Выбрать главу

»Ja, so, so ist es!« bestätigte Lebesjatnikow begeistert. »So muß es gewesen sein, denn er fragte mich, sobald Ssofja Ssemjonowna zu uns ins Zimmer getreten war, ob Sie da seien und ob ich Sie unter den Gästen Katerina Iwanownas gesehen hätte. Er rief mich zu diesem Zweck zum Fenster und fragte mich leise. Also legte er wohl Wert darauf, daß Sie da seien! Es ist so, es ist so, alles ist so!«

Luschin schwieg und lächelte verächtlich. Übrigens war er sehr blaß. Er schien zu überlegen, wie er sich aus der Klemme ziehen könnte. Vielleicht hätte er gern alles im Stich gelassen und wäre weggegangen, aber in diesem Moment war es fast unmöglich; dies hieße, die Richtigkeit der gegen ihn vorgebrachten Beschuldigungen anzuerkennen und zu gestehen, daß er Ssofja Ssemjonowna wirklich verleumdet hatte. Außerdem war das Publikum, das schon ohnehin etwas angetrunken war, allzu aufgeregt. Der Proviantbeamte, der übrigens nicht alles verstand, schrie mehr als alle und schlug gewisse für Luschin recht unangenehme Maßregeln vor. Manche waren aber nicht betrunken; aus allen Zimmern kamen Leute herbei. Alle drei Polen regten sich furchtbar auf, schrien in einem fort: »Der Pan ist ein Schuft!« und murmelten noch allerlei Drohungen auf polnisch. Ssonja hörte gespannt zu, schien aber nicht alles zu verstehen, als erwache sie aus einer Ohnmacht. Sie wandte nur ihre Augen nicht von Raskolnikow, da sie fühlte, daß er ihr einziger Schutz war. Katerina Iwanowna atmete schwer und heiser und schien furchtbar erschöpft. Am dümmsten stand Amalia Iwanowna da, mit offenem Munde, ohne etwas zu verstehen. Sie sah nur, daß Pjotr Petrowitsch irgendwie hereingefallen war. Raskolnikow bat wieder ums Wort, man ließ ihn aber nicht zu Ende sprechen: alle schrien und drängten sich um Luschin mit Schimpfworten und Drohungen. Aber Pjotr Petrowitsch wurde nicht bange. Als er sah, daß die Sache mit der Beschuldigung Ssonjas unrettbar verloren war, wurde er einfach frech:

»Erlauben Sie, meine Herrschaften, erlauben Sie, drängen Sie sich nicht, lassen Sie mich durchgehen!« sagte er, indem er sich einen Weg durch die Menge bahnte. »Und tun Sie mir den Gefallen, drohen Sie nicht. Ich versichere Ihnen, daraus wird nichts, Sie werden nichts erreichen, ich gehöre nicht zu den Feigen, im Gegenteil, meine Herrschaften, Sie werden es noch zu verantworten haben, daß Sie eine Kriminalsache gewaltsam vertuscht haben. Die Diebin ist mehr als überführt, und ich werde sie belangen. Und vor Gericht ist man nicht so blind und ... nicht betrunken, und wird nicht zwei abgefeimten Atheisten, Aufrührern und Freigeistern glauben, die mich aus persönlicher Rachsucht beschuldigen, was sie in ihrer Dummheit auch selbst zugeben ... Ja, erlauben Sie doch!«

»Räumen Sie sofort mein Zimmer! Wollen Sie sofort ausziehen, und zwischen uns ist alles aus! Wenn ich bloß bedenke, wie ich mich bemühte, wie ich ihm alles erklärte ... ganze zwei Wochen! ...«

»Ich habe Ihnen auch selbst vorhin gesagt, Andrej Ssemjonowitsch, als Sie mich zurückzuhalten versuchten, daß ich ausziehe; jetzt füge ich dem noch hinzu, daß Sie ein Dummkopf sind. Ich wünsche Ihnen eine Gesundung Ihres Verstandes und Ihrer blinden Augen. Erlauben Sie doch, meine Herrschaften!«

Er drängte sich durch; aber der Proviantbeamte wollte ihn nicht so einfach, bloß mit Schimpfworten beladen, abziehen lassen; er nahm ein Glas vom Tisch, holte aus und schleuderte es gegen Pjotr Petrowitsch; aber das Glas flog direkt auf Amalia Iwanowna. Sie kreischte auf, aber der Proviantbeamte verlor, als er zum Wurfe ausholte, das Gleichgewicht und fiel schwer unter den Tisch. Pjotr Petrowitsch begab sich auf sein Zimmer, und nach einer halben Stunde war er nicht mehr im Hause. Sjonja, die von Natur schüchtern war, wußte es schon früher, daß man sie leichter als jeden anderen Menschen zugrunderichten konnte und daß sie jeder fast straflos beleidigen durfte. Und doch hatte sie bis zu diesem Augenblick geglaubt, daß sie jedem Unheil durch Vorsicht, Sanftmut und Demut vor jedem Menschen entgehen könnte. Ihre Enttäuschung war darum allzu schwer. Sie konnte natürlich mit Geduld und fast ohne zu murren alles, selbst dieses ertragen. Aber im ersten Augenblick war es ihr doch zu schwer. Trotz ihres Triumphes und ihrer Rechtfertigung, – als der erste Schreck und die erste Erstarrung vorüber waren, als sie alles klar erkannt und begriffen hatte, krampfte sich ihr Herz vor Hilflosigkeit und Kränkung schmerzhaft zusammen. Sie bekam einen hysterischen Anfall. Schließlich hielt sie es nicht aus, stürzte aus dem Zimmer und rannte nach Hause. Dies geschah, gleich nachdem Luschin fortgegangen war. Als das Glas unter dem lauten Lachen der Anwesenden Amalia Iwanowna traf, wurde es ihr doch zu bunt. Wie wahnsinnig kreischend, stürzte sie auf Katerina Iwanowna zu, der sie die Schuld an allem zuschob.

