Er stürzte zur Tür und verriegelte sie.
»Nein! Es ist wieder nicht das Richtige! Ich muß ja fort, fort ...«
Er riegelte wieder auf, öffnete die Tür und horchte hinunter.
Er horchte so eine lange Weile. Irgendwo weit unten, vermutlich im Torweg, klangen zwei kreischende Stimmen, man schimpfte und zankte sich. »Was wollen die? ...« Er wartete geduldig. Endlich wurde mit einemmal alles stilclass="underline" sie waren wohl fort. Er machte die Tür ganz auf und wollte schon hinuntergehen, als unten im dritten Stock eine Tür aufgerissen wurde und jemand, eine Melodie summend, die Stiege hinunterzugehen begann. »Wie die Leute immer lärmen!« ging es ihm durch den Kopf. Er schloß die Tür und wartete ab. Endlich war alles wieder still. Als er aber den Fuß auf die Treppe gesetzt hatte, hörte er unten neue Schritte.
Diese Schritte tönten weit unten ganz am Anfang der Stiege, er hatte aber gleich beim ersten Schritt, wie er sich später genau erinnerte, den Verdacht, daß da jemand hierher, in den dritten Stock, zur Alten hinaufwollte. Warum? Klangen denn die Schritte irgendwie eigentümlich und bedeutungsvoll? Es waren schwere, gleichmäßige, langsame Schritte. Da ist er schon im ersten Stock, nun steigt er höher, die Schritte werden immer hörbarer. Er hörte auch schon den keuchenden Atem des Unbekannten. Nun ist er bereits im zweiten Stock. Er kommt her! Und plötzlich fühlte er, wie alle seine Glieder hölzern wurden. Er hatte das Gefühl, das man im Traume hat, wenn man sich von einem Mörder verfolgt sieht, fliehen will und dabei nicht vom Platz kommt und nicht einmal eine Hand zu rühren vermag.
Endlich, als der Gast sich bereits dem dritten Stock näherte, raffte er sich auf, sprang in das Vorzimmer zurück und schloß die Tür. Dann riegelte er vorsichtig und unhörbar zu. Hier half ihm der Instinkt. Als er damit fertig war, postierte er sich mit verhaltenem Atem dicht an der Tür. Die beiden standen sich jetzt genau so gegenüber, mit der Tür dazwischen, wie Raskolnikow vorhin der Alten gegenüber gestanden hatte.
Der Gast holte einige Male schwer Atem. Er ist wohl groß und dick, kombinierte Raskolnikow; er hielt das Beil fest umklammert. Das war wirklich wie im Traum. Der Gast ergriff den Glockenzug und läutete stark.
Beim ersten Ton der Klingel glaubte er ein Geräusch im Zimmer zu vernehmen. Einige Sekunden lang horchte er auch ernsthaft hinüber. Der Unbekannte läutete wieder, wartete einige Augenblicke und begann dann ungeduldig an der Türklinke zu zerren. Raskolnikow sah entsetzt, wie der Riegel dabei wackelte, und erwartete mit Angst, daß der Verschluß aufginge. Dies konnte leicht geschehen, denn der Gast riß mit aller Kraft an der Klinke. Er wollte anfangs den Riegel mit der Hand festhalten, aber dann fiel ihm ein, daß der andere es merken könnte. Er fühlte wieder Kopfschwindel. »Ich falle gleich hin!« ging es ihm durch den Kopf, aber in diesem Augenblick begann der Unbekannte zu sprechen, und Raskolnikow beherrschte sich wieder.
»Schlafen dort alle, oder hat sie jemand erwürgt? Die Verfluchten!« Seine Stimme klang wie aus einem hohlen Faß. »He, Aljona Iwanowna, alte Hexe! Lisaweta Iwanowna, unbeschreibliche Schönheit! Macht auf! Ha, diese Verfluchten, schlafen sie beide?«
Er geriet in Wut und riß noch an die zehnmal am Glockenzug. Offenbar war er im Hause gut bekannt und genoß Respekt.
In diesem Augenblick ertönten neue rasche Schritte auf der Stiege. Es kam noch jemand herauf. Raskolnikow hatte es anfangs überhört.
»Ist denn niemand da?« fragte der Neuankömmling mit heller, klingender Stimme den ersten Gast, der noch immer am Glockenzug riß. »Guten Abend, Koch!«
»Seiner Stimme nach scheint er jung zu sein«, dachte Raskolnikow.
