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»Andrej Ssemjonowitsch! Ich habe mich in Ihnen getäuscht! Sie allein treten für sie ein! Gott selbst hat Sie uns gesandt, Andrej Ssemjonowitsch, Liebster, Väterchen!«

Und Katerina Iwanowna sank, fast ohne zu wissen, was sie tat, vor ihm in die Knie.

»Unsinn!« brüllte Luschin, rasend vor Wut. »Sie reden Unsinn, mein Herr ... ›Ich habe es vergessen, habe mich daran erinnert, habe es wieder vergessen‹ – was soll das heißen? Ich habe ihr also den Schein absichtlich zugesteckt? Warum? Zu welchem Zweck? Was habe ich gemein mit dieser ...«

»Warum? Das verstehe ich auch selbst nicht, aber daß ich nur Tatsachen erzähle, das ist wahr! Ich irre mich so wenig, Sie gemeiner, verbrecherischer Mensch, daß ich mich noch gut erinnere, wie mir damals diese Frage sofort in den Sinn kam, gerade in dem Moment, als ich Ihnen dankte und die Hand drückte. Warum Sie ihr das Geld heimlich in die Tasche gesteckt haben? Warum gerade heimlich? Vielleicht nur aus dem Grunde, weil Sie es vor mir verheimlichen wollten, da Sie wußten, daß ich entgegengesetzter Überzeugung bin und die private Wohltätigkeit, die nichts radikal heilt, ablehne! Ja, ich dachte mir, daß Sie sich vielleicht vor mir wirklich genierten, eine so große Summe zu schenken; außerdem dachte ich mir, daß Sie ihr eine freudige Überraschung bereiten, sie in Erstaunen setzen wollten, wenn sie in ihrer Tasche die hundert Rubel findet. (Denn manche Wohltäter lieben es sehr, ihre Wohltaten auf diese Weise auszuschmücken, ich weiß es.) Dann kam es mir auch vor, als wollten Sie sie prüfen, das heißt, ob sie, wenn sie das Geld findet, zu Ihnen kommt, um sich zu bedanken! Dann dachte ich mir auch, daß Sie keinen Dank wünschten, daß, wie man sagt, die rechte Hand nicht wisse ... mit einem Wort, irgendwie so ... Nun, es kamen mir nicht wenig Gedanken in den Sinn, so daß ich mir vornahm, mir später alles zu überlegen; aber ich hielt es doch für unpassend, Ihnen zu zeigen, daß ich das Geheimnis kenne. Doch kam mir gleich auch diese Frage in den Sinn: Ssofja Ssemjonowna könnte das Geld verlieren, noch ehe sie es bemerkt hätte; darum entschloß ich mich, herzukommen, sie herauszurufen und ihr mitzuteilen, daß man ihr hundert Rubel in die Tasche gesteckt habe. Unterwegs ging ich noch ins Zimmer der Damen Kobyljatnikow, um ihnen die ›Allgemeine Deduktion der positiven Methode‹ zu bringen und besonders den Aufsatz von Piderit (übrigens auch den von Wagner) zu empfehlen; dann kam ich her und erlebte hier diese Geschichte! Konnte ich denn alle diese Gedanken gehabt und alle diese Erwägungen angestellt haben, wenn ich nicht tatsächlich gesehen hätte, daß Sie ihr hundert Rubel in die Tasche gesteckt haben?«

Als Andrej Ssemjonowitsch mit seinem wortreichen Vortrag, der zu einem so logischen Schlusse führte, fertig war, war er furchtbar ermüdet, und der Schweiß rann ihm von der Stirn. Ach, er konnte nicht einmal ordentlich Russisch sprechen (obwohl er auch keine andere Sprache kannte), so daß er mit einem Male vollständig erschöpft war und nach dieser Advokatentat sogar magerer geworden zu sein schien. Nichtsdestoweniger hatte seine Rede einen außerordentlichen Eindruck gemacht. Er sprach mit solchem Feuer, mit solcher Überzeugung, daß ihm anscheinend alle glaubten. Pjotr Petrowitsch fühlte, daß seine Sache schlecht stand.

»Was geht es mich an, daß Ihnen diese dummen Fragen in den Sinn gekommen sind!« rief er aus. »Das ist kein Beweis! Sie konnten dies alles im Traume zusammenphantasiert haben, das ist alles! Ich sage Ihnen aber, daß Sie lügen, mein Herr! Sie lügen und verleumden mich aus Bosheit, und zwar aus Arger, daß ich auf Ihre freigeistigen und gottlosen sozialen Vorschläge nicht eingehen wollte, das ist es!«

Diese Ausrede half aber Pjotr Petrowitsch nichts. Im Gegenteil, von allen Seiten ertönte ein Murren.

»Ach so, du kommst jetzt damit!« rief Lebesjatnikow. »Du lügst! Ruf die Polizei her, ich aber werde es beschwören! Nur das eine verstehe ich nicht: warum hat er eine solche Gemeinheit riskiert! Oh, elender, gemeiner Mensch!«

»Ich kann erklären, warum er es riskiert hat, und will, wenn es nötig ist, selbst einen Eid schwören!« sagte endlich Raskolnikow mit fester Stimme und trat vor.

