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Dunja wurde ganz rot und fuhr dann auf:

»Was fällt dir ein, Bruder! Trennen wir uns denn wirklich für alle Ewigkeit, daß du mir ... solche Vermächtnisse hinterläßt?«

»Ist ganz gleich ... leb wohl ...«

Er wandte sich von ihr weg und ging zum Fenster. Sie stand noch eine Weile da, sah ihn besorgt an und ging tief erregt hinaus.

Nein, er war nicht kalt zu ihr. Es war ein Augenblick (der allerletzte), wo er furchtbare Lust hatte, sie zu umarmen, sich von ihr zu verabschieden und ihr es sogar zu sagen: er konnte sich aber nicht mal entschließen, ihr die Hand zu reichen.

– Sie wird vielleicht später noch erschauern beim Gedanken, daß ich sie jetzt umarmt habe; sie wird sagen, ich hätte ihr den Kuß gestohlen! –

– Und wird sie es aushalten oder nicht aushalten? – fügte er nach einer Weile hinzu. – Nein, sie wird es nicht aushalten; eine solche kann so was nicht aushalten! Solche halten es niemals aus ... –

Und er dachte an Ssonja.

Vom Fenster wehte Kühle herein. Draußen war es nicht mehr so hell. Er nahm plötzlich die Mütze und ging hinaus.

Er konnte sich um seinen krankhaften Zustand natürlich nicht kümmern und wollte es auch nicht. Doch diese ganze ununterbrochene Unruhe und seelische Angst konnten an ihm nicht spurlos vorübergehen. Und wenn er auch noch nicht in einem wirklichen Fieber daniederlag, so vielleicht nur darum, weil diese ununterbrochene innere Unruhe ihn noch auf den Beinen und bei Bewußtsein erhielt, wenn auch künstlich und vorübergehend.

Er irrte planlos umher. Die Sonne ging unter. In der letzten Zeit überkam ihn oft ein ganz besonderes Unlustgefühl. Es war darin nichts Scharfes oder Brennendes; aber ihm entströmte etwas Ewiges und Bleibendes, die Vorahnung endloser Jahre mit diesem kalten, tötenden Gram, die Vorahnung einer Ewigkeit auf einem »arschinbreiten Raume«. In den Abendstunden quälte ihn dieses Gefühl gewöhnlich besonders stark.

»Und mit diesen dummen, rein physischen Beschwerden, die von irgendeinem Sonnenuntergang abhängen, soll einer keine Dummheiten begehen! Da möchte man nicht bloß zu Ssonja, – auch zu Dunja hingehen!« murmelte er gehässig.

Jemand rief seinen Namen. Er sah sich um, Lebesjatnikow stürzte auf ihn zu.

»Denken Sie sich nur, ich war eben bei Ihnen, ich suche Sie. Denken Sie sich nur: sie hat ihre Absicht verwirklicht und ist mit den Kindern weggelaufen. Ssofja Ssemjonowna und ich haben sie nur mit Mühe gefunden. Sie selbst schlägt auf eine Pfanne und läßt die Kinder tanzen. Die Kinder weinen. Sie bleiben an den Straßenecken und vor den Läden stehen. Das dumme Volk rennt hinter ihnen her. Kommen Sie.«

»Und Ssonja?« fragte Raskolnikow besorgt, Lebesjatnikow nacheilend.

»Sie ist rasend. Das heißt, Katerina Iwanowna ist rasend und nicht Ssofja Ssemjonowna; übrigens ist auch Ssofja Ssemjonowna außer sich. Katerina Iwanowna ist aber ganz rasend. Ich sage Ihnen ja, sie ist endgültig verrückt geworden. Man wird sie alle auf die Polizei abführen. Sie können sich wohl denken, wie das auf sie wirken wird ... Sie sind jetzt am Kanal bei der *schen Brücke, gar nicht weit von Ssofja Ssemjonowna. Es ist ganz nahe.«