»Hinaus aus der Wohnung! Sofort! Marsch!«

Mit diesen Worten fing sie an, alle Sachen Katerina Iwanownas, die ihr unter die Hände kamen, auf den Boden zu werfen. Katerina Iwanowna, schon ohnehin halbtot, beinahe ohnmächtig und blaß, sprang vom Bette auf (auf das sie in ihrer Erschöpfung hingesunken war) und fiel über Amalia Iwanowna her. Der Kampf war aber zu ungleich; jene stieß sie wie eine leichte Feder von sich.

»Wie! Nicht genug, daß man uns gottlos verleumdet hat, geht diese Kreatur auch noch gegen mich los! Wie! Am Tage der Beerdigung meines Mannes jagt man mich zum Dank für die genossene Gastfreundschaft mit den Waisen aus dem Hause! Wo soll ich denn hingehen?!« schrie keuchend und schluchzend die arme Frau. »Gott!« schrie sie plötzlich mit brennenden Augen: »Gibt es denn keine Gerechtigkeit? Wen willst du denn schützen, wenn nicht uns Waisen? Nun, wir wollen es sehen! Es gibt Recht und Wahrheit in der Welt, ich werde sie finden! Gleich, wart, du gottlose Kreatur! Poljetschka, bleib du bei den Kindern, ich komme gleich zurück. Wartet auf mich, meinetwegen auf der Straße! Wir wollen sehen, ob es Gerechtigkeit in der Welt gibt! ...«

Und Katerina Iwanowna warf sich dasselbe grüne Tuch, das der verstorbene Marmeladow in seiner Erzählung erwähnt hatte, über den Kopf, drängte sich durch den unordentlichen Haufen betrunkener Mieter, die noch immer im Zimmer herumstanden, und lief weinend und schluchzend auf die Straße – mit der unbestimmten Absicht, gleich, auf der Stelle irgendwo Gerechtigkeit zu finden. Poljetschka drückte sich voller Angst mit den Kindern in die Ecke, setzte sich, die beiden Kleinsten umschlingend, auf den Koffer und fing an, am ganzen Leibe zitternd, auf die Rückkehr der Mutter zu warten. Amalia Iwanowna rannte hin und her, kreischte, lamentierte, warf alles, was ihr unter die Hände kam, auf den Boden und gebärdete sich wie rasend. Die Mieter schrien durcheinander – die einen besprachen noch, soweit sie es noch konnten, das Geschehene, die anderen zankten sich und fluchten, andere wieder stimmten Lieder an ...

– Jetzt ist auch für mich Zeit! – dachte Raskolnikow. – Nun, Ssofja Ssemjonowna, wir wollen mal sehen, was Sie jetzt sagen werden! –

Und er ging zu Ssonja in die Wohnung.

IV

Raskolnikow war ein mutiger und eifriger Advokat Ssonjas gegen Luschin, obwohl er selbst so viel eigenes Leid und Grauen in der Seele trug. Da er aber am Morgen so viel gelitten hatte, war er beinahe froh, seine Eindrücke, die ihm unerträglich geworden waren, zu ändern, schon ganz abgesehen davon, wie viel Persönliches und Herzliches in seinem Streben, für Ssonja einzutreten, lag. Außerdem stand ihm noch die Zusammenkunft mit Ssonja bevor, und dieser Gedanke beunruhigte ihn in manchen Augenblicken schwer: er mußte ihr sagen, wer Lisaweta ermordet hatte, er sah die schreckliche Qual voraus und wehrte sie von sich gleichsam mit beiden Händen ab. Als er beim Verlassen der Wohnung Katerina Iwanownas ausrief: »Nun, was werden Sie jetzt sagen, Ssofja Ssemjonowna?«, befand er sich noch in einem äußerlich erregten Zustande von Mut, Kampflust, unter dem Eindrucke des eben über Luschin errungenen Sieges. Aber es kam so seltsam. Als er die Wohnung Kapernaumows erreichte, fühlte er plötzlich Ohnmacht und Angst. Nachdenklich blieb er vor der Tür stehen: »Soll ich sagen, wer Lisaweta ermordet hat?« Die Frage war sonderbar, weil er im gleichen Augenblick plötzlich fühlte, daß es ihm unmöglich war, nicht nur zu schweigen, sondern auch diesen Augenblick noch für eine kurze Weile hinauszuschieben. Er wußte noch nicht, warum es unmöglich war: er fühlte es nur, und dieses qualvolle Bewußtsein seiner Ohnmacht der Notwendigkeit gegenüber erdrückte ihn fast. Um nicht länger zu denken und sich zu quälen, machte er die Tür schnell auf und blickte von der Schwelle auf Ssonja. Sie saß, auf das Tischchen gestützt, und hielt das Gesicht mit den Händen bedeckt; als sie aber Raskolnikow sah, stand sie schnell auf und ging ihm entgegen, als hätte sie ihn erwartet.