Выбрать главу

Vielleicht hatte er sich diese Frage wirklich vor einer Viertelstunde vorgelegt, jetzt sagte er es aber in voller Ohnmacht, kaum sich selber bewußt und am ganzen Körper zitternd.

»Ach, wie Sie sich quälen!« sagte sie mit Schmerz und sah ihn aufmerksam an.

»Alles ist Unsinn! ... Hör mal, Ssonja (er lächelte plötzlich aus unbekanntem Grunde bleich und kraftlos, es dauerte an die zwei Sekunden), – weißt du noch, was ich dir gestern sagen wollte?«

Ssonja wartete voll Unruhe.

»Ich sagte beim Weggehen, daß ich mich von dir vielleicht für immer verabschiede, aber wenn ich heute käme, so würde ich dir sagen ... wer Lisaweta ermordet hat.«

Sie erbebte plötzlich am ganzen Körper.

»Nun bin ich gekommen, um es dir zu sagen.«

»Sie haben es also gestern im Ernst ...« flüsterte sie mühevoll. – »Woher wissen Sie es denn?« fragte sie plötzlich scheu, als wäre sie zur Besinnung gekommen.

Ssonja fing an, schwer zu atmen. Ihr Gesicht wurde immer blasser und blasser.

»Ich weiß es.«

Sie schwieg eine Weile.

»Hat man ihn vielleicht gefunden?« fragte sie scheu.

»Nein, man hat ihn nicht gefunden.«

»Woher wissen Sie es dann?« fragte sie wieder kaum hörbar und wieder nach einem längeren Schweigen.

Er wandte sich zu ihr um und sah sie sehr aufmerksam an.

»Rate einmal«, sagte er mit seinem früheren verzerrten und ohnmächtigen Lächeln.

Ihr ganzer Körper erzitterte wie im Krampf.

»Sie ... machen ... was machen Sie mir solche Angst?« sagte sie und lächelte wie ein Kind.

»Also bin ich wohl mit ihm gut befreundet ... wenn ich es weiß«, fuhr Raskolnikow fort, ihr immer unverwandt ins Gesicht blickend, als hätte er nicht die Kraft, die Augen von ihr zu wenden. »Er hat diese Lisaweta ... nicht ermorden wollen ... Er hat sie ... zufällig ermordet ... Er wollte die Alte ermorden ... als sie allein war ... und war gekommen ... Da trat aber Lisaweta ein ... Und da ermordete er sie.«

Es verging wieder eine schreckliche Minute. Sie sahen einander noch immer an.

»Du kannst es also nicht erraten?« fragte er plötzlich mit einem Gefühl, als stürzte er sich von einem Glockenturm hinab.

»N-nein«, flüsterte Ssonja kaum hörbar.

»Sieh mal mich ordentlich an.«

Und kaum hatte er das gesagt, als eine ihm schon bekannte frühere Empfindung sein Herz erstarren ließ: er sah sie an und glaubte plötzlich in ihrem Gesicht das Gesicht Lisawetas zu erkennen. Er hatte sich Lisawetas Gesichtsausdruck so grell eingeprägt, als er damals mit dem Beil auf sie losging und sie vor ihm zur Wand zurückwich, die Hand vorgestreckt, mit einer völlig kindlichen Angst im Gesicht, ganz wie ein kleines Kind, das plötzlich vor etwas erschrickt, unbeweglich und unruhig den ihn erschreckenden Gegenstand anstarrt, dann zurückweicht, das Händchen vorstreckt und sich anschickt, zu weinen. Fast dasselbe war jetzt mit Ssonja; ebenso kraftlos, mit dem gleichen Schrecken sah sie ihn eine Weile an, streckte plötzlich die linke Hand vor, stieß ihn ganz leicht mit den Fingern vor die Brust und fing an, sich langsam vom Bette zu erheben, immer mehr und mehr zurückweichend, während ihr Blick immer starrer wurde. Ihr Entsetzen teilte sich gleichsam auch ihm mit: auch sein Gesicht zeigte die gleiche Angst, er begann sie ebenso anzusehen, fast mit demselben kindlichen Lächeln.

»Hast du es erraten?« flüsterte er plötzlich.

»O Gott!« entrang sich ein furchtbarer Schrei ihrer Brust.

Kraftlos fiel sie aufs Bett, mit dem Gesicht auf das Kissen. Doch nach einem Augenblick erhob sie sich wieder, rückte schnell zu ihm heran, ergriff seine beiden Hände, preßte sie wie in einem Schraubstock mit ihren feinen Fingern zusammen und begann ihm wieder unbeweglich und unverwandt ins Gesicht zu schauen. Mit diesem letzten verzweifelten Blick wollte sie die leiseste, letzte Hoffnung für sich entdecken und erspähen. Aber es war keine Hoffnung; es blieb auch kein Zweifeclass="underline" alles war so! Sogar viel später, wenn sie sich auf diesen Augenblick besann, kam es ihr so seltsam und sonderbar vor: warum hatte sie damals sofort erkannt, daß es keine Zweifel mehr gab? Sie konnte doch nicht sagen, daß sie etwas dergleichen zum Beispiel vorausgeahnt hätte! Und doch kam es ihr jetzt, wo er es ihr gesagt hatte, vor, als hätte sie gerade das vorausgeahnt.