Er schien fest und ruhig. Allen wurde es bei seinem Anblicke irgendwie klar, daß er wirklich wußte, um was es sich handelte, und daß eine Lösung bevorstand.

»Jetzt ist mir alles vollkommen klar«, fuhr Raskolnikow fort, sich direkt an Lebesjatnikow wendend. »Gleich zu Beginn dieser Geschichte schöpfte ich Verdacht, daß irgendeine Gemeinheit dahinter stecke; ich schöpfte diesen Verdacht infolge gewisser besonderer Umstände, die nur mir allein bekannt sind und die ich sofort allen erklären werde: um sie dreht sich alles. Und Sie, Andrej Ssemjonowitsch, haben mir durch Ihre wertvolle Aussage alles endgültig erklärt. Ich bitte alle, alle, zuzuhören. Dieser Herr (er zeigte auf Luschin) hat vor kurzem um die Hand eines jungen Mädchens angehalten, nämlich meiner Schwester Awdotja Romanowna Raskolnikowa. Aber nach seiner Ankunft in Petersburg hat er sich vorgestern, bei unserer ersten Zusammenkunft, mit mir gezankt, und ich warf ihn hinaus, wofür ich zwei Zeugen habe. Dieser Mensch ist sehr boshaft ... Vorgestern wußte ich noch nicht, daß er hier bei Ihnen, Andrej Ssemjonowitsch, wohnt und daß er folglich am gleichen Tage, an dem wir uns gezankt haben, das heißt vorgestern, Zeuge davon war, wie ich als Freund des verstorbenen Herrn Marmeladow, seiner Gattin Katerina Iwanowna etwas Geld für die Beerdigung gab. Er schrieb sofort meiner Mutter einen Brief und teilte ihr mit, daß ich das ganze Geld nicht Katerina Iwanowna, sondern Ssofja Ssemjonowna gegeben hätte, wobei er in den gemeinsten Ausdrücken über ... über den Charakter Ssofja Ssemjonownas sprach, das heißt auf die Art meiner Beziehungen zu Ssofja Ssemjonowna anspielte. Dies machte er alles, wie Sie sich wohl denken können, in der Absicht, mich mit meiner Mutter und Schwester zu entzweien, indem er ihnen einredete, daß ich das letzte Geld, mit dem sie mich unterstützten, zu gemeinen Zwecken verschwendete. Gestern abend hatte ich in Gegenwart meiner Mutter und Schwester und in seinem Beisein die Wahrheit festgestellt und bewiesen, daß ich das Geld Katerina Iwanowna für die Beerdigung und nicht Ssofja Ssemjonowna eingehändigt hatte, daß ich mit Ssofja Ssemjonowna vorgestern noch gar nicht bekannt war und sie noch nie gesehen hatte. Bei dieser Gelegenheit fügte ich hinzu, daß Pjotr Petrowitsch Luschin mit allen seinen Vorzügen nicht den kleinen Finger Ssofja Ssemjonownas, über die er sich so schlecht geäußert hatte, wert sei. Auf seine Frage, ob ich Ssofja Ssemjonowna neben meine Schwester hinsetzen würde, antwortete ich, daß ich dies am gleichen Tage schon getan hätte. Er wurde böse, weil meine Mutter und Schwester trotz seiner Verleumdungen sich mit mir nicht entzweien wollten, und fing an, ihnen unverzeihliche Grobheiten zu sagen. Es kam zu einem endgültigen Bruch, und man jagte ihn aus dem Hause. Dies alles hat sich gestern abend abgespielt. Jetzt bitte ich Sie um besondere Aufmerksamkeit: Denken Sie sich den Fall, es wäre ihm wirklich gelungen, zu beweisen, daß Ssofja Ssemjonowna eine Diebin sei; damit hätte er meiner Mutter und Schwester gezeigt, daß er mit seinen Verdächtigungen recht gehabt habe; daß er mit Recht böse geworden sei, als ich meine Schwester und Ssofja Ssemjonowna auf die gleiche Stufe stellte; daß er also, indem er mich angriff, die Ehre meiner Schwester und seiner Braut verteidigte und schützte. Mit einem Wort, auf diese Weise konnte er mich mit meinen Angehörigen entzweien und durfte hoffen, dadurch wieder zu Gnaden zu kommen. Ich spreche schon gar nicht davon, daß er auch an mir persönlich Rache nahm, da er Grund zur Annahme hat, daß die Ehre und das Glück Ssofja Ssemjonownas mir sehr teuer sind. Das ist seine ganze Berechnung. So fasse ich die Sache auf. Das ist der ganze Grund, einen anderen kann es gar nicht geben!«

So oder ähnlich schloß Raskolnikow seine Rede, oft durch die Zwischenrufe der Anwesenden unterbrochen, welche übrigens recht aufmerksam zuhörten. Trotz dieser Unterbrechungen sprach er aber scharf, ruhig, genau, klar und fest. Seine scharfe Stimme, sein überzeugter Ton und sein strenges Gesicht machten auf alle einen außerordentlichen Eindruck.