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Beide verließen schließlich das Haus. Es war Dunja schwer, aber sie liebte ihn so! Sie trennte sich von ihm; als sie aber etwa fünfzig Schritte gegangen war, wandte sie sich um, um ihn noch einmal anzuschauen. Sie konnte ihn noch sehen. Aber an der Ecke wandte er sich auch um, und ihre Blicke trafen sich zum letztenmal; als er merkte, daß sie ihn ansah, winkte er ungeduldig und sogar ärgerlich mit der Hand, daß sie weitergehe, und bog jäh um die Ecke.

– Ich bin böse, ich sehe es – dachte er, als er sich nach einer Minute seiner ärgerlichen Geste gegen Dunja schämte. – Aber warum lieben sie mich so, wenn ich es nicht verdiene! O wär ich doch allein und niemand liebte mich, und hätte ich auch selbst nie jemand geliebt! Dann wäre dies alles nicht geschehen! Ich möchte aber gern wissen, ob meine Seele in diesen kommenden fünfzehn oder zwanzig Jahren sich so demütigen wird, daß ich vor den Menschen voller Andacht jammern und mich bei jedem Wort Mörder nennen werde? Ja, so wird es sein! Darum verschicken sie mich auch nach Sibirien, das ist es, was sie brauchen ... Da laufen sie in den Straßen herum, und jeder von ihnen ist ein Schuft und ein Mörder, schon seiner Natur nach; und noch schlimmer als das – ein Idiot! Wenn man mir aber die Zwangsarbeit erläßt, so werden sie vor edler Empörung rasen! Oh, wie ich sie alle hasse! –

Er vertiefte sich in den Gedanken: – Durch welchen Prozeß kann es so kommen, daß ich mich zuletzt ganz ohne zu klügeln vor allen demütige, mich mit voller Überzeugung demütige? Warum auch nicht? Es muß natürlich so kommen. Werden mir denn die zwanzig Jahre ununterbrochenen Druckes nicht endgültig den Garaus machen? Steter Tropfen höhlt den Stein. Und wozu, wozu dann noch leben, wozu gehe ich jetzt hin, wo ich selbst weiß, daß alles sich genau so wie nach Noten abspielen wird und nicht anders! –

Diese Frage legte er sich seit gestern abend vielleicht schon zum hundertstenmal vor, aber er ging dennoch hin.

VIII

Als er zu Ssonja kam, begann es zu dämmern. Ssonja hatte den ganzen Tag in furchtbarer Aufregung auf ihn gewartet. Auch Dunja hatte mit ihr gewartet. Dunja war schon am Morgen zu ihr gekommen, eingedenk der gestrigen Worte Swidrigailows, daß Ssonja schon »alles wisse«. Wir wollen die Einzelheiten der Unterhaltung zwischen den beiden jungen Mädchen, ihre Tränen und, wie weit sie sich näher kamen, übergehen. Dunja hatte bei dieser Zusammenkunft wenigstens den Trost gefunden, daß ihr Bruder nicht allein sein werde: Er war doch mit seiner Beichte zuerst zu Ssonja gegangen; in ihr hatte er den Menschen gesucht, als er einen Menschen brauchte; sie wird ihm auch überallhin folgen, wohin ihn das Schicksal auch bringt. Sie fragte gar nicht, aber sie wußte, daß es so kommen werde. Sie sah Ssonja mit Ehrfurcht an und machte sie damit sogar verlegen. Ssonja war nahe daran, zu weinen: Sie hielt sich ihrerseits für unwürdig, Dunja auch nur anzublicken. Das herrliche Bild Dunjas, als sie sich von ihr so aufmerksam und ehrerbietig nach ihrer ersten Begegnung bei Raskolnikow verabschiedet hatte, blieb seitdem für immer in ihrer Seele als einer der schönsten und erhabensten Eindrücke ihres Lebens.

Dunjetschka hatte es schließlich doch nicht ausgehalten und war von Ssonja gegangen, um den Bruder in seiner Wohnung zu erwarten; sie glaubte immer, daß er zuerst dorthin kommen würde. Als Ssonja allein geblieben war, begann sie sich mit dem Gedanken zu quälen, daß Rodja vielleicht wirklich Selbstmord begehen würde. Dasselbe fürchtete auch Dunja. Aber sie hatten einander den ganzen Tag mit vielen Gründen zu überzeugen gesucht, daß es nicht möglich sei, und waren ruhiger, solange sie zusammenblieben. Nachdem sie sich aber getrennt hatten, dachte die eine wie die andere wieder nur noch daran. Ssonja erinnerte sich, daß Swidrigailow ihr gestern gesagt hatte, daß Raskolnikow nur zwei Wege vor sich habe: entweder Sibirien oder ... Außerdem kannte sie seinen Ehrgeiz, seinen Hochmut, seine Eigenliebe und seinen Unglauben.

