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Nein, ich ertrage es nicht, ich ertrage es nicht! Wenn in meinen Berechnungen auch gar keine Fehler enthalten sind, wenn auch alles, was ich mir in den letzten vier Wochen zurechtgelegt habe, so klar wie die Sonne, so logisch wie die Mathematik ist ... Mein Gott! Ich werde mich doch nie entschließen können! Ich werde es nicht ertragen, ich werde es nicht ertragen ... Was habe ich mir nur bisher gedacht?! ...«

Er erhob sich, blickte erstaunt um sich, als begreife er nicht, wie er hergeraten sei. Dann schlug er den Weg zu der T–schen Brücke ein. Er war blaß, seine Augen brannten, er fühlte eine große Müdigkeit in allen Gliedern, doch er atmete viel leichter als früher. Er fühlte, daß er die schwere Last, die ihn so lange bedrückte, von sich geworfen habe, und dies gab ihm tiefen Frieden und Erleichterung. »O Herr!« betete er. »Zeige mir den Weg, den ich gehen soll, ich will mich aber von jenem verfluchten ... Wahn lossagen!«

Er ging über die Brücke und betrachtete ruhig und friedevoll die Newa und das leuchtende Abendrot. Trotz seiner Schwäche spürte er nichts von Müdigkeit. Es war, als sei das Geschwür auf seinem Herzen, das während der letzten Woche reif geworden war, plötzlich geplatzt ... Freiheit ... Freiheit! Er fühlte sich frei von jenem Zauber, von Verführung und Versuchung.

Als er später an diese Tage und Ereignisse zurückdachte und sie Minute für Minute, Punkt für Punkt durchnahm, wunderte er sich jedesmal über einen Umstand, der zwar an sich durchaus nicht merkwürdig war, den er aber als einen Fingerzeig des Schicksals auffaßte.

Er fragte sich nämlich, warum er damals, trotz seiner Müdigkeit und Abspannung nicht den kürzesten Weg nach Hause genommen, sondern einen völlig überflüssigen Umweg über den Heumarkt gemacht hatte. Der Umweg war allerdings nicht groß, aber doch ganz sinnlos und unnötig. Es passierte ihm zwar oft, daß er heimging, ohne auf den Weg zu achten. Er fragte sich aber, warum die wichtige, entscheidende und höchst zufällige Begegnung auf dem Heumarkte gerade mit jener Stimmung, mit jenen Umständen und mit jenem Augenblick seines Lebens zusammenfiel, in denen diese Begegnung einen entscheidenden Einfluß auf sein ganzes Schicksal haben mußte? Als hätte dieser Augenblick auf ihn gelauert ...

Es war gegen neun Uhr, als er über den Platz ging. Alle Händler, die in Läden, auf Tischen und im Herumziehen ihre Geschäfte betrieben, machten Feierabend, räumten ihre Waren fort und gingen, ebenso wie die Käufer, nach Hause. In der Nähe der Garküchen, in den schmutzigen und stinkenden Höfen und besonders bei den Schenken drängten sich noch viele Händler und Trödler. Raskolnikow bevorzugte bei seinen Spaziergängen gerade diese Gegend und die anstoßenden Gassen. Seine schäbige Kleidung fiel hier niemand auf, und hier konnte er in jedem Aufzug erscheinen, ohne Anstoß zu erregen. An der Ecke der K–Gasse trieb ein Kleinbürgerpaar an zwei Tischen Handel mit Garn, Bändern, billigen Tüchern und ähnlichem Kram. Sie waren gleichfalls im Begriff, Feierabend zu machen, da kam aber zu ihrem Verkaufsstand eine Bekannte und hielt sie auf. Diese Bekannte war Lisaweta Iwanowna, oder kurzweg Lisaweta, wie sie von allen genannt wurde, eine jüngere Schwester der alten Aljona Iwanowna, der Kollegienregistratorswitwe und Wucherin, bei der Raskolnikow gestern gewesen war, um ihr eine Uhr zum Pfand anzubieten und dabei seine Probe zu machen ... Er kannte Lisaweta seit längerer Zeit sehr genau, und auch sie kannte ihn flüchtig. Es war eine lange, plumpe, schüchterne alte Jungfer, beinahe eine Idiotin; sie war etwa fünfunddreißig und wurde von ihrer Schwester wie eine Sklavin behandelt; sie arbeitete für sie Tag und Nacht, hatte vor ihr den größten Respekt und bekam von ihr zuweilen Schläge. Sie stand nachdenklich mit einem Bündel in der Hand vor dem Händlerehepaar und hörte aufmerksam zu. Diese redeten auf sie mit besonderem Eifer ein. Als Raskolnikow sie erkannte, bemächtigte sich seiner ein tiefes Erstaunen, obwohl an der Begegnung eigentlich nichts Wunderbares war.

