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Raskolnikow fuhr sogar zusammen.

»Ja, wer sind Sie denn?« rief er aus. »Was sind Sie für ein Prophet? Was ist das für eine majestätische Ruhe, von deren Höhe herab Sie mir Ihre weisen Prophezeiungen verkünden?«

»Wer ich bin? Ein erledigter Mensch und sonst nichts. Ein Mensch, der vielleicht fühlt und mitfühlt, der vielleicht auch manches weiß, aber schon vollkommen erledigt ist. Sie sind aber eine ganz andere Nummer; Gott hat für Sie ein Leben vorbereitet (wer weiß, vielleicht wird sich bei Ihnen alles auch nur in Rauch auflösen). Nun, was macht's, daß Sie in eine andere Klasse von Menschen übergehen werden? Sie werden doch nicht den Komfort beweinen, Sie, mit Ihrem Herzen! Was macht's, daß man Sie vielleicht lange nicht mehr sehen wird? Es handelt sieh doch nicht um die Zeit, sondern um Sie selbst. Werden Sie zu einer Sonne, dann werden alle Sie sehen. Die Sonne muß vor allen Dingen eine Sonne sein! Was lächeln Sie schon wieder: daß ich wie ein Schiller rede? Ich wette, Sie glauben, daß ich Ihnen wieder schmeichle! Nun, vielleicht will ich Ihnen wirklich bloß schmeicheln, he-he-he! Sie dürfen mir, Rodion Romanowitsch, vielleicht auch nicht aufs Wort glauben, Sie dürfen mir auch überhaupt nicht glauben, so ist schon mal meine Art, ich gebe es zu; aber eines will ich nur noch sagen: ob ich ein gemeiner oder ein anständiger Mensch bin, das können Sie, glaube ich, selbst entscheiden!«

»Wann gedenken Sie mich zu verhaften?«

»Ja, so an die anderthalb oder zwei Tage lasse ich Sie noch frei herumlaufen. Denken Sie nach, mein Liebster, beten Sie zu Gott. So ist es auch vorteilhafter, bei Gott, vorteilhafter.«

»Wenn ich aber davonlaufe?« fragte Raskolnikow mit einem eigentümlichen Lächeln.

»Nein, Sie werden nicht davonlaufen. Ein Bauer wird davonlaufen, ein moderner Sektierer wird davonlaufen, ein Lakai fremder Gedanken, dem man nur ein Endchen von einem Finger zu zeigen braucht, damit er alles glaubt. Sie aber glauben auch an Ihre eigene Theorie nicht mehr – womit wollen Sie dann davonlaufen? Und was sollen Sie auch auf der Flucht tun? Auf der Flucht ist das Leben widerwärtig und schwer. Sie aber brauchen Leben, Sie brauchen eine bestimmte Lage, eine entsprechende Luft; ist aber die Luft auf der Flucht was für Sie? Sie werden entlaufen und dann selbst zurückkommen. Ohne uns können Sie nicht auskommen. Wenn ich Sie aber ins Gefängnis sperre, so werden Sie einen Monat, meinetwegen auch zwei oder drei Monate sitzen und dann plötzlich – denken Sie an meine Worte – selbst mit Ihrem Geständnis kommen, vielleicht sogar für Sie selbst unerwartet. Eine Stunde vorher werden Sie vielleicht noch selbst nicht wissen, daß Sie mit dem Geständnis kommen werden. Ich bin sogar überzeugt, daß Sie sich entschließen werden, ›das Leiden auf sich zu nehmen‹; jetzt glauben Sie mir nicht, und doch werden Sie selbst darauf kommen. Denn das Leiden ist eine große Sache, Rodion Romanowitsch; schauen Sie jetzt nicht darauf, daß ich so verfettet bin, das macht nichts, dafür weiß ich manches; lachen Sie nicht darüber, auch im Leiden steckt eine Idee. Mikolka hat recht. Nein, Sie werden nicht davonlaufen, Rodion Romanowitsch.«

Raskolnikow erhob sich von seinem Platz und nahm die Mütze. Auch Porfirij Petrowitsch stand auf.

