht und Blick war eine große Veränderung vorgegangen: er blickte jetzt traurig drein und seufzte, nachdem er eine Weile dagestanden hatte, schwer auf. Es fehlte nur, daß er eine Wange auf eine Hand stützte und den Kopf zur Seite neigte, um ganz wie ein altes Weib auszusehen.

»Was wollen Sie?« fragte Raskolnikow, mehr tot als lebendig.

Der Mann schwieg und verneigte sich plötzlich tief, fast bis zur Erde. Jedenfalls berührte er die Erde mit einem Finger der rechten Hand.

»Was wollen Sie?« rief Raskolnikow aus.

»Ich habe mich an Ihnen vergangen«, sagte leise der Mann.

»Womit?«

»Mit bösen Gedanken.«

Beide sahen einander an.

»Es ärgerte mich. Als Sie damals hinkamen, vielleicht im Rausche, und die Hausknechte aufs Revier schickten und nach dem Blute fragten, ärgerte es mich, daß man Sie gehen ließ und für einen Betrunkenen hielt. Ich ärgerte mich so, daß ich den Schlaf verlor. Und da ich mir Ihre Adresse merkte, kam ich gestern her und fragte nach ...«

»Wer kam her«, unterbrach ihn Raskolnikow, dem nun ein Licht aufging.

»Ich, das heißt, ich habe Sie gekränkt.«

»Wohnen Sie in jenem Hause?«

»Ja, im selben Hause, und ich stand damals im Tore mit den andern, haben Sie es vergessen? Ich betreibe auch mein Handwerk dort. Ich bin Kürschner und Kleinbürger, nehme die Arbeit ins Haus ... und noch mehr ärgerte ich mich ...«

Und Raskolnikow erinnerte sich plötzlich der ganzen Szene von vorgestern im Tore; er erinnerte sich, daß außer den Hausknechten dort damals noch einige Menschen gestanden hatten, auch Frauen. Er entsann sich einer Stimme, die vorschlug, ihn gleich aufs Revier zu führen. Auf das Gesicht desjenigen, der das gesagt hatte, konnte er sich nicht besinnen und erkannte es auch jetzt nicht wieder, aber er erinnerte sich noch, daß er ihm sogar etwas geantwortet und sich nach ihm umgewandt hatte ...

So fand also der ganze Schrecken von gestern seine Lösung. Am entsetzlichsten war der Gedanke, daß er wegen eines so nichtigen Umstandes beinahe zugrundegegangen wäre, sich beinahe zugrundegerichtet hätte. Folglich wußte dieser Mensch außer des Versuches, die Wohnung zu mieten, und des Gesprächs über das Blut nichts zu erzählen. Folglich wußte auch Porfirij nichts außer diesem Fieberwahn und der Psychologie, die zwei Enden hat, nichts Positives, keine Tatsachen. Wenn folglich keine Tatsachen mehr auftauchen (und es dürfen keine auftauchen, sie dürfen nicht, sie dürfen nicht!), so ... was kann man ihm dann anhaben? Womit kann man ihn endgültig überführen, selbst wenn man ihn verhaftet? Folglich hat Porfirij das von der Wohnung erst jetzt, soeben erfahren und hat bisher nichts gewußt.

»Haben Sie es heute dem Porfirij gesagt ... daß ich in die Wohnung kam?« rief er aus, durch den plötzlichen Einfall überrascht.

»Was für einem Porfirij?«

»Dem Untersuchungsrichter.«

»Ich hab' es ihm gesagt. Die Hausknechte wollten damals nicht hingehen, darum ging ich selbst hin.«

