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Er sagte dies irgendwie besonders anzüglich, mit listigem Ausdruck, ohne Raskolnikow aus den Augen zu lassen. Dieser erbleichte und erschauerte, als er seine eigenen, an Ssonja gerichteten Worte hörte. Er taumelte zurück und sah Swidrigailow wild an.

»Woher ... woher wissen Sie ... das?!« flüsterte er, kaum noch atmend.

»Ich wohnte ja gleich hier hinter der Wand, bei der Madame Rößlich. Hier wohnt Kapernaumow und dort Madame Rößlich, meine alte, ergebene Freundin ... Ich bin der Nachbar.«

»Sie?!«

»Ja, ich«, fuhr Swidrigailow fort, sich vor Lachen schüttelnd. »Und ich kann Ihnen auf Ehre versichern, liebster Rodion Romanowitsch, Sie haben mich außerordentlich interessiert. Ich sagte Ihnen doch, daß wir einander noch – näherkommen würden, ich hab's Ihnen vorausgesagt, – nun haben wir uns wirklich näher kennengelernt! Und Sie werden sehen, was für ein vernünftiger Mensch ich bin. Sie werden sehen, daß es sich mit mir leben läßt ...«

Sechster Teil

I

Für Raskolnikow hatte eine merkwürdige Zeit begonnen. Vor ihm war gleichsam ein Nebelschleier herabgesunken, der ihn in eine ausweglose und schwere Vereinsamung einschloß. Als er sich dieser Zeit später, lange nachher erinnerte, kam er dahinter, daß sein Bewußtsein sich zeitweise getrübt und daß dieser Zustand mit einigen Unterbrechungen bis zur endgültigen Katastrophe angehalten hatte. Er war fest davon überzeugt, daß er sich damals in vielen Dingen geirrt hatte, zum Beispiel in den Zeitpunkten und der Dauer verschiedener Ereignisse. Wenigstens, als er sich später dessen entsann, erfuhr er vieles über sich selbst nur aus Mitteilungen, die er von anderen erhielt. Er verwechselte zum Beispiel ein Ereignis mit einem anderen und hielt ein anderes für die Folge eines dritten, das nur in seiner Einbildung existierte. Zeitweise bemächtigte sich seiner eine schmerzvolle und quälende Unruhe, die sogar in eine panische Angst überging. Er entsann sich aber auch, daß es Minuten, Stunden und vielleicht auch Tage vollständiger Apathie gegeben hatte, die sich seiner, im Gegensatz zu der früheren Angst, bemächtigte, – eine Apathie, die dem krankhaft-gleichgültigen Zustand mancher Sterbenden glich. Überhaupt bemühte er sich in diesen letzten Tagen, der klaren und vollständigen Erkenntnis seines Zustandes aus dem Wege zu gehen; manche wichtigen Tatsachen, die einer sofortigen Aufklärung bedurften, bedrückten ihn besonders schwer; wie froh wäre er gewesen, sich von manchen Sorgen befreien zu können, deren Außerachtlassung ihn unvermeidlich und endgültig ins Verderben gestürzt hätte.

Die größte Sorge machte ihm Swidrigailow: man könnte sogar sagen, daß Swidrigailow ihm zu einer fixen Idee geworden war. Seit der Zeit, als er die allzu klar ausgesprochenen und für ihn so drohenden Worte von Swidrigailow in Ssonjas Wohnung, in der Todesstunde Katerina Iwanownas gehört hatte, war der gewöhnliche Fluß seiner Gedanken gleichsam gestört. Obwohl aber diese neue Tatsache ihn außerordentlich beunruhigte, beeilte sich Raskolnikow gar nicht, die Sache irgendwie aufzuklären. Zuweilen überraschte er sich selbst, wie er in irgendeinem entlegenen und einsamen Stadtteile, in irgendeinem elenden Wirtshause nachdenklich allein am Tische saß, ohne an wissen, wie er hingeraten war, und dann fiel ihm plötzlich Swidrigailow ein: er sah allzu klar und unruhig ein, daß er mit diesem Menschen so schnell als möglich sprechen und sich mit ihm, so weit es ging, einigen müßte. Als er sich einmal hinter die Stadtgrenze verirrte, bildete er sich ein, daß er Swidrigailow erwartete und daß sie hier eine Zusammenkunft verabredet hätten. Ein anderes Mal erwachte er bei Tagesgrauen irgendwo im Gesträuch, auf der nackten Erde, und konnte fast nicht begreifen, wie er hierhergekommen war. Übrigens hatte er in diesen zwei oder drei Tagen nach dem Tode Katerina Iwanownas den Swidrigailow schon an die zweimal getroffen, fast immer in Ssonjas Wohnung, wohin er ohne jede Absicht, stets nur auf einen Sprung kam. Sie wechselten miteinander einige wenige Worte und berührten niemals den Hauptpunkt, als bestünde zwischen ihnen eine Verabredung, darüber vorläufig zu schweigen. Die Leiche Katerina Iwanownas lag noch immer in der Wohnung. Swidrigailow traf Anordnungen für die Beerdigung und sorgte für alles. Auch Ssonja war sehr beschäftigt. Bei ihrer letzten Zusammenkunft erklärte Swidrigailow Raskolnikow, daß er die Kinder Katerina Iwanownas schon irgendwie versorgt habe, daß es ihm dank seinen Verbindungen gelungen sei, Personen zu finden, mit deren Hilfe man die drei Waisenkinder sofort in sehr anständigen Anstalten unterbringen könnte; daß das Geld, das er für sie deponiert habe, dabei sehr nützlich gewesen sei, da es viel leichter wäre, Waisen mit Kapital unterzubringen als solche, die gar nichts haben. Er sagte auch etwas über Ssonja, versprach Raskolnikow, ihn dieser Tage selbst aufzusuchen, und erwähnte nebenbei, daß er sich mit ihm beraten und ihn dringend sprechen müßte, da es sich um eine wichtige Angelegenheit handle ... Das Gespräch fand auf dem Flur an der Treppe statt. Swidrigailow blickte Raskolnikow unverwandt in die Augen und fragte ihn nach kurzem Schweigen mit gedämpfter Stimme:

