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Aber in ihm regte sich Mitgefühl; sein Herz krampfte sich bei ihrem Anblick zusammen. – Was hat sie bloß? dachte er. – Was bin ich ihr? Warum weint sie, warum verabschiedet sie sich von mir wie meine Mutter oder wie Dunja? Sie wird meine Wärterin sein! –

»Bekreuzige dich, bete wenigstens einmal!« bat Ssonja mit zitternder, scheuer Stimme.

»Oh, gerne, soviel du willst! Und mit reinem Herzen, Ssonja, mit reinem Herzen ...«

Er wollte ihr übrigens etwas ganz anderes sagen.

Er bekreuzigte sich einige Male, Ssonja nahm ihr Tuch und warf es sich über den Kopf. Es war ein grünes Drap-de-dames-Tuch, wahrscheinlich dasselbe, von dem Marmeladow gesprochen hatte, das »Familientuch«. Raskolnikow kam sogar dieser Gedanke, aber er fragte nicht. Er begann tatsächlich selbst zu fühlen, daß er furchtbar zerstreut und voll häßlicher Unruhe war. Er erschrak darüber. Er war plötzlich bestürzt, daß Ssonja mit ihm gehen wolle.

»Was fällt dir ein? Wo willst du hin? Bleibe, bleibe! Ich gehe allein!« rief er in kleinmütigem Zorn und ging beinahe erbost zur Tür. »Wozu dieses ganze Gefolge!« murmelte er hinaustretend.

Ssonja blieb allein mitten im Zimmer. Er hatte von ihr nicht einmal Abschied genommen, er hatte sie schon vergessen; ein stechender Zweifel empörte sich plötzlich in seiner Seele:

– Ist es auch so richtig, ist es richtig? – dachte er wieder, als er die Treppe hinunterging. – Kann ich denn nicht mehr stehen bleiben und alles wieder gutmachen ... und nicht hingehen? –

Er ging aber doch hin. Plötzlich fühlte er endgültig, daß es keinen Sinn habe, Fragen an sich zu stellen. Als er schon auf der Straße war, erinnerte er sich, daß er sich von Ssonja nicht verabschiedet hatte, daß sie mitten im Zimmer in ihrem grünen Tuche geblieben war und es nicht wagte, nachdem er sie angeschrien hatte, sich zu rühren. Im gleichen Augenblick durchzuckte ihn ein Gedanke, der gleichsam nur darauf gewartet hatte, um ihn völlig zu verwirren.

– Nun, warum, warum bin ich jetzt bei ihr gewesen? Ich sagte ihr: in einer wichtigen Angelegenheit; was war das für eine wichtige Angelegenheit? Ich hatte ihr doch nichts zu sagen! Um ihr zu sagen, daß ich hingehe? Was ist denn dabei? War es denn notwendig? Liebe ich sie etwa? Doch nein, nein! Ich habe sie doch soeben wie einen Hund von mir gestoßen. Brauchte ich vielleicht ihr Kreuz? Oh, wie tief bin ich gesunken! Ihre Tränen brauchte ich, ich mußte ihren Schreck sehen, ich mußte sehen, wie ihr Herz schmerzt und sich quält! Ich mußte mich an irgendetwas festklammern, verweilen, einen Menschen sehen! Und ich wagte noch, so auf mich zu hoffen, so von mir zu denken, ich elender Bettler, ich Schuft, Schuft! –

Er ging am Kanal entlang und hatte nicht mehr weit zu gehen. Aber bei der Brücke blieb er stehen, schlug plötzlich den Weg über die Brücke ein und ging nach dem Heumarkt.

Mit gierigen Blicken sah er nach rechts und nach links, betrachtete gespannt jeden Gegenstand und konnte auf keinen seine Aufmerksamkeit konzentrieren; alles entglitt ihm. – Nach einer Woche, nach einem Monat wird man mich über diese Brücke irgendwohin in so einem Gefängniswagen fahren; mit welchen Augen werde ich dann diesen Kanal ansehen? – Wenn ich mir das merken könnte! – ging es ihm durch den Kopf. – Dieses Schild dort, wie werde ich dann diese Buchstaben lesen? Da steht geschrieben »Genossenschaft«; wenn ich mir nur dieses »a«, diesen Buchstaben »a« merken könnte und dann nach einem Monat ihn wiedersehen; wie werde ich ihn dann ansehen? Was werde ich dann fühlen und denken? ... ... Mein Gott, wie gemein ist doch wohl das alles, alle meine jetzigen ... Sorgen! Natürlich, es muß auch interessant sein ... in seiner Art ... (Ha-ha-ha! Woran ich jetzt denke!) Ich werde zu einem Kind und prahle vor mir selbst; warum werfe ich es mir vor? Gott, wie sie stoßen! Dieser Dicke da (wahrscheinlich ein Deutscher), der mich gestoßen hat, weiß er auch, wen er gestoßen hat? Eine Frau mit einem Kinde bettelt; es ist doch interessant, daß sie mich für glücklicher hält als sich selbst. Soll ich ihr nicht spaßhalber ein Almosen geben? Ah, ich hab ja noch ein Fünfkopekenstück in der Tasche! Woher? ... »Hier, hier ... nimm es, Mütterchen! ...«

»Gott schütze dich!« antwortete die Bettlerin mit weinerlicher Stimme.

