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Anfangs – es war übrigens vor längerer Zeit – interessierte ihn die Frage, warum die meisten Verbrechen so leicht aufgedeckt wurden und warum die Spuren der Verbrecher so leicht zu finden wären. Allmählich kam er zu verschiedenartigen, sehr interessanten Schlußfolgerungen: der Grund liege nicht so sehr in der physischen Unmöglichkeit, alle Spuren der Tat zu verwischen, wie im Täter selbst; dieser erfahre im Augenblick der Tat eine sonderbare Abschwächung des Willens und der Vernunft, an deren Stelle ein ungewöhnlicher Leichtsinn träte, und zwar gerade in dem Augenblick, da Vernunft und Vorsicht besonders notwendig seien. Er glaubte, daß diese Vernunfts- und Willensschwäche sich wie eine Krankheit ganz allmählich entwickele, unmittelbar vor der Tat ihren Höhepunkt erreiche, in diesem Stadium auch während der Tat und einige Zeit nach derselben – je nach Veranlagung des Täters – verbleibe und schließlich, wie jede Krankheit, weiche. Er fühlte jedoch nicht die Kraft, über die Frage, ob die Krankheit das Verbrechen zur Folge habe, oder ob das Verbrechen die Krankheit mit sich bringe, zu entscheiden.

Als er zu dieser Schlußfolgerung gekommen war, gewann er auch die Überzeugung, daß er für seine Person vor solchen krankhaften Zuständen gefeit sei und daß er seinen Willen, seine Vernunft während der Ausführung seines Vorhabens bewahren werde, denn das, was er vorhatte, sei ja »kein Verbrechen«. Wir wollen den ganzen Denkprozeß, durch den er zu dieser letzten Folgerung gelangte, nicht untersuchen; wir sind auch sonst den Ereignissen zu weit vorausgeeilt ... Wir wollen nur erwähnen, daß alle rein praktischen Schwierigkeiten für ihn eine untergeordnete Bedeutung hatten. »Wenn man sie nur unter der Gewalt seines ganzen Willens und seiner ganzen Vernunft behält, so werden alle diese Schwierigkeiten sofort überwunden sein, sobald man das Unternehmen mit allen Details vor sich sieht ...« Er kam aber noch immer nicht zum entscheidenden Schritt. Seinen endgültigen Beschlüssen traute er nicht, und als die Stunde geschlagen hatte, entwickelte sich alles gar nicht so, wie er es sich zurechtgelegt hatte, sondern ganz automatisch und beinahe unerwartet.

Ein Umstand verblüffte ihn, noch ehe er die Stiege hinuntergegangen war. Als er an der Küchentür, die wie immer weit offenstand, vorbeiging, schielte er hinein, um sich zu überzeugen, ob in Nastasjas Abwesenheit nicht die Wirtin selbst in die Küche gekommen sei; und wenn die Küche leer war, ob die Tür zum Zimmer der Wirtin ordentlich zugemacht sei, damit sie nicht hörte, wie er das Beil holte, und nicht in die Küche hinausguckte. Wie groß war sein Erstaunen, als er bemerkte, daß Nastasja ausnahmsweise nicht nur zu Hause und in der Küche war, sondern auch arbeitete! Sie stand vor einem Waschkorb und hängte auf eine Leine Wäsche zum Trocknen auf. Als sie ihn bemerkte, hielt sie in ihrer Arbeit inne, wandte sich zu ihm und verfolgte ihn mit den Augen. Er sah weg und ging vorüber, als hätte er nichts gemerkt. Die Sache war aber verloren: er hatte kein Beil! Er war sehr bestürzt.

»Wie konnte ich nur so bestimmt darauf rechnen,« sagte er sich, während er das Tor passierte, »daß sie gerade in diesem Augenblick nicht zu Hause sein würde! Wie kam ich nur auf diesen Fehler?« Er war zerknirscht und tief erniedrigt. Er wollte über sich selbst lachen; stumpfer, tierischer Haß erfüllte ihn.

Unten im Torweg blieb er nachdenklich stehen. Es war ihm unerträglich, jetzt zum Schein einen Spaziergang zu machen, aber noch unerträglicher – nach Hause zurückzukehren. »So ein günstiger Zufall ist nun für immer verloren!« murmelte er, während er im Torweg automatisch vor der offenen Kammer des Hausknechts stehen blieb. Plötzlich zuckte er zusammen: unter der Bank in der finsteren Kammer, etwa zwei Schritte vor ihm, sah er etwas aufblitzen ... Er blickte um sich: kein Mensch war zu sehen. Er ging unhörbar die zwei Stufen zur Kammer hinunter und rief mit schwacher Stimme nach dem Hausknecht. »Es stimmt! Er ist nicht zu Hause. Er wird irgendwo in der Nähe sein, denn die Tür steht weit offen.« – Er stürzte sich blitzschnell auf das Beil (denn es war ein Beil) und zog es unter der Bank, wo es zwischen zwei Holzklötzen lag, hervor, er befestigte es in der Schlinge, steckte beide Hände in die Taschen und verließ, von niemand bemerkt, die Kammer. »Hilft nicht die Vernunft, so hilft der Teufel« sagte er sich mit einem sonderbaren Lächeln. Dieser Zufall ermutigte ihn außerordentlich.

