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Der abgerissene Kerl, der mit dem Tee und dem Kalbfleisch gekommen war, konnte sich nicht enthalten, wieder zu fragen, ob der Herr nicht noch etwas wünsche, und entfernte sich, nachdem er abermals eine verneinende Antwort bekommen hatte, endgültig aus dem Zimmer. Swidrigailow stürzte sich über den Tee, um sich schneller zu erwärmen, und trank ein Glas, aber essen konnte er nicht, da er jeden Appetit verloren hatte. Offenbar begann er zu fiebern. Er zog Mantel und Jacke aus, wickelte sich in die Decke und legte sich aufs Bett. Er ärgerte sich: »Diesmal wäre es doch besser, gesund zu sein«, dachte er sich und lächelte. Im Zimmer war es dumpf, das Licht brannte trüb, draußen brauste der Wind, irgendwo in einer Ecke nagte eine Maus, und im Zimmer roch es überhaupt nach Mäusen und nach Leder. Er lag da und träumte, ein Gedanke löste den anderen ab. Es schien, als wollte er sich mit seiner Phantasie an etwas Bestimmtes klammern. »Draußen unter dem Fenster ist wohl irgendein Garten«, dachte er ... »Die Bäume rauschen; wie widerlich ist mir das Rauschen der Bäume in der Nacht, bei Sturm, im Finstern, – ein übles Gefühl!« Und er erinnerte sich, wie er, als er vorhin am Petrowskij-Park vorüberging, mit Widerwillen an ihn gedacht hatte. Bei dieser Gelegenheit erinnerte er sich auch der *schen Brücke und der Kleinen Newa, und er fühlte wieder eine Kälte, wie vorhin, als er über dem Wasser stand. »Nie im Leben habe ich Wasser gemocht, selbst auf Landschaftsbildern nicht«, dachte er sich wieder und lächelte plötzlich über einen sonderbaren Gedanken: »Jetzt müßten mir doch eigentlich jede Ästhetik und jeder Komfort gleichgültig sein, aber gerade jetzt bin ich wählerisch geworden, wie ein Tier, das sich einen passenden Ort aussucht ... im gleichen Falle. Ich hätte eben vorhin in den Petrowskij-Park einbiegen sollen! Kam mir aber wohl zu dunkel und kalt vor, he-he! Beinahe suche ich angenehme Gefühle! ... Übrigens: warum soll ich nicht die Kerze auslöschen? (Er blies sie aus.) Die Nachbarn haben sich wohl schon schlafen gelegt«, dachte er, als er in der Ritze kein Licht mehr sah. »Nun, Marfa Petrowna, jetzt hätten Sie erscheinen sollen: es ist dunkel, der Ort ist geeignet, und der Augenblick originell. Aber gerade jetzt werden Sie nicht kommen ...«

Es kam ihm plötzlich aus irgendeinem Grunde in den Sinn, daß er vorhin, eine Stunde vor seinem Anschlag auf Dunjetschka, Raskolnikow empfohlen hatte, sie der Obhut Rasumichins anzuvertrauen. »In der Tat, ich habe es damals wirklich mehr gesagt, um mich selbst zu reizen, was Raskolnikow auch erraten hat. Dieser Raskolnikow ist aber ein geriebener Junge! Große Lasten hat er schon getragen. Kann mit der Zeit ein großer Spitzbube werden, wenn ihm der ganze Unsinn aus dem Kopfe herausfliegt, jetzt will er aber zu sehr leben. In diesem Punkte sind alle diese Leute gemein. Na, hol ihn der Teufel, was geht es mich an.«

Er konnte immer keinen Schlaf finden. Allmählich erstand vor ihm das Bild Dunjetschkas, wie er sie vorhin gesehen hatte, und plötzlich lief ein Zittern durch seinen Körper. »Nein, das muß man jetzt schon aufgeben,« dachte er, zu sich kommend, »man muß an etwas anderes denken. Sonderbar und lächerlich: gegen niemand habe ich jemals starken Haß gehabt, habe auch niemals besondere Rachlust gespürt, das ist aber ein schlimmes Zeichen, ein schlimmes Zeichen! Habe auch niemals gerne gestritten, bin auch nie hitzig geworden – auch ein schlimmes Zeichen! Und was habe ich ihr vorhin nicht alles versprochen, – pfui Teufel! Vielleicht hätte sie mich aber auch irgendwie ummodeln können ...« Er schwieg wieder und preßte die Lippen zusammen: wieder erschien vor ihm Dunjetschkas Bild, genau wie sie aussah, als sie nach dem ersten Schuß erschrocken war, den Revolver sinken ließ und ihn leichenblaß ansah, so daß er sie zweimal hätte packen können, während sie nicht einmal die Hand zur Gegenwehr erhoben hätte, wenn er sie nicht selbst daran erinnerte. Er erinnerte sich, wie er in diesem Augenblick etwas wie Mitleid mit ihr spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte ... »Ach, zum Teufel! Wieder diese Gedanken; das muß ich alles aufgeben, aufgeben, aufgeben! ...«

