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Plötzlich blieb er stehen; eine neue, völlig unerwartete und äußerst einfache Frage brachte ihn auf einmal aus der Fassung und verblüffte ihn bitter:

»Wenn du diese ganze Sache wirklich bewußt und nicht wie ein Narr gemacht hast, wenn du wirklich ein bestimmtes und festes Ziel gehabt hast, warum hast du bisher nicht mal in den Beutel hineingeschaut und weißt nicht, was dir zugefallen ist und weswegen du alle Qualen auf dich genommen und dich mit vollem Bewußtsein zu einer so gemeinen, häßlichen und niedrigen Tat entschlossen hast? Du wolltest doch eben den Beutel mit den anderen Sachen, die du gleichfalls nicht gesehen hast, ins Wasser werfen ... Wie ist es nun?«

Ja, es ist so; alles ist so. Er hatte es übrigens auch vorher gewußt, und die Frage war für ihn gar nicht neu; und als es damals in der Nacht beschlossen wurde, alles ins Wasser zu werfen, so war es ohne jedes Schwanken und ohne Widerspruch beschlossen worden, vielmehr so, als hätte es so sein müssen, als wäre es anders unmöglich ... Ja, er hatte das alles gewußt und alles verstanden; vielleicht schon gestern war es so beschlossen, im gleichen Augenblick, als er über der Truhe hockte und aus ihr die Etuis herausholte ... Es ist doch so! ...

»Es kommt daher, weil ich sehr krank bin,« entschied er plötzlich finster, »ich habe mich selbst zermartert, und ich weiß selbst nicht, was ich tue ... Auch gestern und vorgestern und diese ganze Zeit habe ich mich gemartert ... Wenn ich gesund werde, werde ich mich nicht mehr martern ... Wenn ich aber nicht gesund werde? Mein Gott, wie habe ich das alles satt!« Er ging, ohne stehen zu bleiben. Er wollte so furchtbar gern sich irgendwie zerstreuen, wußte aber nicht, was zu tun, was zu unternehmen. Eine neue, unüberwindliche Empfindung bemächtigte sich seiner von Augenblick zu Augenblick stärker; es war ein grenzenloser, beinahe physischer Ekel vor allem, was ihm begegnete und ihn umgab, ein hartnäckiger, boshafter, gehässiger Widerwille. Alle Menschen, denen er begegnete, waren ihm ekelhaft – ekelhaft waren ihre Gesichter, ihr Gang, ihre Bewegungen. Er wäre imstande, jeden von ihnen anzuspeien oder zu beißen, der ihn angesprochen hätte ...

Er blieb plötzlich stehen, als er den Kai der Kleinen Newa auf der Wassiljewskij-Insel dicht bei der Brücke erreicht hatte. »Hier wohnt er, in diesem Hause«, sagte er sich. »Was, bin ich gar zu Rasumichin gekommen?! Wieder dieselbe Geschichte wie damals ... Es ist doch immerhin interessant: ob ich mit Absicht hergekommen bin oder mich nur zufällig verirrt habe? Ich habe doch sowieso damals ... vorgestern ... gesagt, daß ich ihn ... am andern Tage nach dem aufsuchen werde; nun, ich werde zu ihm hinaufschauen! Als ob ich jetzt nicht mehr zu ihm gehen dürfte ...«

Er stieg zu Rasumichin in den vierten Stock hinauf.

Jener war daheim, in seiner Kammer; er war gerade mit Schreiben beschäftigt und hatte ihm selbst geöffnet. An die vier Monate hatten sie sich nicht gesehen. Rasumichin trug zu Hause einen vollkommen zerfetzten Schlafrock und Pantoffeln auf den bloßen Füßen und war zerzaust, unrasiert und ungewaschen. Sein Gesicht drückte großes Erstaunen aus.

»Was hast du?« rief er aus, indem er seinen Freund vom Kopf bis zu den Füßen musterte. Dann verstummte er und stieß einen Pfiff aus.

»Steht es denn wirklich so schlecht? Du hast unsereins übertroffen, mein Bester«, fügte er mit einem Blick auf Raskolnikows Lumpen hinzu. »Setz dich doch, du bist wohl müde!«

Und als jener sich in sein wachstuchüberzogenes türkisches Sofa fallen ließ, das in einem noch schlimmeren Zustande war als das seinige, merkte Rasumichin plötzlich, daß sein Gast krank war.

»Du bist ja ernstlich krank, weißt du das?«

Er begann seinen Puls zu fühlen; Raskolnikow entriß ihm aber die Hand.

»Laß das«, sagte er, »ich bin gekommen ... es ist folgendes ... ich habe gar keine Stunden ... ich wollte ... es ist mir übrigens nicht um die Stunden zu tun ...«

»Weißt du was? Du phantasierst ja!« bemerkte Rasumichin, der ihn aufmerksam betrachtete.