»Sie wollen etwas spazieren gehen? Der Abend wird schön werden; daß nur kein Gewitter kommt! Übrigens wäre es sogar besser, wenn es die Luft etwas abkühlte ...«

Auch er griff nach seiner Mütze.

»Porfirij Petrowitsch, bilden Sie sich, bitte, ja nicht ein, daß ich Ihnen heute ein Geständnis abgelegt habe«, sagte Raskolnikow mit strenger Hartnäckigkeit. »Sie sind ein sonderbarer Mensch, und ich habe Ihnen bloß aus Neugierde zugehört. Doch ich habe Ihnen nichts gestanden ... Merken Sie sich das.«

»Gut, ich weiß es schon, ich werde es mir merken – sieh ihn nur einer an, wie er zittert. Seien Sie unbesorgt, mein Lieber, Ihr Wille geschehe. Spazieren Sie noch etwas frei herum, aber zu viel dürfen Sie nicht herumlaufen. Für jeden Fall habe ich noch eine Bitte an Sie,« fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu, eine peinliche, aber wichtige Bitte: »für den Fall (an dessen Möglichkeit ich übrigens nicht glaube und dessen ich Sie nicht für fähig halte), für den Fall – nun für jeden Fall –, wenn es Ihnen im Laufe dieser vierzig oder fünfzig Stunden einfiele, der Sache irgendwie anders, auf eine phantastische Weise ein Ende zu machen – zum Beispiel das Händchen an sich zu legen (eine ganz unsinnige Annahme, aber Sie müssen mir schon verzeihen), so hinterlassen Sie, bitte, einen kurzen, aber ausführlichen Bericht, so an die zwei Zeilen, bloß zwei Zeilen, und erwähnen Sie auch das vom Stein; so wird es anständiger sein. Nun, auf Wiedersehen ... Ich wünsche Ihnen gute Gedanken und segensreiches Beginnen!«

Porfirij ging seltsam geduckt hinaus und vermied scheinbar, Raskolnikow anzublicken. Raskolnikow trat ans Fenster und wartete gereizt und ungeduldig, bis jener auf die Straße kam und sich vom Hause entfernt hatte. Dann verließ auch er schnell das Zimmer.

III

Er eilte zu Swidrigailow. Was er sich von diesem Menschen erhoffen konnte, das wußte er selbst nicht. Doch in diesem Menschen lag irgendeine Gewalt über ihn. Als er das einmal erkannt hatte, konnte er sich nicht mehr beruhigen; nun war auch dazu die Zeit gekommen.

Unterwegs quälte ihn besonders eine Frage: ob Swidrigailow bei Porfirij gewesen war?

Soweit er es beurteilen konnte, und das hätte er auch beschwören können – war er bei ihm noch nicht gewesen! Er überlegte es sich noch einmal, ließ sich die ganze Szene mit Porfirij wieder durch den Kopf gehen und kam zur Einsicht: nein, er war nicht bei ihm gewesen, ganz gewiß nicht!

Aber wenn er noch nicht gewesen ist, wird er noch zu Porfirij hingehen oder nicht?

Vorläufig schien es ihm, daß er nicht hingehen würde. Warum? Er hätte sich auch dies nicht erklären können, aber selbst wenn er es sich erklären könnte, wollte er sich jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen. Dies alles quälte ihn, und doch kümmerte er sich darum nicht. Es war so seltsam, und niemand würde es vielleicht glauben können, aber für sein jetziges, unmittelbar bevorstehendes Schicksal hatte er nur ein zerstreutes, schwaches Interesse. Ihn quälte etwas anderes, etwas viel Wichtigeres, etwas Außerordentliches, etwas, was ebenfalls nur ihn allein und niemand anders anging, aber etwas ganz anderes, etwas Entscheidendes. Außerdem spürte er eine grenzenlose seelische Ermattung, obwohl sein Verstand an diesem Morgen besser arbeitete als in allen diesen letzten Tagen.