Er schlief schon ein, das fieberhafte Zittern war im Abnehmen; plötzlich lief etwas unter der Bettdecke über seinen Arm und sein Bein. Er fuhr zusammen: »Pfui Teufel, das scheint ja eine Maus zu sein!« dachte er. »Ich habe das Kalbfleisch auf dem Tische stehen lassen ...« Er hatte furchtbar wenig Lust, die Decke abzuwerfen, aufzustehen und zu frieren, aber plötzlich fuhr ihm wieder etwas höchst unangenehm über das Bein; er riß die Decke von sich und steckte die Kerze an. Vor fieberhafter Kälte zitternd, bückte er sich und untersuchte das Bett, konnte aber nichts sehen; nun schüttelte er die Decke, und plötzlich sprang auf das Laken eine Maus. Er versuchte sie zu fangen; aber die Maus sprang nicht vom Bett herunter, sondern rannte im Zickzack in allen Richtungen, glitt ihm durch die Finger, lief ihm über die Hand und huschte plötzlich unter das Kissen; er warf das Kissen zu Boden, spürte aber im gleichen Augenblick, wie ihm etwas in den Busen sprang und unter seinem Hemde über den Rücken huschte. Ihn befiel ein nervöses Zittern und – er erwachte. Im Zimmer war es dunkel, er lag wie vorhin im Bette, in die Decke gehüllt, hinter dem Fenster heulte der Wind. »Wie ekelhaft!« dachte er ärgerlich.

Er stand auf und setzte sich auf den Bettrand, mit dem Rücken gegen das Fenster. »Lieber nicht mehr einschlafen!« sagte er sich. Vom Fenster kam übrigens Kälte und Feuchtigkeit herein; ohne aufzustehen, zog er die Decke über sich und hüllte sich in sie. Die Kerze steckte er nicht an. Er dachte an nichts und wollte an nichts denken; doch Visionen zogen eine nach der anderen an ihm vorbei, Bruchstücke von Gedanken ohne Anfang, ohne Ende und ohne Zusammenhang wirbelten ihm durch den Sinn. Er verfiel gleichsam in einen Halbschlummer. War es die Kälte, die Dunkelheit, die Feuchtigkeit oder der Wind, der draußen heulte und die Bäume bewegte, was in ihm eine hartnäckige phantastische Neigung weckte, – aber er sah plötzlich lauter Blumen vor sich. Ein herrliches blühendes Landschaftsbild tauchte vor ihm auf: ein heiterer, warmer, fast heißer Frühlingstag, ein Pfingsttag; ein reiches, prächtiges Landhaus in englischem Stil, ganz von duftenden Blumenbeeten umgeben; der Eingang umwunden von Schlingpflanzen, verdeckt von Rosenstöcken; eine helle, kühle Treppe, mit einem prächtigen Teppich bedeckt, flankiert von seltenen Blumen in chinesischen Vasen. Besonders fielen ihm wassergefüllte Glasvasen auf den Fensterbänken auf, gefüllt mit Sträußen von weißen, zarten, stark duftenden Narzissen, die sich auf ihren grellgrünen, dicken und langen Stengeln bogen. Er wollte sich von ihnen gar nicht trennen, aber er ging die Treppe hinauf in einen großen, hohen Saal, und auch hier waren überall an den Fenstern, vor der offenen Tür zur Terrasse und auf der Terrasse selbst Blumen, nichts als Blumen. Der Boden war mit frischgemähtem, duftendem Gras bestreut, die Fenster standen offen, eine frische, leichte, kühle Luft drang ins Zimmer, Vögel zwitscherten vor den Fenstern, und mitten im Saale stand auf einigen zusammengerückten, mit weißem Atlas bedeckten Tischen ein Sarg. Dieser Sarg war mit weißem Gros-de-Naples ausgeschlagen und mit weißen Rüschen benäht. Blumengirlanden umrankten ihn auf allen Seiten. Ganz in Blumen lag darin ein kleines Mädchen in weißem Tüllkleid, die wie aus Marmor gemeißelten, zusammengefalteten Hände an die Brust gedrückt. Aber ihre aufgelösten hellblonden Haare waren naß; ein Rosenkranz schmückte ihr Haupt. Das strenge und schon erstarrte Gesichtsprofil war auch wie aus Marmor gemeißelt, doch das Lächeln auf den blassen Lippen war von einem gar nicht kindlichen, grenzenlosen Weh und einer großen Klage erfüllt. Swidrigailow kannte dieses Mädchen; am Sarge gab es weder ein Heiligenbild noch brennende Kerzen, es waren keine Gebete zu hören. Das kleine Mädchen war eine Selbstmörderin, die man aus dem Wasser gezogen hatte. Sie war nur vierzehn Jahre alt, aber ihr Herz war schon gebrochen, sie hatte sich getötet, durch eine schändliche Tat verletzt, die ihr junges, kindliches Bewußtsein mit Entsetzen und Erstaunen erfüllt, die ihre engelreine Seele mit unverdienter Schande besudelt und ihr einen letzten Schrei der Verzweiflung entrissen hatte, der nicht erhört, sondern frech erstickt wurde in finstrer Nacht, in Kälte, bei feuchtem Tauwetter, als der Wind heulte ...