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»Sehr schlau! Nein, Bruder, das ist zu schlau. Das ist schlauer als alles!«

»Aber warum denn, warum denn?«

»Weil alles gar zu genau ineinander paßt ... und die Fäden so fein verschlungen sind ... wie im Theater.«

»Ach Gott!« begann Rasumichin, aber in diesem Augenblick ging die Tür auf, und herein trat eine neue Person, die allen Anwesenden unbekannt war.

V

Es war ein nicht mehr junger Herr, stattlich und steif, mit einem Gesichtsausdruck, als sei er auf der Hut und als ekle er sich. Er begann damit, daß er in der Tür stehenblieb und mit einem Erstaunen, das er in einer geradezu verletzenden Weise nicht verhehlte, um sich blickte, als fragte er mit den Augen: »Wohin bin ich denn geraten?« Mißtrauisch, sogar mit dem affektierten Ausdruck einer gewissen Angst, fast eines Beleidigtseins, betrachtete er die enge und niedrige »Schiffskajüte« Raskolnikows. Mit dem gleichen Erstaunen richtete er dann seine Blicke auf Raskolnikow selbst, der nicht angekleidet, zerzaust und ungewaschen auf seinem schmutzigen elenden Sofa lag und ihn ebenso unverwandt musterte. Darauf begann er ebenso bedächtig die zerzauste, unrasierte und ungekämmte Gestalt Rasumichins zu betrachten, der ihm seinerseits frech und fragend gerade in die Augen blickte, ohne sich vom Platze zu rühren. Das gespannte Schweigen dauerte etwa eine Minute, und schließlich erfolgte, wie es auch zu erwarten war, ein kleiner Dekorationswechsel. Als der Gast nach einigen, übrigens sehr deutlichen Anzeichen wohl eingesehen hatte, daß in dieser Schiffskajüte durch übertrieben stolze Haltung nichts auszurichten war, wurde er etwas weicher und versetzte, sich an Sossimow wendend, höflich, doch nicht ohne Strenge, jede Silbe seiner Frage betonend:

»Rodion Romanowitsch Raskolnikow, Student oder ehemaliger Student?«

Sossimow machte eine langsame Bewegung und hätte vielleicht geantwortet, wenn ihm nicht Rasumichin, an den man sich gar nicht gewandt hatte, sofort zuvorgekommen wäre.

»Hier liegt er auf dem Sofa! Und was wollen Sie?«

Dieses familiäre »Und was wollen Sie?« machte auf den steifen Herrn einen sehr peinlichen Eindruck; fast hätte er sich zu Rasumichin umgewandt, beherrschte sich aber noch rechtzeitig und wandte sich schnell wieder an Sossimow.

»Da ist Raskolnikow!« sagte Sossimow langsam und undeutlich mit einem Wink auf den Kranken; dann gähnte er, wobei er seinen Mund ungewöhnlich weit aufriß und ihn dann ungewöhnlich lange in diesem Zustande behielt. Dann griff er sehr langsam in seine Westentasche, holte eine riesengroße dicke goldene Uhr mit zwei Deckeln hervor, öffnete sie und begann sie ebenso langsam wieder in die Tasche zu stecken.

Raskolnikow selbst lag die ganze Zeit schweigend auf dem Rücken und blickte unverwandt, wenn auch gedankenlos, den Besucher an. Sein Gesicht, das er jetzt von der interessanten Blume auf der Tapete losgerissen hatte, war ungewöhnlich blaß und drückte einen außerordentlichen Schmerz aus, als hätte er soeben eine qualvolle Operation überstanden oder als hätte man ihn von einer Tortur befreit. Doch der eingetretene Herr erregte in ihm erst immer mehr und mehr Aufmerksamkeit, dann Erstaunen, dann Mißtrauen und sogar etwas wie Angst. Und als Sossimow mit einem Wink auf ihn sagte: »Da ist Raskolnikow«, setzte er sich schnell mit einem Ruck auf dem Lager auf und sagte beinahe herausfordernd, doch mit gebrochener, schwacher Stimme:

»Ja! Ich bin Raskolnikow! Was wollen Sie?«

Der Gast blickte ihn aufmerksam an und sagte eindringlich:

»Pjotr Petrowitsch Luschin. Ich nehme als sicher an, daß mein Name Ihnen nicht ganz unbekannt ist.«

Aber Raskolnikow, der etwas ganz anderes erwartet hatte, sah ihn stumpf und nachdenklich an und antwortete nicht, als höre er den Namen Pjotr Petrowitschs wirklich zum erstenmal.