Am Kanal, in der Nähe der Brücke und zwei Häuser von der Wohnung Ssonjas entfernt, drängte sich ein Haufe Menschen. Es waren besonders viel Jungen und Mädchen zusammengelaufen. Die heisere, gleichsam gesprungene Stimme Katerina Iwanownas konnte man schon von der Brücke aus hören. Es war ein seltsames Schauspiel, wirklich geeignet, das Straßenpublikum zu interessieren. Katerina Iwanowna in ihrem alten Kleid mit dem grünen Schal und zerbeulten Strohhut, der auf die Seite gerutscht war, befand sich tatsächlich in einem Zustande von Raserei. Sie war müde und keuchte schwer. Das erschöpfte schwindsüchtige Gesicht sah leidender als je aus (außerdem erscheint ein Schwindsüchtiger im Freien, in der Sonne immer leidender und entstellter als im Hause): aber ihr erregter Zustand dauerte an, und sie wurde von Minute zu Minute gereizter. Sie stürzte sich auf die Kinder, schrie sie an, redete ihnen zu, lehrte in Gegenwart des Publikums, wie sie tanzen und was sie singen sollten, versuchte ihnen klarzumachen, warum das nötig sei, geriet in Verzweiflung wegen ihrer Ungelehrigkeit und schlug sie ... Dann brach sie plötzlich ab und stürzte sich gegen das Publikum; sobald sie einen einigermaßen anständig gekleideten Menschen erblickte, der stehen geblieben war, um zuzusehen, begann sie ihm sofort zu erklären, wieso es mit diesen Kindern »aus einem vornehmen, man kann wohl sagen aristokratischen Hause« so weit gekommen sei. Wenn sie in der Menge Lachen oder ein kränkendes Wort hörte, so fiel sie sofort über den Frechen her und begann zu schimpfen. Die einen lachten wirklich, die anderen schüttelten die Köpfe; allen war es interessant, die Verrückte mit den erschrockenen Kindern zu sehen. Die Pfanne, von der Lebesjatnikow erzählt hatte, fehlte; Raskolnikow sah wenigstens keine; doch statt auf einer Pfanne zu trommeln, schlug Katerina Iwanowna den Takt mit ihren ausgemergelten Händen, während Poljetschka singen und Kolja und Lenja tanzen mußten; sie versuchte auch selbst mitzusingen, wurde aber jedesmal bei der zweiten Note von einem heftigen Hustenanfall unterbrochen – dann geriet sie in Verzweiflung, verfluchte ihren Husten und weinte sogar. Am meisten brachten sie das Weinen und die Angst Koljas und Lenjas aus der Fassung. Sie hatte wirklich versucht, die Kinder wie Straßensänger und Sängerinnen auszuputzen. Der Junge hatte einen Turban aus roten und weißen Fetzen auf und sollte einen Türken darstellen. Für Lenja reichte es zu einem Kostüm nicht aus; sie hatte nur eine rote gestrickte Mütze (eigentlich die Schlafmütze) des verstorbenen Ssemjon Sacharytsch auf, an der eine abgebrochene weiße Straußfeder festgesteckt war; diese hatte noch der Großmutter Katerina Iwanownas gehört und war bisher im Koffer als eine Familienrarität verwahrt worden. Poljetschka hatte ihr gewöhnliches Kleid an. Sie sah ihre Mutter scheu und bestürzt an, wich nicht von ihrer Seite, verbarg ihre Tränen, ahnte, daß die Mutter verrückt geworden sei, und blickte unruhig um sich. Die Straße und die Menge machten ihr furchtbar Angst. Ssonja folgte unablässig Katerina Iwanowna, weinte und flehte sie an, nach Hause zurückzukehren. Katerina Iwanowna war aber unerbittlich.

»Hör auf, Ssonja, hör auf!« schrie sie, sich überstürzend, keuchend und hustend. »Du weißt selbst nicht, um was du bittest, du bist wie ein Kind! Ich sagte dir schon, daß ich zu der betrunkenen Deutschen nicht zurückkehre. Sollen alle, soll ganz Petersburg sehen, wie die Kinder eines adligen Vaters, der sein Leben lang treu und redlich gedient hat und sozusagen im Dienste gestorben ist, betteln. (Katerina Iwanowna hatte sich schon diese Phantasie zurechtgelegt und glaubte blind an sie.) Soll es nur dieser gemeine Geheimrat sehen. Wie dumm bist du doch, Ssonja, was sollen wir jetzt essen, sag mal selbst? Wir haben dich genug gequält, ich will nicht mehr! Ach, Rodion Iwanowitsch, Sie sind es!« rief sie plötzlich, als sie Raskolnikow gewahrte, und stürzte auf ihn zu. »Erklären Sie doch, bitte, diesem Närrchen, daß ich nichts Klügeres tun konnte! Sogar die Leierkastenmänner verdienen sich ihren Unterhalt; uns wird man aber sofort bemerken, man wird erkennen, daß wir eine arme, adlige, verwaiste, an den Bettelstab gebrachte Familie sind; der Geheimrat wird aber seine Stelle verlieren, Sie werden es sehen! Wir werden jeden Tag vor seine Fenster kommen, und wenn der Kaiser vorüberfährt, werde ich niederknien, diese alle vor mir hinstellen und auf sie zeigen: ›Schütze sie, Vater!‹ Er ist ja der Vater der Waisen, er ist barmherzig, er wird uns in Schutz nehmen, Sie werden sehen, den Geheimrat aber ... Lenja! Tenez vous droite! Kolja, gleich wirst du tanzen! Was heulst du? Er heult schon wieder! Nun, was fürchtest du, Närrchen? Mein Gott, was soll ich mit ihnen machen, Rodion Romanowitsch? Wenn Sie nur wüßten, wie dumm sie sind! Nun, was soll ich mit ihnen anfangen?!«

Sie weinte fast selbst (was sie aber gar nicht hinderte, ununterbrochen und sich überstürzend zu reden) und zeigte auf die weinenden Kinder. Raskolnikow versuchte sie zu überreden, nach Hause zurückzukehren, und sagte sogar, in der Absicht, ihre Eitelkeit zu wecken, daß es für sie unpassend sei, wie ein Leierkastenmann durch die Straßen zu ziehen, da sie doch die Absicht habe, Direktrice eines Pensionats für adlige Töchter zu werden ...