»Genug, Ssonja, genug! Quäle mich nicht!« bat er mit schmerzlichem Ausdruck.

Er hatte es ihr ganz, ganz anders enthüllen wollen, aber es war doch so gekommen.

Wie außer sich, sprang sie auf und ging händeringend bis zur Mitte des Zimmers; doch sie kam schnell zurück und setzte sich wieder neben ihn, so daß sie mit ihrer Schulter beinahe die seinige berührte. Plötzlich fuhr sie, wie von einem Pfeile durchbohrt, zusammen und stürzte, ohne selbst zu wissen, warum, vor ihm in die Knie.

»Was, was haben Sie mit sich getan!« sagte sie verzweifelt.

Sie stand von den Knien auf, fiel ihm um den Hals, umschlang ihn und preßte ihn fest zusammen.

Raskolnikow rückte weg und sah sie mit traurigem Lächeln an.

»Wie sonderbar bist du, Ssonja – du umarmst und küßt mich, nachdem ich dir das gesagt habe! Du weißt selbst nicht, was du tust.«

»Niemand, niemand ist jetzt unglücklicher als du in der ganzen Welt!« rief sie wie rasend aus, ohne seine Bemerkung gehört zu haben, und brach plötzlich in lautes, hysterisches Weinen aus.

Ein ihm schon seit langem unbekanntes Gefühl überströmte mit einem Male seine Seele und machte sie erweichen. Er widerstrebte ihm nicht: zwei Tränen rollten ihm aus den Augen und blieben an seinen Wimpern hängen.

»So wirst du mich nicht verlassen, Ssonja?« fragte er, sie fast mit Hoffnung anblickend.

»Nein, nein! Niemals und nirgends!« rief Ssonja aus. »Ich gehe mit dir, ich folge dir überallhin! O Gott! ... Ach, ich Unglückliche! Warum, warum habe ich dich bisher nicht gekannt! Warum bist du nicht früher gekommen? O Gott!«

»Nun bin ich gekommen.«

»Jetzt erst! Ach, was soll man jetzt tun! ... Zusammen, zusammen!« wiederholte sie wie bewußtlos und umarmte ihn von neuem. »Ich gehe mit dir nach Sibirien!«

Er zuckte plötzlich zusammen, sein früheres gehässiges und fast hochmütiges Lächeln zeigte sich wieder auf seinen Lippen.

»Vielleicht will ich noch gar nicht nach Sibirien, Ssonja!« sagte er.

Ssonja warf ihm einen schnellen Blick zu.

Nach dem ersten leidenschaftlichen und qualvollen Ausbruch von Mitgefühl für den Unglücklichen wurde sie wieder von dem schrecklichen Gedanken an den Mord erschüttert. Im veränderten Ton seiner Worte erkannte sie den Mörder. Sie sah ihn mit Erstaunen an. Es war ihr noch nichts bekannt: weder warum, noch wie, noch wozu er es getan hatte. Alle diese Fragen tauchten mit einemmal in ihrem Bewußtsein auf. Und sie glaubte es wieder nicht. – Er, er soll ein Mörder sein? Ist es denn möglich?

»Was ist denn das? Wo bin ich denn?« sagte sie in tiefem Erstaunen, als wäre sie noch nicht zu sich gekommen. »Wie konnten Sie, Sie, solch ein Mensch, sich zu so was entschließen?!«

»Na ja, um zu rauben. Hör auf, Ssonja!« antwortete er müde und fast ärgerlich.

Ssonja stand wie niedergeschmettert da, rief aber plötzlich aus:

»Du warst hungrig! Du ... um deiner Mutter zu helfen? Ja? ...«

»Nein, Ssonja, nein«, stammelte er abgewandt und mit gesenktem Kopf. »Ich war gar nicht so hungrig ... ich wollte wirklich der Mutter helfen, aber ... auch das ist nicht ganz richtig ... quäle mich nicht, Ssonja.«

Ssonja schlug die Hände zusammen.

»Ist es denn wirklich, wirklich wahr? Mein Gott, was ist das für eine Wahrheit? Wer kann es glauben? ... Wie können Sie selbst das Letzte hergeben, wo Sie gemordet und geraubt haben! Ah! ...« schrie sie plötzlich. »Das Geld, das Sie Katerina Iwanowna gegeben haben ... dieses Geld ... Mein Gott, ist denn auch dieses Geld ...«