»Heute?«

»Ein Weilchen vor Ihnen war ich dort. Und ich hörte alles, wie er Sie quälte.«

»Wo? Was? Wann?«

»Gleich nebenan, hinter dem Verschlag habe ich die ganze Zeit gesessen.«

»Wie? Also waren Sie die Überraschung? Wie ist es nur möglich? Ich bitte Sie!«

»Als ich sah,« begann der Kleinbürger, »daß die Hausknechte auf meine Worte hin nicht hingehen wollten, weil es, wie sie sagten, spät sei und er vielleicht auch böse werden könnte, daß sie um eine solche Stunde gekommen sind, ärgerte ich mich und konnte nicht mehr schlafen und begann mich zu erkundigen. Und nachdem ich mich gestern erkundigt hatte, ging ich heute hin. Wie ich zum erstenmal kam, war er nicht da; eine Stunde später – ließ man mich nicht vor, und wie ich zum drittenmal kam, da empfing er mich. Ich fing an, ihm alles zu erzählen, und er fing an, im Zimmer hin und her zu rennen und sich mit der Faust vor die Brust zu schlagen. ›Was macht ihr mit mir,‹ sagte er, ›ihr Räuber? Hätte ich das gewußt, so würde ich ihn durch die Polizei geholt haben!‹ Dann lief er hinaus, rief einen anderen herbei und redete mit ihm in einer Ecke, und dann wandte er sich wieder an mich, und fing an, mich auszufragen und zu schimpfen. Er machte mir viele Vorwürfe; ich aber berichtete ihm alles und sagte, daß Sie mir auf meine gestrigen Worte nichts zu antworten wagten und daß Sie mich nicht wiedererkannt hätten. Und er fing wieder an, hin und her zu laufen und sich mit der Faust vor die Brust zu schlagen und zu wüten; als man aber Sie anmeldete, sagte er mir: ›Geh hinter den Verschlag, sitze da und rühr dich nicht, was du auch hörst!‹ Und er brachte mir auch einen Stuhl hin und schloß mich ein; ›vielleicht werde ich dich noch brauchen‹, sagte er mir. Als man aber den Nikolai brachte, ließ er mich gleich nach Ihnen heraus und sagte: ›Ich werde dich noch mal vorladen und werde dich noch verhören ...‹«

»Hat er den Nikolai in deinem Beisein verhört?«

»Gleich nachdem er Sie herausließ, ließ er auch mich heraus und fing den Nikolai zu verhören an.«

Der Kleinbürger hielt inne und verbeugte sich plötzlich wieder, wobei er mit dem Finger den Boden berührte.

»Verzeihen Sie mir die Verleumdung und die Bosheit.«

»Gott wird's verzeihen.«

Kaum hatte er das gesagt, verneigte sich der Kleinbürger wieder tief, doch diesmal nicht bis zur Erde; dann wandte er sich langsam um und verließ das Zimmer.

– Alles hat zwei Enden, jetzt hat alles zwei Enden! – wiederholte Raskolnikow vor sich hin und ging aus dem Zimmer, rüstiger denn je. – Jetzt wollen wir noch kämpfen! – sagte er sich mit boshaftem Lächeln, als er die Treppe hinunterging. Sein Ärger richtete sich gegen ihn selbst; mit Verachtung und Beschämung erinnerte er sich seiner »Kleinmütigkeit«.

Fünfter Teil

I

Der Morgen, der auf die für Pjotr Petrowitsch verhängnisvolle Aussprache mit Dunjetschka und Pulcheria Alexandrowna folgte, wirkte auch auf ihn erschütternd. Zu seinem größten Leidwesen war er gezwungen, das, was ihm noch gestern als ein, wenn auch sich tatsächlich abgespielt habendes, doch beinahe phantastisches und unmögliches Ereignis erschienen war, als eine vollzogene und unwiderrufliche Tatsache anzusehen. Die schwarze Schlange der gekränkten Eitelkeit nagte die ganze Nacht an seinem Herzen. Gleich nachdem er aufgestanden war, blickte er in den Spiegel. Er fürchtete, daß ihm in der Nacht die Galle übergelaufen sei. Aber in dieser Hinsicht war vorläufig alles in Ordnung, und nachdem Pjotr Petrowitsch sein edles, weißes, in der letzten Zeit etwas verfettetes Antlitz betrachtet hatte, fand er für einen Augenblick Trost in der vollen Überzeugung, irgendwo eine andere Braut, vielleicht sogar eine bessere, finden zu können; aber er ließ diesen Gedanken sofort fallen und spuckte energisch auf die Seite, wodurch er ein stummes, doch sarkastisches Lächeln bei seinem jungen Freunde und Zimmergenossen Andrej Ssemjonowitsch Lebesjatnikow weckte. Pjotr Petrowitsch bemerkte dieses Lächeln und kreidete es sofort seinem jungen Freunde an. In der letzten Zeit hatte er ihm schon recht viel angekreidet. Seine Wut verdoppelte sich, als er plötzlich einsah, daß er Andrej Ssemjonowitsch eigentlich nichts über seine gestrigen Erfolge hätte mitzuteilen brauchen. Das war der zweite Fehler, den er gestern in der Erregung und Gereiztheit, aus übermäßiger Expansivität begangen hatte. Diesen ganzen Morgen folgte wie absichtlich eine Unannehmlichkeit auf die andere. Selbst im Senat erwartete ihn ein Mißerfolg in einer Sache, um die er sich bemühte. Besonders hatte ihn der Wirt der Wohnung gereizt, die er angesichts der baldigen Heirat gemietet hatte und auf eigene Rechnung instandsetzen ließ. Dieser Wirt, ein reichgewordener deutscher Handwerker, wollte um keinen Preis von dem soeben abgeschlossenen Vertrag zurücktreten und verlangte die Bezahlung der im Vertrage vorgesehenen Entschädigung, obwohl Pjotr Petrowitsch ihm die Wohnung beinahe ganz neu instandgesetzt zurückgab. Ebenso wollte man auch im Möbelgeschäft keinen einzigen Rubel von der Anzahlung für die bereits gekauften, aber noch nicht in die Wohnung geschafften Möbel zurückzahlen.