»Entscheiden Sie, Lisaweta Iwanowna, doch selbst über die Sache«, sprach der Kleinbürger. »Kommen Sie morgen so gegen sieben, und dann treffen Sie auch die Leute.«

»Morgen?« fragte nachdenklich und gedehnt Lisaweta. Sie konnte sich wohl nicht entschließen.

»Wie Sie die Aljona Iwanowna eingeschüchtert hat!« sagte die Frau, ein geriebenes Weib. »Wenn ich Sie so anschaue, kommen Sie mir wie ein kleines Kind vor. Sie ist nicht einmal eine richtige Schwester von Ihnen, nur eine Stiefschwester, und doch hat sie Sie so unter dem Pantoffel.«

»Sagen Sie doch der Aljona Iwanowna diesmal überhaupt nichts!« unterbrach der Händler seine Frau. »So rate ich Ihnen. Kommen Sie einfach her, ohne ihr ein Wort zu sagen. Das Geschäft ist doch glänzend. Ihre Schwester wird es hinterdrein schon selbst einsehen.«

»Soll ich wirklich kommen?«

»Morgen um sieben. Dann kommen auch die Leute her. Sie können dann alles persönlich abschließen.«

»Es wird auch Tee geben«, bemerkte die Frau.

»Gut. Ich werde kommen«, sagte endlich Lisaweta. Sie war noch immer unschlüssig und verließ zögernd den Verkaufsstand.

Dies war alles, was Raskolnikow im Vorbeigehen hörte. Er ging leise und unbemerkt vorbei und gab sich Mühe, jedes Wort aufzufangen. Sein Erstaunen von vorhin ging allmählich in Grauen über; es überlief ihn kalt: er hatte ja soeben erfahren, daß Lisaweta, die Schwester und einzige Hausgenossin der alten Wucherin, morgen um sieben Uhr abends fortgehen und daß die Alte um diese Zeit ganz allein bleiben werde.

Er hatte nur noch wenige Schritte bis zu seiner Wohnung. Er betrat sein Zimmer in der Stimmung eines zum Tode Verurteilten. Er überlegte sich nichts mehr und war dazu auch nicht imstande. Aber mit seinem ganzen Wesen fühlte er, daß er von nun an weder über die Freiheit seiner Vernunft noch über seinen Willen verfügte und daß nun alles endgültig besiegelt sei.

Wenn er auch viele Jahre auf eine geeignete Gelegenheit gelauert hätte, so hätte er selbst bei einem endgültig gefaßten Entschluß kaum einen größeren Erfolg auf dem Wege zur Ausführung seines Entschlusses erzielen können als diesen, den er soeben erreicht hatte. Jedenfalls wäre es sehr schwierig gewesen, am Vorabend des entscheidenden Tages mit größerer Sicherheit und mit geringerem Risiko, ganz ohne alle gefährlichen Umfragen, festzustellen, daß die Alte, gegen die er ein Attentat plante, zur betreffenden Stunde ganz mutterseelenallein zu Hause sein würde.

VI

Raskolnikow erfuhr später durch Zufall, wozu die Händler Lisaweta zu sich bestellt hatten. Es war eine ganz gewöhnliche Angelegenheit. Eine zugereiste verarmte Familie wollte verschiedene Kleidungsstücke verkaufen. Da der Verkauf auf offenem Markt unvorteilhaft gewesen wäre, so suchte man eine Trödlerin. Lisaweta Iwanowna betrieb gerade solche Geschäfte und Kommissionen. Sie hatte eine große Kundschaft, denn sie war ehrlich und pflegte immer feste Preise zu machen. Sonst war sie ja sehr wortkarg und, wie schon gesagt, schüchtern und scheu.

Raskolnikow war in der letzten Zeit abergläubisch. Spuren von Aberglauben bewahrte er auch in seinem späteren Leben. Und die ganze Sache erschien ihm sehr seltsam und geheimnisvoll, als hätte das Schicksal selbst diese Zufälligkeiten angeordnet. Im letzten Winter hatte ihm ein Student namens Pokorew vor seiner Abreise nach Charkow die Adresse der alten Aljona Iwanowna gegeben, für den Fall, wenn er etwas versetzen wolle. Lange Zeit machte er keinen Gebrauch von dieser Adresse, denn er konnte mit Stundengeben einigermaßen auskommen. Vor etwa sechs Wochen war ihm die Adresse wieder eingefallen, er hatte zwei Gegenstände zum Versetzen: eine alte silberne Uhr von seinem Vater und einen kleinen goldenen Ring mit drei roten Steinchen – ein Abschiedsgeschenk von seiner Schwester. Er entschloß sich, den Ring zu versetzen; er ging zu der Alten, die ihm gleich beim ersten Blick einen unüberwindbaren Ekel einflößte, bekam von ihr zwei »Banknoten« und kehrte auf dem Heimwege in ein billiges Restaurant ein. Er bestellte sich Tee und versank in Gedanken. Aus seinem Gehirne schälte sich, wie ein Küchlein aus einem Ei, eine seltsame Idee aus, die ihn vollkommen fesselte.