Er trat auf den Heumarkt. Es war ihm unangenehm, sehr unangenehm, mit Menschen zusammenzustoßen, er ging aber gerade dorthin, wo die meisten Menschen waren. Er hätte alles in der Welt hergegeben, um allein zu bleiben; aber er fühlte selbst, daß er keinen Augenblick allein bleiben würde. In der Menge stand ein Betrunkener; er wollte tanzen, fiel aber immer um. Die Leute umringten ihn. Raskolnikow drängte sich durch die Menge, sah den Betrunkenen eine Weile an und lachte plötzlich kurz auf. Im nächsten Augenblick hatte er ihn schon vergessen und sah ihn nicht mehr, obwohl er ihn anstarrte. Er ging schließlich weg und wußte nicht einmal, wo er sich befand; als er aber die Mitte des Platzes erreichte, geschah mit ihm plötzlich eine Veränderung, seine Empfindung ergriff ihn auf einmal ganz mit Leib und Seele.

Er erinnerte sich plötzlich der Worte Ssonjas: »Geh gleich hin, sofort, stell dich auf einem Kreuzweg hin, küsse zuerst die Erde, die du geschändet hast, und dann verbeuge dich vor der ganzen Welt, nach allen vier Seiten, und sage allen laut: ›Ich habe getötet!‹« Er erzitterte am ganzen Körper, als er sich dessen erinnerte. So sehr hatten ihn der ausweglose Gram und die Unruhe der ganzen letzten Zeit und besonders der letzten Stunden niedergedrückt, daß er sich der Möglichkeit dieser neuen, vollkommenen und ungeteilten Empfindung sofort hingab. Wie ein Krampf überkam es ihn plötzlich: es entzündete sich in seiner Seele als Funke und ergriff ihn dann plötzlich ganz wie eine Flamme. Alles schmolz in ihm auf einmal, Tränen stürzten ihm aus den Augen. Wo er stand, sank er zu Boden ...

Er kniete mitten auf dem Platze nieder, verneigte sich bis zur Erde und küßte diese schmutzige Erde mit Genuß und voll Seligkeit. Er stand auf und verneigte sich noch einmal.

»Wie der sich vollgesoffen hat!« bemerkte ein Bursche in seiner Nähe.

Viele lachten.

»Er geht nach Jerusalem, Brüder, nimmt Abschied von seinen Kindern und seiner Heimat, verneigt sich vor der ganzen Welt und küßt die Residenzstadt Sankt Petersburg und ihren Grund!« fügte ein betrunkener Kleinbürger hinzu.

»Das Bürschlein ist noch jung!« bemerkte ein dritter.

»Vom Adel!« sagte jemand mit gesetzter Stimme.

»Heutzutage kennt man sich nicht mehr aus, wer vom Adel ist und wer nicht.«

Alle diese Rufe und Gespräche hielten Raskolnikow zurück, und die Worte: »Ich habe getötet«, die ihm von den Lippen kommen wollten, erstarben in ihm. Er ließ jedoch alle diese Rufe ruhig über sich ergehen und ging, ohne sich umzusehen, direkt in die Gasse, die zum Polizeibureau führte. Unterwegs tauchte vor ihm eine Erscheinung auf, aber er wunderte sich nicht über sie; er hatte schon geahnt, daß es so kommen müsse. Als er sich auf dem Heumarkt zum zweiten Male, nach links gewandt, verbeugte, sah er etwa fünfzig Schritte entfernt Ssonja. Sie verbarg sich vor ihm hinter einer der Bretterbuden, die auf dem Platze standen; also hatte sie ihn auf dem ganzen Leidensweg begleitet! Raskolnikow fühlte und begriff in diesem Augenblick ein für allemal, daß Ssonja ewig bei ihm bleiben und ihm auch bis ans Ende der Welt folgen würde, was für ein Schicksal ihn auch erwartete. Und sein ganzes Herz wandte sich ... aber er hatte schon den verhängnisvollen Ort erreicht ...

Er betrat ziemlich sicher den Hof. Er mußte in den zweiten Stock. – Es wird noch eine Weile dauern, bis ich hinaufkomme – dachte er. Überhaupt schien es ihm, als sei der entscheidende Augenblick noch fern, als habe er noch viel Zeit und könne sich noch vieles überlegen.

Wieder der gleiche Kehricht, die gleichen Abfälle auf der Wendeltreppe, die Türen aller Wohnungen standen wieder weit offen, wieder dieselben Küchen, aus denen Dunst und Gestank kam. Raskolnikow war seit damals nicht mehr hier gewesen. Seine Beine erstarrten und knickten ein, bewegten sich aber doch. Er blieb einen Augenblick stehen, um Atem zu schöpfen, um sich zu erholen und als Mensch einzutreten. – Aber wozu? Warum? – dachte er plötzlich, als er seine Bewegung bemerkte. – Wenn ich schon diesen Kelch trinken muß, so ist doch alles gleich! Je schlimmer, um so besser. – Er stellte sich plötzlich die Gestalt des Ilja Petrowitsch »Pulver« vor. – Muß ich denn wirklich zu ihm? Kann ich nicht zu einem anderen? Kann ich nicht zu Nikodim Fomitsch? Sofort umkehren und zum Revieraufseher selbst in die Wohnung gehen? Dann wird sich alles ganz familiär abspielen ... Nein, nein! Zu Pulver, zu Pulver ... Wenn ich schon trinken soll, dann alles auf einmal ... –