»Was ist denn mit Ihnen, Rodion Romanowitsch? Man kann Sie ja kaum wiedererkennen! Wirklich! Sie schauen einen an und hören zu und scheinen nichts zu verstehen. Nehmen Sie sich zusammen. Wir müssen doch wirklich miteinander sprechen; es ist nur schade, daß ich so viel zu tun habe, für mich selbst und für andere ... Ach, Rodion Romanowitsch«, fügte er plötzlich hinzu, »alle Menschen brauchen Luft, Luft, Luft ... Vor allen Diagen Luft!«

Er trat plötzlich zur Seite, um den Geistlichen, der mit dem Küster die Treppe heraufkam, vorbeizulassen. Sie kamen, um die Totenmesse zu lesen. Auf Anordnung Swidrigailows wurden die Messen zweimal am Tage mit großer Pünktlichkeit abgehalten. Swidrigailow ging seiner Wege. Raskolnikow stand eine Weile da und folgte dann dem Geistlichen in Ssonjas Wohnung.

Er blieb in der Tür stehen. Der Gottesdienst begann leise, andächtig, traurig. Im Gedanken an den Tod und im Gefühl der Gegenwart des Todes lag für ihn stets, von früher Kindheit an, etwas Schweres und Mystisch-Schreckliches; auch hatte er schon lange keine Totenmesse mehr gehört. Es war auch etwas anderes, allzu Schreckliches und Unruhiges dabei. Er sah die Kinder an: sie lagen alle vor dem Sarg auf den Knien; Poljetschka weinte. Hinter ihnen betete Ssonja leise weinend. – In diesen Tagen hat sie mich aber kein einziges Mal angeschaut und kein Wort zu mir gesagt! – fiel es Raskolnikow plötzlich ein. Die Sonne erleuchtete hell das Zimmer; der Weihrauch stieg in leichten Wolken empor; der Geistliche las: »Schenke, Herr, die ewige Ruhe.« Raskolnikow blieb während der ganzen Messe da. Als der Geistliche den Segen erteilte und sich verabschiedete, sah er sich etwas eigentümlich um. Nach dem Gottesdienste ging Raskolnikow auf Ssonja zu. Sie ergriff plötzlich seine beiden Hände und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter. Diese kurze freundschaftliche Regung überraschte ihn; es kam ihm sogar seltsam vor: Wie? Nicht der geringste Widerwille, nicht der geringste Ekel vor ihm, nicht das leiseste Zucken ihrer Hand! Es war die tiefste Stufe der Selbsterniedrigung. So faßte er es wenigstens auf. Ssonja sagte nichts. Raskolnikow drückte ihr die Hand und ging hinaus. Es wurde ihm so furchtbar schwer zumute. Wäre es ihm in diesem Augenblick möglich gewesen, fortzugehen und ganz allein zu bleiben, und wenn auch fürs ganze Leben, so würde er sich glücklich gefühlt haben. Die Sache war aber die, daß er in der letzten Zeit zwar fast immer allein war, aber sein Alleinsein unmöglich empfinden konnte. Oft ging er vor die Stadt, kam auf eine Landstraße und verirrte sich einmal sogar in ein Gehölz; doch je einsamer die Gegend war, um so stärker empfand er die nahe und beunruhigende Gegenwart von etwas, das wohl nicht grauenhaft war, aber ihn schon gar zu sehr belästigte, so daß er schleunigst in die Stadt zurückkehrte, sich unter die Menge mischte, in Wirtshäuser und Schenken einkehrte und auf den Trödelmarkt und Heumarkt ging. Hier war es ihm sogar leichter ums Herz, und erfühlte sich viel einsamer. In einem Wirtshause wurde den ganzen Spätnachmittag gesungen; hier blieb er eine ganze Stunde sitzen, hörte zu und erinnerte sich später, daß es ihm sehr angenehm gewesen war. Schließlich wurde er aber wieder unruhig, als ob ihn Gewissensbisse plagten. – Hier sitze ich höre dem Gesang zu, habe aber was ganz anderes zu tun! – ging es ihm durch den Sinn. Übrigens wurde es ihm sofort klar, daß dies nicht das einzige war, was ihn beunruhigte, daß noch etwas anderes da war, das eine unverzügliche Lösung erheischte, das er aber weder völlig erfassen noch in Worte kleiden konnte. Alles verwickelte sich zu einem Knäuel. – Nein, dann schon lieber den Kampf! Dann ziehe ich schon den Porfirij oder Swidrigailow vor ... Wenn doch schneller eine Herausforderung oder ein Überfall käme ... – Ja! Ja! – dachte er. Er verließ das Wirtshaus und lief fast fort. Der Gedanke an Dunja und an die Mutter machte ihm plötzlich panische Angst. In der folgenden Nacht erwachte er vor Tagesanbruch im Gebüsch auf der Krestowskij-Insel, ganz durchfroren und im Fieber; er ging nach Hause, wo er erst am Morgen anlangte. Nach einigen Stunden Schlaf war das Fieber vergangen, er erwachte aber sehr spät, um zwei Uhr nachmittags.