»Das weiß der Teufel! Ich habe schon beinahe das Schloß abgerissen«, erwiderte Koch. »Wieso kennen Sie mich?«
»Haben Sie es schon vergessen? Ich habe Ihnen ja vorgestern im ›Gambrinus‹ drei Partien Billard abgewonnen!«
»Ach so ...«
»Es ist also niemand da? Sonderbar. Es ist übrigens dumm. Wo kann die Alte nur hingegangen sein? Ich muß sie sprechen.«
»Ja, Väterchen, ich muß sie auch sprechen!«
»Was soll man da machen? Umkehren? Und ich habe gehofft, daß ich hier Geld bekomme!« rief der junge Mann.
»Natürlich müssen wir umkehren. Warum bestellt sie aber einen zu einer bestimmten Stunde? Ich mußte ja einen weiten Weg machen. Wo treibt sie sich nur herum? Das ganze Jahr hockt die alte Hexe zu Hause, so daß sie schwarz wird und ihr die Füße schmerzen, und gerade heute muß sie einen Ausflug machen!«
»Soll man nicht den Hausknecht fragen?«
»Was denn?«
»Wo sie hingegangen ist, und wann sie heimkommt?«
»Hm ... den Teufel auch! ... fragen ... Sie geht aber nie aus ...« Er riß noch einmal an der Türklinke.
»Zum Teufel, nichts zu machen! Wir müssen umkehren!«
»Warten Sie!« rief plötzlich der Jüngere. »Schauen Sie her; sehen Sie, wie die Tür wackelt, wenn man an der Klinke zieht?«
»Nun?«
»Folglich ist sie nicht versperrt, sondern nur verriegelt. Hören Sie, wie der Riegel klirrt?«
»Nun?«
»Verstehen Sie noch immer nicht? Folglich ist eine von den beiden zu Hause. Wären sie ausgegangen, so hätten sie die Tür von außen mit einem Schlüssel abgesperrt und nicht von innen zugeriegelt! Sie hören doch, wie der Riegel klirrt! Um aber die Tür von innen zu verriegeln, muß man zu Hause sein, nicht wahr? Folglich sind sie zu Hause und sperren nicht auf!«
»Wirklich!« rief Koch erstaunt aus. »Was treiben die aber da?« Und er zerrte wieder mit aller Kraft an der Klinke.
»Warten Sie!« sagte der junge Mann. »Ziehen Sie nicht! Wir haben ja geläutet und geklopft, sie sperren aber nicht auf. Folglich liegen beide in Ohnmacht, oder ...«
»Was denn?«
»Wir wollen den Hausknecht holen, damit er sie weckt.«
»Gut!« Beide begannen die Treppe hinabzusteigen.
»Warten Sie! Bleiben Sie hier, und ich gehe allein zum Hausknecht.«
»Warum soll ich dableiben?«
»Man kann nie wissen ...«
»Sie haben vielleicht recht ...«
»Ich will ja Untersuchungsrichter werden. Hier ist aber offenbar, offenbar etwas nicht in Ordnung!« Mit diesen Worten rannte er hinunter.
Koch, der allein zurückblieb, rührte noch am Glockenzug. Die Klingel ertönte einmal. Dann faßte er langsam und nachdenklich die Klinke, drückte sie nieder und ließ sie los, um sich zu überzeugen, daß die Tür nur verriegelt sei. Dann beugte er sich keuchend zum Schlüsselloch, um hineinzusehen. Im Schloß steckte aber von innen der Schlüssel, folglich konnte er nichts sehen.
Raskolnikow stand mit dem Beil in der Hand. Er fieberte und war bereit, wenn sie hereinkämen, Widerstand zu leisten. Während sie vor der Tür sprachen und klopften, kam ihm einige Male der Wunsch, schneller ein Ende zu machen und sie von seinem Posten aus anzurufen. Er wollte sogar schimpfen und sie necken, solange die Tür nicht aufgerissen war. »Daß nur alles schneller ein Ende nimmt!« ging es ihm durch den Kopf.
»Daß ihn der Teufel ...«
Es vergingen mehrere Minuten, niemand kam herauf. Koch wurde ungeduldig:
»Daß ihn der Teufel!« schrie er plötzlich aus, gab seinen Posten auf und stieg ungeduldig, mit großem Lärm eilig die Treppe hinunter. Seine Schritte waren bald verhallt.
»Mein Gott, was soll ich tun?«
Raskolnikow riegelte auf, öffnete etwas die Tür und ging plötzlich, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, hinaus. Er schloß hinter sich die Tür und begann die Treppe hinunterzugehen.
Als er drei Treppen hinter sich hatte, hörte er unten lärmen. Was tun? Er konnte sich nirgend verstecken. Er wollte zuerst wieder hinaufgehen.
»Teufel! Haltet ihn!«
Aus einer Wohnung ganz unten stürzte jemand wie verrückt heraus und lief – es war mehr ein Fallen – hinunter. Dabei schrie er wie besessen: