Выбрать главу

»Nun, soll ich zu dir eintreten oder fortgehen?« fragte er mißtrauisch.

»Ich saß den ganzen Tag bei Ssofja Ssemjonowna; wir haben dich beide erwartet. Wir glaubten, du würdest unbedingt dorthin kommen.«

Raskolnikow trat ins Zimmer und setzte sich erschöpft auf einen Stuhl.

»Ich bin so schwach, Dunja; ich bin so müde; aber ich möchte mich wenigstens in diesem Augenblick ganz in der Hand haben.«

Er warf ihr einen mißtrauischen Blick zu.

»Wo warst du denn die ganze Nacht?«

»Ich weiß es nicht mehr genau. Siehst du, Schwester, ich wollte mich endgültig entschließen und ging lange an der Newa auf und ab. Ich wollte dort ein Ende machen, aber ich brachte es nicht über mich ...« flüsterte er und sah Dunja wieder mißtrauisch an.

»Gott sei Dank! Und wir haben gerade das befürchtet, ich und Ssofja Ssemjonowna! Also glaubst du noch an das Leben! ... Gott sei Dank, Gott sei Dank.«

Raskolnikow lächelte bitter.

»Ich glaube nicht, aber eben habe ich mit der Mutter geweint, wir hielten uns dabei umarmt; ich glaube nicht, aber ich bat sie, für mich zu beten. Gott weiß, wie das gemacht wird, Dunjetschka, ich verstehe nichts davon.«

»Du warst bei der Mutter? Du hast es ihr gesagt?« rief Dunja entsetzt aus. »Hast du dich wirklich entschlossen, es ihr zu sagen?«

»Nein, ich habe nichts gesagt ... nicht mit Worten; aber sie hat vieles begriffen. Sie hat in der Nacht gehört, wie du phantasiert hast. Ich bin überzeugt, daß sie es zur Hälfte schon begreift. Vielleicht ist es nicht gut, daß ich bei ihr war. Ich weiß auch nicht, warum ich zu ihr gegangen bin. Ich bin ein gemeiner Mensch, Dunja.«

»Ein gemeiner Mensch, bist aber bereit, das Leid auf dich zu nehmen! Du gehst doch hin?«

»Ich gehe. Sofort. Ja, um dieser Schande zu entrinnen, wollte ich mich ertränken, Dunja; aber als ich schon über dem Wasser stand, dachte ich mir: wenn ich mich bisher für stark gehalten habe, so werde ich auch die Schande nicht fürchten. Das ist der Stolz, Dunja.«

»Der Stolz, Rodja.«

Es leuchtete wie ein Feuer in seinen erloschenen Augen auf; es schien ihm Freude zu machen, daß er noch stolz sei.

»Glaubst du nicht, Schwester, daß ich vor dem Wasser einfach Angst bekam?« fragte er, ihr mit einem häßlichen Lächeln ins Gesicht blickend.

»O Rodja, hör auf!« rief Dunja aus.

An die zwei Minuten schwiegen sie beide. Er saß mit gesenktem Kopfe da und blickte zu Boden; Dunjetschka saß am anderen Ende des Tisches und sah ihn voller Qual an. Plötzlich stand er auf.

»Es ist spät, es ist Zeit! Ich gehe gleich hin, mich anzuzeigen. Aber ich weiß nicht, warum ich gehe, mich anzuzeigen.«

Große Tränen liefen ihr die Wangen herab.

»Du weinst, Schwester, kannst du mir aber die Hand reichen?«

»Und du zweifeltest daran?«

Sie umarmte ihn.

»Indem du hingehst, um das Leid auf dich zu nehmen, büßest du denn dein Verbrechen nicht schon zur Hälfte ab?!« schrie sie, ihn fest umarmend und küssend.

»Verbrechen? Was ist das für ein Verbrechen?!« rief er in einem Anfall plötzlicher Wut. »Daß ich eine abscheuliche, schädliche Laus, eine alte Wucherin, die niemand braucht, für deren Ermordung einem vierzig Sünden vergeben werden, die den Armen alle Säfte aussog, ermordet habe – das soll ein Verbrechen sein?! Ich denke gar nicht daran und will es auch gar nicht büßen. Was deutet man mir von allen Seiten auf das Wort, Verbrechen'? Jetzt erst sehe ich den ganzen Unsinn meiner Kleinmütigkeit, jetzt, wo ich mich schon entschlossen habe, diese ganz unnötige Schande auf mich zu nehmen! Ich entschließe mich dazu bloß aus Gemeinheit und Talentlosigkeit, vielleicht auch noch aus Berechnung, wie dieser ... Porfirij ... mir vorgeschlagen hat! ...«

»Bruder, Bruder, was sagst du! Du hast aber doch Blut vergossen!« rief Dunja voll Verzweiflung aus.