– Können denn der Kleinmut und die Furcht vor dem Tode allein ihn zwingen, zu leben? – dachte sie schließlich in Verzweiflung.

Die Sonne ging indessen unter. Ssonja stand traurig am Fenster und blickte unverwandt hinaus – aber sie konnte bloß die ungetünchte Grundmauer des Nachbarhauses sehen. Endlich, als sie vom Tode des Unglücklichen völlig überzeugt war, – trat er in ihr Zimmer.

Ein freudiger Schrei entrang sich ihrer Brust. Als sie aber sein Gesicht aufmerksam ansah, erbleichte sie plötzlich.

»Na, ja!« sagte Raskolnikow mit spöttischem Lächeln. »Ich komme, um mir dein Kreuz zu holen, Ssonja; du hast mich doch selbst auf den Kreuzweg geschickt. Wie ist es nun: wo es zu handeln gilt, bist du bange geworden?«

Ssonja sah ihn erstaunt an. So sonderbar erschien ihr dieser Ton; ein kaltes Frösteln lief über ihren Körper, aber schon nach einer Minute hatte sie erraten, daß dieser Ton und diese Worte gekünstelt waren. Als er mit ihr sprach, sah er auch in eine Ecke, als vermeide er, ihr ins Gesicht zu blicken.

»Siehst du, Ssonja, ich habe eingesehen, daß es so vielleicht besser sein wird. Es gibt einen Umstand ... Na ja, es ist lang zu erzählen und hat auch keinen Sinn. Weißt du, was mich bloß ärgert? Es ärgert mich, daß alle diese dummen tierischen Fratzen mich gleich umringen und anglotzen, mir ihre dummen Fragen vorlegen werden, die man beantworten muß, daß sie mit Fingern auf mich zeigen werden ... Pfui! Weißt du, ich will nicht zu Porfirij gehen; ich habe ihn satt. Ich gehe lieber zu meinem Freund Pulver, der wird sich wundern, bei dem werde ich einen gewissen Effekt machen. Ich muß aber kaltblütiger sein; viel zu viel Galle hat sich in mir in der letzten Zeit angesammelt. Glaubst du mir, ich habe soeben meiner Schwester fast mit der Faust gedroht, bloß weil sie sich umwandte, um mich zum letzten Male zu sehen. So ein Zustand ist eine Schweinerei! Ach, wie weit ist es mit mir gekommen! Nun, wo ist denn das Kreuz?«

Er war wie ausgewechselt. Er konnte nicht einen Augenblick ruhig stehen, konnte seine Aufmerksamkeit auf keinen Gegenstand konzentrieren; seine Gedanken sprangen übereinander, er redete irre; seine Hände zitterten leicht.

Ssonja nahm schweigend aus der Schublade zwei Kreuze, eines aus Zypressenholz und eines aus Messing, bekreuzigte sich, bekreuzigte auch ihn und hängte ihm das Kreuz aus Zypressenholz um den Hals.

»Das ist also ein Symbol dessen, daß ich ein Kreuz auf mich nehme, he-he! Als ob ich bisher wenig gelitten hätte! Ein Kreuz aus Zypressenholz, also wie es das einfache Volk trägt; das aus Messing, das Kreuz Lisawetas nimmst du dir; zeig es mir! So hat sie es ... in jenem Augenblick umgehabt? Ich kenne zwei ähnliche Kreuze, ein silbernes und ein kleines Heiligenbild. Ich habe sie damals der Alten auf die Brust geworfen. Diese Kreuze sollte ich mir jetzt umhängen, wirklich ... Übrigens schwatze ich immer Unsinn; so vergesse ich die Hauptsache, ich bin so zerstreut! ... Siehst du, Ssonja, ich bin eigentlich gekommen, um es dir vorher zu sagen, damit du es weißt ... Nun, das ist alles ... Ich bin ja nur deswegen hergekommen. (Hm! Ich hatte übrigens geglaubt, daß ich mehr sagen würde.) Du wolltest doch selbst, daß ich hingehe; nun werde ich im Gefängnis sitzen, und dein Wunsch wird in Erfüllung gehen; was weinst du denn? Auch du weinst? Hör auf, genug; ach, wie schwer ist mir das alles!«