Doch schon nach höchstens fünf Minuten sprang er von neuem auf und stürzte sich in größter Erregung wieder zu seinen Kleidern. »Wie konnte ich bloß einschlafen, wo noch nichts getan ist! Richtig: die Schlinge unter der Achsel habe ich noch nicht abgetrennt! Ich hatte es vergessen, eine so wichtige Sache vergessen! Ein so wichtiges Indizium!« Er riß die Schlinge mit einem Ruck ab und begann sie eilig in Stücke zu reißen und diese unter das Kissen in die Wäsche zu stopfen. »Zerrissene Leinwandfetzen werden keinen Verdacht erregen; ich glaube, ich glaube, es stimmt!« wiederholte er, während er mitten im Zimmer stand und mit schmerzvoll gespannter Aufmerksamkeit von neuem um sich, auf den Fußboden und überallhin blickte, ob er nicht noch etwas vergessen hätte. Die Überzeugung, daß alles, selbst das Gedächtnis, selbst die einfachste Überlegung ihn verließen, begann ihn unerträglich zu quälen. »Was, fängt es denn schon an, beginnt denn schon die Strafe? Ja, so ist es, so ist es!« Und in der Tat, die Fransen, die er von der Hose abgeschnitten hatte, lagen auf dem Fußboden, mitten im Zimmer, damit sie jeder Eintretende sofort sehe! »Was ist denn mit mir los?!« rief er wieder, wie verloren.
Da kam ihm ein seltsamer Gedanke: daß vielleicht auch seine ganzen Kleider blutig seien, daß vielleicht viele Blutflecken da seien, die er bloß nicht sehe, nicht bemerke, weil seine Sinne geschwächt und gleichsam zersplittert seien ... sein Verstand verdüstert sei ... Plötzlich erinnerte er sich, daß auch an dem Beutel Blut war. »Ach! Also muß auch in meiner Tasche Blut sein, weil ich den noch nassen Beutel in die Tasche steckte!« Augenblicklich kehrte er die Tasche heraus, und, in der Tat, auf dem Futter der Tasche waren noch Blutflecken! »Also hat mich die Vernunft noch nicht ganz verlassen, also kann ich noch überlegen, habe noch ein Gedächtnis, wenn ich von selbst darauf kam!« sagte er sich triumphierend und atmete freudig aus voller Brust auf. »Es war nur ein fieberhafter Schwächeanfall, ein kurzer Fiebertraum.« Er riß das ganze Futter aus der linken Hosentasche heraus. In diesem Augenblick fiel ein Sonnenstrahl auf seinen linken Stiefel; auf dem Strumpf, der aus dem Stiefel hervorlugte, glaubte er Spuren zu sehen. Er zog den Stiefel aus. »In der Tat, Spuren! Die ganze Strumpfspitze ist mit Blut durchtränkt!« Wahrscheinlich war er damals aus Versehen in die Pfütze getreten ...
»Was soll ich jetzt damit anfangen? Wo soll ich diesen Strumpf, die Fransen und die Tasche hintun?«
Er raffte alles in eine Hand zusammen und blieb mitten im Zimmer stehen. »In den Ofen? Aber im Ofen wird man doch zu allererst suchen. Verbrennen? Womit soll ich es verbrennen? Ich habe nicht mal Streichhölzer. Nein, besser wäre es, auszugehen und alles fortzuwerfen!« wiederholte er. »Ja! Das Beste ist Fortwerfen!« wiederholte er, sich wieder auf das Sofa setzend: »Und zwar sofort, augenblicklich, ohne Zeit zu verlieren ...« Statt dessen fiel sein Kopf wieder auf das Kissen; wieder durchschauerte ihn eisige Kälte, wieder zog er seinen Mantel über sich. Lange, mehrere Stunden hintereinander durchzuckte ihn im Schlafe der Gedanke: »Sofort, ohne aufzuschieben, weggehen und alles wegwerfen, damit ich es ein für allemal los bin!« Er versuchte einige Male vom Sofa aufzustehen, konnte es aber nicht mehr. Endgültig geweckt wurde er durch ein starkes Klopfen an der Tür.
»Mach doch auf, lebst du oder nicht? Immer schläft er!« schrie Nastasja, mit der Faust an die Tür schlagend. »Ganze Tage schläft er wie ein Hund! Ist auch ein Hund! Mach doch auf! Ist ja bald elf.«
»Vielleicht ist er gar nicht zu Hause«, versetzte eine Männerstimme.
»Gott, das ist doch die Stimme des Hausknechts ... Was will er bloß?«
Er sprang auf und setzte sich aufs Sofa. Das Herz pochte so stark, daß es sogar wehtat.
»Wie wäre dann die Tür zugehakt?« entgegnete Nastasja. »Sieh mal an, er hat angefangen sich einzuschließen! Fürchtet er, daß man ihn selbst stiehlt? Mach doch auf, du kluger Kopf, mach auf!«
»Was wollen die? Warum ist der Hausknecht dabei? Sie wissen alles. Soll ich Widerstand leisten oder öffnen? Ist ja alles eins ...«
Er stand halb auf, beugte sich vor und nahm den Haken ab.
Seine Kammer war gerade so groß, daß er den Türhaken abnehmen konnte, ohne von seinem Lager aufzustehen.
Es stimmte: vor ihm standen der Hausknecht und Nastasja.
Nastasja sah ihn etwas eigentümlich an. Er warf einen herausfordernden und verzweifelten Blick auf den Hausknecht. Jener reichte ihm schweigend ein graues, doppelt gefaltetes und mit Flaschenlack versiegeltes Papier.
»Eine Vorladung aus dem Bureau,« sagte er, als er ihm das Papier einhändigte.
»Aus welchem Bureau? ...«
»Sie sollen auf die Polizei kommen, ins Bureau. Man weiß doch, was es für ein Bureau ist.«
»Auf die Polizei?! ... Wozu? ...«
»Woher soll ich das wissen? Wenn man vorgeladen wird, muß man hingehen.« Er blickte ihn aufmerksam an, sah sich im Zimmer um und wandte sich zum Gehen.
»Ich glaube, er ist ganz krank!« bemerkte Nastasja, die ihn nicht aus den Augen ließ. Auch der Hausknecht wandte für einen Augenblick den Kopf um. »Seit gestern liegt er im Fieber«, fügte sie hinzu.
Er gab keine Antwort und hielt das Papier in den Händen, ohne es zu öffnen.
»Bleib nur liegen,« fuhr Nastasja etwas milder fort, als sie sah, daß er die Füße vom Sofa herabließ. »Wenn du krank bist, so brauchst du nicht zu gehen: es brennt nicht. Was hast du in den Händen?«
Er blickte hin: in der rechten Hand hielt er noch die abgeschnittenen Fransen, den Strumpf und die Fetzen des herausgerissenen Taschenfutters. So hatte er mit diesen Dingen in der Hand geschlafen. Als er später darüber nachdachte, erinnerte er sich, daß er, auch als er im Fieber lag und ab und zu zum Bewußtsein kam, dies alles fest in der Hand zusammendrückte und dann wieder einschlief.
»Sieh nur an, was er für Lumpen angesammelt hat! Und er schläft mit ihnen, als wäre es eine Kostbarkeit ...«
Nastasja fing zu lachen an. Es war ein krankhaftes, nervöses Lachen.
Sofort stopfte er alles unter den Mantel und heftete auf sie seinen gespannten Blick. Obwohl er in diesem Augenblick kaum klar denken konnte, fühlte er doch, daß man einen Menschen anders behandeln würde, wenn man zu ihm käme, um ihn zu verhaften. – Aber ... die Polizei? –
»Solltest doch etwas Tee trinken! Willst du? Ich bringe dir welchen; ist noch übriggeblieben ...«
»Nein ... ich gehe; ich gehe gleich hin«, murmelte er, aufstehend.
»Wirst wohl die Treppe nicht hinuntergehen können?«
»Ich gehe ...«
»Wie du willst.«
Sie ging mit dem Hausknecht hinaus. Er stürzte sofort zum Fenster, um den Strumpf und die Fransen zu untersuchen. »Flecken sind wohl da, aber kaum zu sehen; alles ist schmutzig geworden, abgerieben und hat schon die Farbe verändert. Wer es nicht vorher weiß, der wird nichts bemerken. Also kann auch Nastasja aus der Ferne nichts gesehen haben, Gott sei Dank!« Jetzt erst entfaltete er zitternd die Vorladung und begann zu lesen; lange las er das Papier, bis er es endlich begriff. Es war eine gewöhnliche Vorladung vom Revier, heute um halb zehn ins Bureau des Revieraufsehers zu kommen.
»Wann hat man so was gesehen? Ich habe doch mit der Polizei nichts zu schaffen! Und warum gerade heute!« dachte er in schmerzvoller Verwirrung. »Mein Gott, wäre das doch schneller zu Ende!« Er wollte schon niederknien, um zu beten, fing aber zu lachen an, nicht über das Gebet, sondern über sich selbst. Dann begann er, sich eilig anzukleiden. »Wenn ich zugrundegehe, so gehe ich eben zugrunde! Ich muß aber den Strumpf anziehen!« fiel es ihm plötzlich ein: »Er wird vom Staub noch schmieriger werden, und dann verschwinden alle Spuren.« Kaum aber hatte er ihn angezogen, als er ihn gleich wieder angeekelt und entsetzt herunterriß. Er riß ihn herunter, überlegte sich aber gleich, daß er keinen anderen hatte, zog ihn wieder an und begann wieder zu lachen. »Alles ist Konvention, alles ist relativ, das sind ja bloß leere Formen!« ging es ihm flüchtig durch den Kopf, streifte nur die äußerste Oberfläche seines Hirns, doch er zitterte am ganzen Leibe. »Nun hab ich ihn doch angezogen! Schließlich hab ich es doch getan!« Sein Lachen ging aber sogleich in Verzweiflung über. »Nein, das geht über meine Kraft ...« dachte er sich. Seine Füße zitterten. »Das kommt von der Angst«, murmelte er vor sich hin. Der Kopf schwindelte ihm und schmerzte vor Fieber. »Das ist eine List! Sie wollen mich mit List einfangen und plötzlich überrumpeln!« fuhr er fort, als er auf die Treppe hinausging. »Es ist schlimm, daß ich im Fieber bin ... ich kann leicht irgendeine Dummheit sagen ...«