»Nein, ich phantasiere nicht ...«

Raskolnikow erhob sich vom Sofa. Als er zu Rasumichin hinaufging, dachte er nicht daran, daß er ihm Auge in Auge gegenüberstehen werde. Doch jetzt erfaßte er, durch die Erfahrung belehrt, daß er in diesem Augenblick am allerwenigsten fähig sei, irgend jemand auf der ganzen Welt Auge in Auge gegenüberzustehen. Seine ganze Galle stieg in ihm auf. Er erstickte beinahe vor Wut über sich selbst, daß er über Rasumichins Schwelle getreten war.

»Leb wohl!« sagte er plötzlich und ging zur Tür.

»Warte doch, warte, du komischer Mensch!«

»Laß das! ...« wiederholte jener und riß wieder seine Hand los.

»Zum Teufel, warum bist du dann hergekommen? Bist du verrückt? Das ist ja ... beinahe beleidigend. Ich lasse dich nicht so ...«

»Also höre: Ich bin zu dir gekommen, weil ich außer dir keinen Menschen kenne, der mir helfen könnte ... anzufangen ... weil du besser, das heißt klüger bist als sie alle und alles erwägen kannst ... Jetzt sehe ich aber, daß ich nichts brauche, hörst du, gar nichts ... weder einen Dienst noch Teilnahme ... Ich will selbst ... allein ... Nun, es ist genug! Laß mich in Ruhe!«

»Aber wart' einen Augenblick, du Schornsteinfeger. Du bist ganz von Sinnen! Von mir aus kannst du tun, was du willst. Siehst du, ich habe keine Stunden, und ich pfeife drauf, doch auf dem Trödlermarkte gibt es den Buchhändler Cheruwimow, dieser ist auch eine Stunde seiner Art. Jetzt gebe ich ihn auch für fünf Stunden in Kaufmannshäusern nicht her. Er gibt so allerlei kleine Sachen und naturwissenschaftliche Bücher heraus, und wie die gehen! Was schon die Titel allein wert sind! Du hast immer behauptet, ich sei dumm; bei Gott, Bruder, es gibt Menschen, die noch dümmer sind als ich! Jetzt macht er sogar Tendenzliteratur; er hat davon zwar keinen blauen Dunst, und ich sporne ihn natürlich an. Hier sind etwas mehr als zwei Bogen deutscher Text – meiner Ansicht nach die dümmste Scharlatanerie; mit einem Wort, es wird hier die Frage untersucht, ob die Frau ein Mensch sei oder nicht. Natürlich wird zuletzt sehr feierlich erklärt, sie sei ein Mensch. Cheruwimow bringt das als Beitrag zur Frauenfrage; ich mache die Übersetzung; er wird diese zweiundeinhalb Bogen auf sechs Bogen breitziehen, wir werden einen prunkvollen Titel, der eine halbe Seite füllen wird, erfinden und es zu fünfzig Kopeken verkaufen. Es findet schon seinen Absatz! Für die Übersetzung bekomme ich sechs Rubel für den Bogen, für das Ganze also an die fünfzehn Rubel, sechs Rubel habe ich mir im voraus bezahlen lassen. Wenn wir damit fertig sind, fangen wir an, ein Buch über die Walfische zu übersetzen, dann haben wir uns im zweiten Band der ›Confessions‹ einige langweilige Klatschgeschichten angemerkt und werden auch sie übersetzen; dem Cheruwimow hat jemand gesagt, Rousseau sei eine Art Radischtschew. Ich widerspreche ihm natürlich nicht, hol ihn der Teufel! Nun, willst du den zweiten Bogen von ›Ist die Frau ein Mensch?‹ übersetzen? Wenn du willst, so nimm gleich den Text, auch Papier und Federn – das wird alles vom Verleger beigestellt – nimm auch die drei Rubeclass="underline" da ich die ganze Übersetzung für den ersten und zweiten Bogen vorausgezahlt bekommen habe, so kommen auf deinen Teil gerade drei Rubel. Und wenn du mit dem Bogen fertig bist, kriegst du noch drei Rubel. Und dann noch eins: halte es bitte nicht für einen Dienst meinerseits. Im Gegenteiclass="underline" gleich als du hereinkamst, sagte ich mir, womit du mir nützlich sein kannst. Ich bin erstens in der Orthographie nicht ganz sicher und zweitens im Deutschen oft sehr schwach, so daß ich meistens einfach dichte und mich nur damit tröste, daß es dadurch noch besser wird. Wer kann es aber wissen – vielleicht wird es gar nicht besser, sondern schlechter ... Nimmst du es oder nicht?«