»Das alle vergießen,« fiel er ihr fast rasend ins Wort, »das in der Welt wie ein Wasserfall fließt und immer geflossen ist, das man wie Champagner vergießt und für das man auf dem Kapitol gekrönt und dann als Wohltäter der Menschheit gepriesen wird. Betrachte die Sache doch näher! Ich selbst wollte den Menschen Gutes tun und hätte Hunderte und Tausende guter Werke getan statt dieser einzigen Dummheit, sogar keiner Dummheit, sondern bloß einer Ungeschicklichkeit, denn dieser ganze Gedanke war gar nicht so dumm, wie er jetzt erscheint, nach dem Mißerfolg ... (nach dem Mißerfolg erscheint alles dumm!). Durch diese Dummheit wollte ich mir bloß eine unabhängige Stellung verschaffen, den ersten Schritt tun, die Mittel auftreiben, und dann würde alles durch einen im Verhältnis unermeßlichen Nutzen aufgewogen werden ... Aber ich habe auch den ersten Schritt nicht ausgehalten, denn ich bin ein Schuft! Das ist eben die ganze Sache! Und doch werde ich es niemals mit euren Augen ansehen: Wäre es mir gelungen, so würde man mich gekrönt haben, so aber muß ich in die Falle!«

»Aber das ist doch gar nicht das, gar nicht das! Bruder, was sagst du nur!«

»Ah! Es ist nicht die richtige Form, sie ist nicht ästhetisch genug! Aber ich kann doch unmöglich begreifen, warum es respektabler sein soll, die Menschen durch Bomben umzubringen! Die Furcht vor den Gesetzen der Ästhetik ist das erste Zeichen der Schwäche! ... Noch niemals, niemals habe ich es klarer als jetzt begriffen, und weniger als jemals begreife ich jetzt mein Verbrechen! Niemals, niemals war ich stärker und überzeugter als jetzt!«

In sein blasses, ausgemergeltes Gesicht war sogar Blut gestiegen. Als er aber die letzten Worte sprach, begegnete er zufällig mit seinem Blick den Augen Dunjas und sah darin so viel, so viel Qual um seinetwillen, daß er unwillkürlich zur Besinnung kam. Er fühlte, daß er diese beiden armen Frauen immerhin unglücklich gemacht hatte. Immerhin war er die Ursache.

»Dunja, Liebste! Wenn ich Schuld habe, so vergib mir (obwohl man mir gar nicht vergeben kann, wenn ich Schuld habe)! Lebe wohl! Wir wollen nicht streiten! Es ist Zeit, es ist höchste Zeit. Folge mir nicht, ich flehe dich an, ich muß noch irgendwo hingehen ... Geh jetzt gleich zur Mutter und setze dich neben sie. Ich flehe dich an! Das ist meine letzte große Bitte an dich. Verlaß sie nicht in dieser ganzen Zeit; ich habe sie in einer Unruhe zurückgelassen, die sie kaum überstehen wird: Sie wird entweder sterben oder den Verstand verlieren. Bleib bei ihr! Rasumichin wird mit euch sein; ich habe mit ihm schon gesprochen ... Weine nicht um mich: Ich werde mich bemühen, mutig und ehrlich zu sein, mein ganzes Leben, obgleich ich ein Mörder bin. Vielleicht wirst du einmal meinen Namen hören. Ich werde euch keine Schande antun, du wirst es sehen; ich werde noch beweisen ... jetzt vorläufig auf Wiedersehen«, schloß er eilig, als er in den Augen Dunjas bei seinen letzten Worten und Versprechungen wieder einen sonderbaren Ausdruck bemerkt hatte. »Was weinst du so? Weine nicht, weine nicht, wir trennen uns doch nicht für immer! ... Ach ja! Wart, ich hab es vergessen! ...«

Er trat an den Tisch, nahm ein dickes, verstaubtes Buch, schlug es auf und nahm ein zwischen den Seiten verwahrtes kleines Aquarellbild auf Elfenbein heraus. Es war das Bild der Tochter seiner Wirtin, seiner früheren Braut, die am Fieber gestorben war, desselben merkwürdigen jungen Mädchens, das ins Kloster gehen wollte. Eine Minute lang blickte er dieses ausdrucksvolle und krankhafte Gesichtchen an, küßte das Bild und gab es Dunjetschka.

»Mit ihr habe ich viel davon gesprochen, mit ihr allein«, sagte er nachdenklich. »Ihrem Herzen habe ich vieles davon mitgeteilt, was später in einer so häßlichen Weise in Erfüllung gegangen ist. Sei ruhig,« wandte er sich an Dunja, »sie war mit mir nicht einverstanden, ebenso wie du, und ich bin froh, daß sie nicht mehr ist. Die Hauptsache, die Hauptsache ist, daß jetzt alles ganz neu beginnt, daß alles entzweibricht«, rief er plötzlich aus, wieder in seinen Gram verfallend, »alles, alles; bin ich aber dazu vorbereitet? Will ich es selbst? ... Man sagt, es sei zu meiner Prüfung notwendig! Doch wozu, wozu alle diese unsinnigen Prüfungen? Was brauche ich sie? Werde ich es denn dann, erdrückt von Qualen und Idiotie, in greisenhafter Ohnmacht nach zwanzigjähriger Zwangsarbeit besser empfinden, als ich es jetzt empfinde, und wozu soll ich dann noch leben? Oh, ich wußte es, daß ich ein Schuft bin, als ich heute in der Morgendämmerung an der Newa stand!« – – –