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Ssonja sprang plötzlich vom Stuhl auf und sah ihn erschrocken an. Sie wollte ihm unbedingt etwas sagen, ihn etwas fragen, aber im ersten Augenblick wagte sie es nicht und wußte auch nicht, wie zu beginnen.

»Sie wollen ... Sie wollen ... jetzt bei diesem Regen fortgehen?«

»Nun, nach Amerika gehen und den Regen fürchten? ... He-he! Leben Sie wohl, liebe Ssofja Ssemjonowna! Leben Sie, und leben Sie lange, Sie werden anderen nützlich sein. Übrigens ... sagen Sie Herrn Rasumichin, daß ich ihn grüßen lasse. Sagen Sie es ihm wörtlich: ›Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow läßt grüßen!‹ Unbedingt.«

Er ging hinaus und ließ Ssonja erstaunt, erschrocken und mit einem unklaren, schweren Verdacht zurück.

Wie es sich später herausstellte, hatte er am gleichen Abend in der zwölften Stunde noch einen anderen höchst exzentrischen und unerwarteten Besuch abgestattet. Der Regen wollte noch immer nicht aufhören. Ganz durchnäßt kam er um zwanzig Minuten auf Zwölf in die kleine Wohnung der Eltern seiner Braut auf dem Wassiljewskij-Ostrow, in der Dritten Linie des Kleinen Prospekts. Mit Mühe weckte er die Leute und versetzte zuerst alle in große Aufregung; aber Arkadij Iwanowitsch war, wenn er wollte, ein Mann von bezaubernden Manieren, so daß die ursprüngliche (übrigens gar nicht so dumme) Vermutung der klugen Brauteltern, daß Arkadij Iwanowitsch sich irgendwo bis zur Bewußtlosigkeit besoffen habe, in sich selbst zusammenstürzte. Die weichherzige und kluge Mutter der Braut rollte den gelähmten Vater im Krankensessel zu Arkadij Iwanowitsch heraus und begann sofort, ihrer Gewohnheit gemäß, mit gewissen weitausholenden Fragen. (Diese Frau stellte niemals direkte Fragen, sondern begann immer erst zu lächeln und sich die Hände zu reiben; und dann kam sie, wenn sie zum Beispiel unbedingt und sicher erfahren wollte, wann Arkadij Iwanowitsch die Hochzeit zu bestimmen gedenke, mit höchst interessierten und fast gierigen Fragen über Paris und das dortige Hofleben, um dann allmählich und der Reihe nach auf die Dritte Linie auf der Wassiljewskij-Insel zu kommen.) Zu einer anderen Zeit flößte dies alles großen Respekt ein; aber diesmal war Arkadij Iwanowitsch besonders ungeduldig und äußerte den dringenden Wunsch, sofort seine Braut zu sehen, obwohl man ihm gleich am Anfang erzählt hatte, daß die Braut schon zu Bette sei. Die Braut erschien selbstverständlich. Arkadij Iwanowitsch teilte ihr sofort mit, daß er in einer sehr wichtigen Angelegenheit vorübergehend aus Petersburg verreisen müsse und ihr darum fünfzehntausend Rubel in verschiedenen Scheinen gebracht habe, mit der Bitte, das Geld als Geschenk anzunehmen, da er schon längst die Absicht gehabt habe, ihr diese Bagatelle vor der Hochzeit zu schenken. Ein besonderer logischer Zusammenhang zwischen dem Geschenk und der sofortigen Abreise und der Notwendigkeit, deswegen bei Regen, um die Mitternachtsstunde zu kommen, wurde trotz dieser Erklärungen durchaus nicht ersichtlich, alles machte sich jedoch recht anständig. Selbst die unvermeidlichen Seufzer, Fragen und Ausdrücke des Erstaunens nahmen plötzlich eine ungewöhnlich gemäßigte und zurückhaltende Form an, dafür aber wurde der heißeste Dank geäußert und sogar durch die Tränen der vernünftigsten aller Mütter bekräftigt. Arkadij Iwanowitsch stand auf, lachte, küßte die Braut, tätschelte ihr die Wange und versprach noch einmal, sehr bald zurückzukommen; als er in ihren Augen neben der kindlichen Neugier auch eine ernste, stumme Frage las, dachte er noch eine Weile nach, küßte sie wieder und spürte aufrichtigen Arger, daß das Geschenk sofort in Verwahrung der vernünftigsten aller Mütter kommen würde. Er ging und hinterließ alle im Zustande ungewöhnlicher Aufregung. Aber die weichherzige Mama löste sofort im Flüstertone und hastig einige der wichtigsten Bedenken, nämlich, daß Arkadij Iwanowitsch ein Mann mit großen Geschäften und Verbindungen, ein reicher Mann sei; Gott allein könne wissen, was er für Pläne habe; wenn es ihm einfalle, reise er fort, wenn es ihm einfalle, mache er ein Geldgeschenk, also brauche man sich über ihn nicht zu wundern. Es sei natürlich sehr sonderbar, daß er ganz durchnäßt war, aber die Engländer seien zum Beispiel noch viel exzentrischer, und überhaupt kümmerten sich alle Leute der großen Welt sehr wenig darum, was man von ihnen sagt, und genierten sich nicht. Vielleicht gehe er absichtlich so umher, um zu zeigen, daß er nichts fürchte. Vor allen Dingen dürfe man aber keinem Menschen ein Wort davon sagen, denn Gott allein wisse, was daraus noch werden würde; das Geld müsse sofort eingeschlossen werden, und es sei sicher sehr gut, daß Fedoßja in der Küche geblieben war; das Wichtigste aber sei, kein Wort davon der gerissenen Rößlich zu sagen, und so weiter und so weiter. So blieben sie bis zwei Uhr tuschelnd sitzen. Die Braut ging übrigens viel früher schlafen, erstaunt und ein wenig traurig.

