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V

Lebesjatnikow sah sehr erregt aus.

»Ich komme zu Ihnen, Ssofja Ssemjonowna. Entschuldigen Sie ... Das dachte ich mir, daß ich Sie hier treffe«, wandte er sich plötzlich an Raskolnikow. »Das heißt, ich dachte mir eigentlich nichts ... Derartiges ... aber ich glaubte gerade ... Dort bei uns ist Katerina Iwanowna verrückt geworden«, wandte er sich unvermittelt wieder an Ssonja, ohne den an Raskolnikow gerichteten Satz zu beenden.

Ssonja schrie auf.

»Das heißt, es kommt mir wenigstens so vor. Übrigens ... Wir wissen gar nicht, was wir tun sollen, das ist es! Sie kam zurück – man hat sie, scheint es, irgendwo hinausgeworfen, vielleicht auch geschlagen ... es scheint wenigstens so ... Sie war zum Vorgesetzten Ssemjon Sacharowitschs gelaufen und hatte ihn nicht zu Hause getroffen; er war bei einem anderen Geheimrat zu Mittag geladen ... Und denken Sie sich nur: sie lief dann dorthin, wo er geladen war ... zu jenem anderen Geheimrat, und, denken Sie sich nur, sie setzte es durch, daß der Vorgesetzte Ssemjon Sacharowitschs zu ihr herauskam, ich glaube sogar von der Tafel ... Sie können sich denken, was da kam. Man warf sie natürlich hinaus; und sie erzählt, daß sie ihn selbst beschimpft und ihm sogar etwas ins Gesicht geworfen habe. Das klingt sehr wahrscheinlich ... Daß man sie nicht festgenommen hat, verstehe ich einfach nicht! Jetzt erzählt sie es allen, auch der Amalia Iwanowna, man kann aber schwer etwas verstehen: sie schreit und tobt ... Ach, ja: sie schreit und sagt, daß sie, da alle sie verlassen haben, mit den Kindern und einem Leierkasten auf die Straße ziehen wird: die Kinder werden singen und tanzen, und sie auch, und Geld sammeln und jeden Tag vors Fenster des Geheimrats gehen ... ›Sollen nur alle sehen,‹ sagt sie, ›wie die adligen Kinder eines beamteten Vaters als Bettler durch die Straße ziehen!‹ Sie schlägt alle Kinder, und die Kinder weinen. Die Lenja lehrt sie singen, den Jungen tanzen, Polina Michailowna ebenfalls; sie zerreißt alle Kleider und näht ihnen Mützchen, wie sie die Komödianten haben; und sie selbst will ein Becken tragen und darauf schlagen, statt Musik ... Sie will auf nichts hören ... Denken Sie sich nur, was soll daraus werden? Es geht doch einfach nicht!«

Lebesjatnikow hätte noch mehr gesprochen, aber Ssonja, die ihm, kaum noch atmend, zugehört hatte, ergriff plötzlich ihre Mantille, den Hut und lief aus dem Zimmer, sich im Laufen ankleidend. Raskolnikow folgte ihr, Lebesjatnikow verließ zugleich mit ihm das Zimmer.

»Sie ist ganz gewiß verrückt geworden!« sagte er zu Raskolnikow, mit ihm auf die Straße tretend. »Ich wollte bloß Ssofja Ssemjonowna nicht erschrecken und sagte darum, ›es kommt mir so vor‹; aber es ist gar kein Zweifel möglich. Man sagt, daß bei der Schwindsucht im Gehirn solche Bläschen entstehen. Schade, daß ich nichts von Medizin verstehe. Ich versuchte sie übrigens zu überreden, aber sie will nichts hören.«

»Haben Sie ihr von diesen Bläschen erzählt?«

»Das heißt, eigentlich nicht von den Bläschen. Auch würde sie nichts verstanden haben! Ich meine aber: Wenn man einen Menschen mit logischen Gründen davon überzeugt, daß er eigentlich keinen Grund zum Weinen hat, so hört er zu weinen auf. Das ist klar. Und Sie sind der Ansicht, daß er nicht aufhören wird?«

»Dann wäre das Leben viel zu leicht«, antwortete Raskolnikow.

»Erlauben Sie, erlauben Sie! Katerina Iwanowna könnte es natürlich schwer verstehen. Aber ist Ihnen bekannt, daß man in Paris schon ernsthaft versucht hat, Verrückte durch bloße logische Überredung zu heilen? Ein dortiger Professor, der vor kurzem gestorben ist, ein bekannter Gelehrter, ist zur Überzeugung gelangt, daß man sie auf diese Weise heilen kann. Seine Grundidee ist, daß bei Verrückten eine besondere Störung im Organismus nicht vorliegt und daß der Wahnsinn sozusagen ein logischer Irrtum ist, ein Denkfehler, eine falsche Anschauung von den Dingen. Er hat so einen Patienten allmählich widerlegt, und denken Sie sich, er soll Erfolge erzielt haben!! Da er aber dabei auch noch Duschen anwandte, so werden die Erfolge dieses Heilverfahrens natürlich noch angezweifelt ... So glaube ich wenigstens ...«

Raskolnikow hörte ihm schon lange nicht mehr zu. Als er sein Haus erreicht hatte, nickte er Lebesjatnikow zu und trat ins Tor. Lebesjatnikow kam zur Besinnung, sah sich um und lief weiter.