»Wie, haben Sie denn bisher noch keinerlei Nachrichten bekommen?« fragte Pjotr Petrowitsch peinlich berührt.

Statt eine Antwort zu geben, ließ sich Raskolnikow langsam auf das Kissen fallen, verschränkte die Hände im Nacken und richtete seinen Blick auf die Zimmerdecke. Luschins Züge zeigten Langweile und Unbehagen. Sossimow und Rasumichin fingen an, ihn mit noch größerer Neugier zu mustern, und er wurde schließlich sichtlich verlegen.

»Ich nahm an und rechnete,« sagte er langsam, »daß der Brief, der schon vor mehr als zehn Tagen, vielleicht sogar vor zwei Wochen abgegangen ist ...«

»Hören Sie mal, was sollen Sie immer in der Tür stehen?« unterbrach ihn plötzlich Rasumichin. »Wenn Sie etwas zu sagen haben, so setzen Sie sich, denn für Sie und Nastasja ist es in der Tür zu eng. Nastasjuschka, laß den Herrn durchgehen! Kommen Sie herein, hier haben Sie einen Stuhl! Kriechen Sie doch herein!«

Er rückte seinen Stuhl vom Tische weg, machte den Raum zwischen dem Tisch und seinen Knien ein wenig frei und wartete in gespannter Stellung, daß der Gast durch diesen Spalt durchkrieche. Der Augenblick war so gewählt, daß jener sich nicht weigern konnte, und der Gast kroch eilig und stolpernd durch den engen Zwischenraum. Nachdem er den Stuhl erreicht hatte, setzte er sich hin und blickte Rasumichin mißtrauisch an.

»Genieren Sie sich bitte nicht«, warf jener hin. »Rodja ist schon den fünften Tag krank und hat drei Tage phantasiert; jetzt ist er zu sich gekommen und hat sogar mit Appetit gegessen. Da sitzt sein Arzt, er hat ihn soeben untersucht, und ich bin Rodjas Kollege, auch ein ehemaliger Student, und bemuttere ihn jetzt; nehmen Sie also bitte auf uns keine Rücksicht und sagen Sie, was Sie wollen.«

»Ich danke Ihnen. Werde ich aber nicht den Kranken durch meine Anwesenheit und mein Gespräch beunruhigen?« wandte sich Pjotr Petrowitsch an Sossimow.

»N-nein«, sagte Sossimow langsam. »Sie können ihn vielleicht zerstreuen.« Und er gähnte wieder.

»Oh, er ist schon lange bei Besinnung, seit heute früh!« fuhr Rasumichin fort, dessen Familiarität den Eindruck einer so unverfälschten Herzenseinfalt machte, daß Pjotr Petrowitsch nach einiger Überlegung seine Fassung wieder gewann, vielleicht zum Teil auch darum, weil dieser abgerissene und freche Mensch sich schon als Student vorgestellt hatte.

»Ihre Frau Mama ...« begann Luschin.

»Hm!« versetzte Rasumichin laut.

Luschin sah ihn fragend an.

»Ich sage nichts. Fahren Sie fort ...«

Luschin zuckte die Achseln.