Swidrigailow passierte indessen Punkt zwölf Uhr die *sche Brücke in der Richtung nach der Petersburger Seite. Es hatte zu regnen aufgehört, aber der Wind brauste noch. Er fing zu zittern an und blickte eine Weile mit besonderem Interesse und sogar fragend auf das schwarze Wasser der Kleinen Newa. Aber es wurde ihm bald viel zu kalt, über dem Wasser zu stehen; er drehte sich um und ging in den *schen Prospekt. Lange, fast eine halbe Stunde, schritt er den unendlichen *schen Prospekt entlang, stolperte mehr als einmal auf dem Holzpflaster, hörte aber nicht auf, aufmerksam etwas auf der rechten Seite des Prospektes zu suchen. Hier, fast am Ende des Prospektes, hatte er einmal zufällig im Vorbeifahren ein hölzernes, doch großes Gasthaus bemerkt, dessen Name, soweit er sich erinnerte, ähnlich wie »Adrianopel« klang. Er hatte sich in seinen Erwartungen nicht getäuscht; das Gasthaus war in dieser Einöde ein so sichtbarer Punkt, daß es ganz unmöglich war, es selbst im Finstern nicht zu finden. Es war ein langgestrecktes, hölzernes, schwarzgewordenes Gebäude, in dem trotz der späten Stunden noch Licht brannte und ein reges Leben zu sehen war. Er trat ein und fragte einen abgerissenen Kerl, den er im Korridor traf, nach einem Zimmer. Der zerlumpte Kerl warf einen Blick auf Swidrigailow, schüttelte sich und führte ihn sofort in ein enges, dumpfes Zimmer, das ganz am Ende des Korridors, in der Ecke unter der Treppe, lag. Ein anderes war aber nicht zu haben; alle Zimmer waren besetzt. Der zerlumpte Kerl sah ihn fragend an.

»Gibt's Tee?« fragte Swidrigailow.

»Kann gemacht werden.«

»Was gibt's noch?«

»Kalbfleisch, Schnaps, kalten Imbiß.«

»Bring mir Kalbfleisch und Tee.«

»Sonst wünschen Sie nichts?« fragte der Kerl sogar mit einigem Erstaunen.

»Nein, nichts.«

Der zerlumpte Kerl verschwand vollkommen enttäuscht.

– Das muß wohl ein guter Ort sein, – dachte Swidrigailow: – wie kommt es, daß ich ihn nicht kannte? Ich habe wohl auch das Aussehen eines Menschen, der aus einem Tingeltangel kommt, aber unterwegs schon eine Geschichte gehabt hat. Es wäre interessant, zu erfahren, wer hier absteigt und übernachtet.

Er zündete ein Licht an und betrachtete sein Zimmer genauer. Es war eine winzige kleine Kammer, beinahe zu niedrig für Swidrigailows Körpergröße, mit nur einem Fenster. Die Wände sahen so aus, als wären sie aus Brettern zusammengenagelt, und die abgeriebene Tapete war so verstaubt und zerrissen, daß man ihre (gelbe) Farbe noch erraten, aber das Muster nicht mehr unterscheiden konnte. Der eine Teil der Wand und der Decke war schräg abgeschnitten, wie es gewöhnlich in Mansarden ist, aber hier befand sich darüber die Treppe. Swidrigailow stellte das Licht hin, setzte sich aufs Bett und versank in Gedanken. Aber ein sonderbares und ununterbrochenes Flüstern im Nebenzimmer, das sich zuweilen fast bis zu einem Geschrei steigerte, lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Dieses Geflüster hatte seit dem Augenblick, als er eingetreten war, nicht aufgehört. Er lauschte: jemand schimpfte und überschüttete einen anderen weinend mit Vorwürfen, aber man hörte nur eine Stimme. Swidrigailow erhob sich verdeckte mit der Hand die Kerzenflamme und sah sofort an der Wand eine Ritze aufblitzen; er ging heran und blickte hinein. In dem Zimmer, das etwas größer war als das seinige, befanden sich zwei Gäste. Der eine, ohne Rock, mit lockigem Kopf und rotem, erregtem Gesicht, stand in Rednerpose da, die Beine weit auseinander, um das Gleichgewicht zu bewahren, schlug sich mit der Hand vor die Brust und warf dem anderen pathetisch vor, daß er ein Bettler sei und sogar keinen Rang habe, daß er ihn aus dem Schmutz herausgezogen habe und ihn, wenn er wolle, wegjagen könne; das alles sehe aber der Finger Gottes allein. Der Freund, dem diese Rede galt, saß auf einem Stuhl und hatte die Miene eines Menschen, der sehr gerne niesen möchte, dem es aber nicht gelingen will. Ab und zu sah er mit einem trüben Schafsblicke den Redner an, schien aber nicht die geringste Ahnung davon zu haben, wovon die Rede war, und auch kaum etwas zu hören. Auf dem Tisch brannte ein Kerzenstumpf, standen und lagen eine fast leere Schnapsflasche, Gläser, Brot, Gurken und Teegeschirr; der Tee war schon längst ausgetrunken. Nachdem Swidrigailow dieses Bild aufmerksam betrachtet hatte, verließ er gleichgültig die Ritze und setzte sich wieder aufs Bett.