Er ging langsam und gesetzt seinen Weg, ohne Eile, um keinerlei Verdacht zu erregen. Die Passanten sah er gar nicht an und gab sich die größte Mühe, möglichst wenig aufzufallen. Da fiel ihm sein Hut ein. – »Mein Gott! Ich hatte ja noch vorgestern Geld, warum habe ich mir nicht statt des Hutes eine Mütze gekauft?« Er fluchte.

Er schielte in einen Laden hinein und sah auf die Wanduhr: es war zehn Minuten über sieben. Er mußte sich beeilen und dabei noch einen Umweg machen, um an das Haus von einer anderen Seite heranzukommen ...

Als er sich früher diesen Gang vorstellte, glaubte er, daß er sich sehr fürchten werde. Jetzt spürte er aber nichts von Furcht. Er beschäftigte sich sogar mit einigen ganz nebensächlichen Gedanken, allerdings nur kurze Zeit. Als er beim Jussupow-Park vorbeiging, dachte er daran, wie gut es doch wäre, wenn man auf allen Plätzen der Stadt so große Springbrunnen errichten würde, die die Luft so köstlich erfrischen. Dann dachte er, wie nützlich es für die Stadt wäre, wenn man den Sommergarten über das ganze Marsfeld ausdehnen und ihn mit dem Michailowschen Schloßpark verbinden würde. Dann hielt er sich bei der Frage auf, warum die Bewohner der großen Städte ohne besondere Notwendigkeit und eigentlich mehr instinktiv sich gerade in solchen Stadtteilen niederlassen, in denen es weder Gärten noch Springbrunnen gibt und die von Unrat und Schmutz starren. Dann fielen ihm seine eigenen Spaziergänge auf dem Heumarkte ein, und er kam für einen Augenblick zu sich. »Was für ein Blödsinn! Lieber will ich an gar nichts denken.«

»So klammern sich wohl alle, die zum Schafott geführt werden, mit ihren Gedanken an die Gegenstände, denen sie begegnen«, ging es ihm durch den Kopf, aber nur für einen Augenblick, rasch wie ein Blitz, und er beeilte sich selbst, diesen Gedanken niederzudrücken ... Da ist ja auch schon das Haus und das Tor. Eine Uhr schlug irgendwo einmal. »Was ist das? Schon halb acht? Unmöglich! Die Uhr geht vor.«

Im Tor lief alles glücklicherweise glatt ab. Zufällig wurde unmittelbar vor ihm ein großer Heuwagen in den Hof gefahren, der ihn, während er das Tor passierte, ganz verdeckte. Kaum fuhr der Wagen durch das Tor, so schwenkte Raskolnikow blitzschnell nach rechts ab. Von der anderen Seite des Wagens klangen mehrere Stimmen durcheinander, man schrie und zankte sich; ihn merkte aber niemand. Von den vielen Fenstern, die in den quadratischen Hof gingen, standen mehrere offen; er hatte aber nicht die Kraft, hinaufzublicken. Die Stiege zur Wohnung der Alten war gleich in der Nähe der Einfahrt. Nun war er schon auf der Stiege.

Er holte Atem, drückte seine Hand auf das wild pochende Herz, betastete und richtete den Beilgriff und begann nun langsam und vorsichtig horchend die Treppe hinaufzusteigen. Das Stiegenhaus war ganz leer. Alle Wohnungstüren waren zu, und er begegnete niemand. Im zweiten Stock stand die Tür einer leeren Wohnung weit offen, und in der Wohnung arbeiteten Anstreicher; diese sahen ihn aber gar nicht an. Er blieb eine Weile stehen, überlegte und ging schließlich weiter. – »Es wäre allerdings besser, wenn die Anstreicher nicht da wären, aber es liegen ja noch zwei Stockwerke dazwischen.«

Da ist schon der vierte Stock und die Wohnung der Alten. Die Wohnung gegenüber steht leer. Die Wohnung im dritten Stock, unter der Wohnung der Alten, scheint auch unbewohnt zu sein: die Visitenkarte, die früher an die Tür genagelt war, fehlte; die Partei war wohl ausgezogen. Er keuchte. »Soll ich nicht umkehren?« ging es ihm blitzartig durch den Kopf. Er gab sich keine Antwort darauf und begann an der Wohnungstür der Alten zu horchen, alles still! Dann horchte er noch auf die Stiege hinunter: er horchte lange und aufmerksam ... Dann blickte er noch zum letztenmal hinab, raffte sich auf, betastete noch einmal das Beil. »Bin ich nicht zu blaß, sehe ich nicht zu aufgeregt aus? Sie ist ja argwöhnisch ... Sollte ich nicht noch ein wenig warten, damit sich das Herz beruhigt? ...«