»... Ihre Frau Mama hat, noch als ich dort war, einen Brief an Sie begonnen. Nach meiner Ankunft ließ ich absichtlich einige Tage verstreichen und suchte Sie nicht auf, um ganz sicher zu sein, daß Sie von allem unterrichtet sind; jetzt aber ... zu meinem Erstaunen ...« ...«

»Ich weiß, ich weiß!« sagte plötzlich Raskolnikow mit dem Ausdrucke des ungeduldigsten Ärgers. »Sie sind es? Der Bräutigam? Nun, ich weiß! ... und genug davon! ...«

Pjotr Petrowitsch fühlte sich entschieden verletzt, sagte aber nichts. Er bemühte sich, möglichst schnell dahinter zu kommen, was dies alles zu bedeuten habe. Das Schweigen währte etwa eine Minute.

Raskolnikow, der sich bei seiner Antwort ein wenig zu ihm umgewandt hatte, begann indessen wieder, ihn aufmerksam und mit einer eigentümlichen Neugier zu betrachten, als hätte er vorhin noch nicht Zeit gehabt, ihn vollständig zu sehen, oder als hätte ihn etwas Neues an ihm überrascht; er hob sogar zu diesem Zweck seinen Kopf vom Kissen. Im ganzen Aussehen Pjotr Petrowitschs fiel in der Tat etwas Eigentümliches auf, was die Bezeichnung »Bräutigam«, die man ihm soeben etwas ungeniert verliehen hatte, zu rechtfertigen schien. Erstens konnte man ihm ansehen, und zwar viel zu deutlich, daß Pjotr Petrowitsch sich mit Eifer beeilt hatte, die einigen Tage seines Aufenthalts in der Residenz auszunutzen, um sich in Erwartung der Braut auszuputzen und zu verschönen, was übrigens höchst harmlos und erlaubt war. Sogar das vielleicht etwas allzu selbstzufriedene Bewußtsein seiner angenehmen Veränderung zum Besseren konnte ihm in diesem Falle nachgesehen werden, denn Pjotr Petrowitsch befand sich ja im Stande eines Bräutigams. Seine ganze Kleidung war soeben vom Schneider gekommen, und alles war schön; auszusetzen wäre vielleicht nur, daß alles viel zu neu war und den bestimmten Zweck zu sehr unterstrich. Selbst der elegante, neue runde Hut zeugte von diesem Zweck: Pjotr Petrowitsch behandelte ihn allzu respektvoll und hielt ihn allzu vorsichtig in den Händen. Selbst das wunderschöne Paar fliederfarbener Handschuhe – ein echtes Erzeugnis von Jouvin – zeugte davon, wenn auch nur dadurch, daß er sie nicht angezogen hatte, sondern als Paradestück in der Hand hielt. In der Kleidung Pjotr Petrowitschs herrschten helle und jugendliche Farben vor. Er trug einen hübschen hellbraunen Sommerrock, eine leichte helle Hose, eine Weste aus dem gleichen Stoff, soeben angeschaffte feine Wäsche und eine sehr leichte Battistkrawatte mit rosa Streifen, und das beste daran war, daß dies alles Pjotr Petrowitsch nett zu Gesicht stand. Sein frisches und sogar hübsches Gesicht ließ ihn auch ohnehin jünger als fünfundvierzig Jahre, die er zählte, erscheinen. Der dunkle Backenbart umrahmte es in Form zweier Koteletts anmutig von beiden Seiten und verdichtete sich sehr hübsch an seinem glänzenden, sorgfältig rasierten Kinn. Sogar seine übrigens nur hier und da ergrauten Haare, die vom Friseur gekämmt und gekräuselt waren, erschienen dadurch in keiner Weise lächerlich oder dumm, was doch meistens bei gekräuselten Haaren der Fall ist, weil sie dem Gesicht unbedingt die Ähnlichkeit mit einem Deutschen verleihen, der zur Trauung geht. Und wenn in diesem recht hübschen und soliden Gesicht wirklich etwas Unangenehmes und Abstoßendes lag, so beruhte das auf anderen Ursachen. Nachdem Raskolnikow Herrn Luschin recht ungeniert betrachtet hatte, lächelte er giftig, ließ sich wieder auf das Kissen fallen und begann wie früher auf die Decke zu sehen.