Raskolnikow trat in seine Kammer und blieb mitten in ihr stehen. – Warum bin ich nur hierher zurückgekehrt? – Er betrachtete die gelbe abgewetzte Tapete, den Staub, sein Sofa ... Vom Hofe her klang ein ununterbrochenes metallisches Klopfen, als ob man irgendwo einen Nagel hineinjagte ... Er trat ans Fenster, reckte sich auf den Zehen und blickte lange mit dem Ausdrucke außerordentlicher Aufmerksamkeit in den Hof hinaus. Der Hof war aber leer, und man sah die Klopfenden nicht. Im Seitengebäude links war hier und da ein Fenster offen; auf den Fensterbrettern standen Töpfe mit verkümmerten Geranien, und vor den Fenstern hing Wäsche ... Dies alles kannte er auswendig. Er wandte sich weg und setzte sich aufs Sofa.

Noch nie, noch nie hatte er sich so furchtbar einsam gefühlt!

Ja, er fühlte wieder, daß er Ssonja vielleicht wirklich hassen werde, und zwar gerade jetzt, wo er sie unglücklicher gemacht hatte.

Warum war er zu ihr gegangen? Um um ihre Tränen zu betteln? Warum muß er unbedingt ihr Leben vergiften?! Ach, diese Gemeinheit!

»Ich bleibe allein,« sagte er plötzlich, »und sie wird nicht zu mir ins Zuchthaus kommen!«

Nach fünf Minuten hob er den Kopf und lächelte eigentümlich. Ein sonderbarer Gedanke war ihm gekommen.

– Vielleicht ist es in Sibirien wirklich besser – kam es ihm plötzlich in den Sinn.

Er wußte nicht mehr, wie lange er in seinem Zimmer mit den unklaren Gedanken, die sich in seinem Kopfe drängten, dagesessen hatte. Plötzlich ging die Tür auf, und herein trat Awdotja Romanowna. Sie blieb zaudernd stehen und sah ihn aufmerksam von der Schwelle her an, so wie er vorhin Ssonja angesehen hatte; erst dann kam sie näher und setzte sich auf ihren gestrigen Stuhl ihm gegenüber. Er sah sie stumm und ganz gedankenlos an.

»Sei nicht böse, Bruder, ich komme nur auf einen Augenblick«, sagte Dunja.

Ihr Gesichtsausdruck war nachdenklich, aber nicht streng. Sie blickte heiter und still. Er sah, daß auch sie mit ihrer Liebe zu ihm gekommen war.

»Bruder, ich weiß jetzt alles, alles. Dmitrij Prokofjewitsch hat mir alles erklärt und erzählt. Man verfolgt und quält dich auf Grund eines dummen, gemeinen Verdachts ... Dmitrij Prokofjewitsch sagte mir, daß gar keine Gefahr vorliegt und daß du dies alles unnütz mit solcher Angst hinnimmst. Ich denke es mir anders und begreife vollkommen, wie tief dein ganzes Wesen empört sein muß und daß diese Empörung in dir für immer ihre Spuren hinterlassen kann. Dies fürchte ich eben. Dafür, daß du uns verlassen hast, verurteile ich dich nicht und wage nicht, dich zu verurteilen; verzeihe mir, daß ich dir dies vorgeworfen habe. Ich fühle auch selbst, daß, wenn ich so ein Leid hätte, auch ich von allen fortgehen würde. Der Mutter werde ich davon nichts erzählen, werde aber ununterbrochen von dir sprechen und ihr in deinem Namen sagen, daß du sehr bald kommen wirst. Quäle dich nicht ihretwegen, ich werde sie beruhigen; aber quäle auch sie nicht und komme wenigstens einmal zu ihr: vergiß nicht, daß sie die Mutter ist! Jetzt komme ich aber nur, um dir zu sagen (Dunja schickte sich an, aufzustehen), daß, im Falle du mich irgendwie brauchst oder ... mein Leben brauchen kannst, oder sonst etwas ... so rufe mich, ich werde kommen. Leb wohl!«

Sie wandte sich schnell und ging zur Tür.

»Dunja!« hielt Raskolnikow sie zurück. Er stand auf und ging auf sie zu. »Dieser Dmitrij Prokofjewitsch Rasumichin ist ein sehr guter Mensch.«

Dunja errötete leicht.

»Nun?« fragte sie nach einer Minute.

»Er ist ein tüchtiger, fleißiger und ehrlicher Mensch und einer großen Liebe fähig ... Leb wohl, Dunja.«