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Herr Luschin nahm sich aber zusammen und entschloß sich anscheinend, diesen Eigentümlichkeiten vorerst keine Beachtung zu schenken.

»Ich bedaure sehr lebhaft, daß ich Sie in diesem Zustande treffe«, begann er wieder, mit Mühe das Schweigen brechend. »Wenn ich von Ihrem Zustande etwas gewußt hätte, so wäre ich schon früher gekommen. Aber, wissen Sie, die Geschäfte! ... Außerdem habe ich eine sehr wichtige Sache im Senat, die meine Advokatenpraxis betrifft. Die anderen Sorgen, die Sie leicht erraten können, erwähne ich gar nicht. Die Ihrigen, das heißt Ihre Frau Mama und Schwester, erwarte ich von Stunde zu Stunde ...«

Raskolnikow machte eine Bewegung und wollte etwas sagen. Sein Gesicht drückte einige Erregung aus. Pjotr Petrowitsch hielt inne und wartete; da aber nichts erfolgte, fuhr er fort:

»... Von Stunde zu Stunde. Ich habe für sie zunächst eine Wohnung gefunden ...«

»Wo?« fragte Raskolnikow mit schwacher Stimme.

»Gar nicht weit von hier, im Hause Bakalejews ...«

»Das ist auf dem Wosnesenskij-Prospekt«, unterbrach ihn Rasumichin. »Dort sind zwei Stockwerke voller möblierter Zimmer. Sie gehören dem Kaufmann Juschin; ich bin dort schon mal gewesen.«

»Ja, es sind möblierte Zimmer ...«

»Fürchterlich und ekelhaft: Schmutz, Gestank und außerdem ein verdächtiger Ort: es ist da manches passiert. Auch weiß der Teufel, wer da nicht alles wohnt! ... Ich selbst bin dort mal anläßlich einer Skandalaffäre gewesen. Übrigens ist es billig.«

»Selbstverständlich konnte ich dies alles gar nicht erfahren, denn ich bin hier neu«, antwortete Pjotr Petrowitsch empfindlich. »Es sind übrigens zwei außerordentlich saubere Zimmerchen, und da es sich nur um eine kurze Zeit handelt ... Ich habe auch schon eine wirkliche, das heißt unsere zukünftige Wohnung gemietet«, wandte er sich an Raskolnikow, »und jetzt wird sie fertiggemacht; inzwischen hause ich auch selbst in einem möblierten Zimmer, zwei Schritte von hier, bei der Frau Lippewechsel, in der Wohnung meines jungen Freundes Andrej Ssemjonytsch Lebesjatnikow; er hat mir auch das Haus Bakalejews empfohlen ...« ...«

»Bei Lebesjatnikow?« sagte Raskolnikow langsam, als ob er sich auf etwas besinne.

»Ja, bei Andrej Ssemjonytsch Lebesjatnikow, der im Ministerium angestellt ist. Kennen Sie ihn?«

»Nein ...« antwortete Raskolnikow.

»Entschuldigen Sie, Ihre Frage ließ mich es vermuten. Ich war einmal sein Vormund ... Ein sehr netter junger Mann ... der dem Zeitgeiste folgt ... Ich aber freue mich immer, wenn ich mit der Jugend zusammenkomme: an ihr erfährt man alles, was es Neues gibt.«

Pjotr Petrowitsch sah die Anwesenden erwartungsvoll an.

»Wie meinen Sie das?« fragte Rasumichin.

»Ich meine es ernsthaft, sozusagen den Kern der Sache«, fiel Pjotr Petrowitsch ein, als wäre er über die Frage erfreut. »Sehen Sie, ich bin seit zehn Jahren nicht mehr in Petersburg gewesen. Alle unsere Neuerungen, Reformen, Ideen haben auch uns in unserer Provinz erreicht, doch um dies alles genau zu sehen, muß man in Petersburg sein. Ich stehe aber auf dem Standpunkte, daß man am meisten sieht und erfährt, wenn man unsere junge Generation betrachtet! Offen gestanden, war ich sehr erfreut ...«

»Worüber denn?«

»Ihre Frage ist sehr weit gesteckt. Ich kann mich irren, doch es scheint mir, daß ich einen klaren und, sozusagen, kritischeren Blick finde; mehr Tüchtigkeit ...«

»Das stimmt«, sagte Sossimow durch die Zähne.

»Unsinn, es ist keine Tüchtigkeit da«, fiel ihm Rasumichin erregt ins Wort. »Tüchtigkeit wird durch Mühe erworben und fällt nicht vom Himmel. Wir aber sind fast seit zweihundert Jahren von jeder Arbeit entwöhnt ... Ideen spuken vielleicht auch herum«, wandte er sich an Pjotr Petrowitsch, »und es ist auch ein Streben nach dem Guten da, wenn es auch kindisch ist; man kann auch Ehrlichkeit vorfinden, obwohl sich hier unzählige Gauner versammelt haben, aber von Tüchtigkeit ist dennoch nichts zu sehen! Tüchtigkeit hat Stiefel an ...«

»Ich kann Ihnen nicht zustimmen«, entgegnete Pjotr Petrowitsch mit sichtbarem Genuß. »Natürlich gibt es Übertreibungen und Verirrungen, man muß aber auch nachsichtig sein; die Übertreibungen zeugen von Eifer für die Sache und von den unnormalen äußern Umständen, unter denen man zu arbeiten hat. Und wenn noch wenig getan ist, so war ja auch die Zeit so kurz. Von den Mitteln spreche ich nicht. Wenn Sie wollen, ist meine persönliche Überzeugung, daß auch schon etwas getan ist: es sind neue, nützliche Gedanken verbreitet worden, es sind einige neue nützliche Werke an Stelle der früheren, schwärmerischen und romantischen erschienen; die Literatur nimmt eine immer reifere Form an; viele schädliche Vorurteile sind ausgerottet worden und wirken nur noch lächerlich ... Mit einem Worte, wir haben uns unwiderruflich von der Vergangenheit getrennt, und das ist nach meiner Ansicht auch schon eine Tat ...«

»Das hat er auswendig gelernt! Will sich damit wohl empfehlen«, sagte plötzlich Raskolnikow.

»Wie meinen?« fragte Pjotr Petrowitsch, der es nicht recht gehört hatte, bekam aber keine Antwort.

»Das stimmt alles«, beeilte sich Sossimow zu bemerken.

»Nicht wahr?« fuhr Pjotr Petrowitsch mit einem gewinnenden Blick auf Sossimow fort. »Sie werden doch selbst zugeben«, sagte er, sich an Rasumichin wendend, doch schon im Tone eines gewissen Triumphes und einer Überlegenheit; beinahe hätte er »junger Mann« hinzugefügt, – »daß es wohl einen Fortschritt oder, wie man sich jetzt ausdrückt, einen Progreß gibt, und wenn auch nur im Namen der Wissenschaft und der ökonomischen Lehrsätze ...«

»Ein Gemeinplatz!«

»Nein, es ist kein Gemeinplatz! Wenn man mir zum Beispiel bisher sagte: ›Liebe deinen Nächsten‹ und ich ihn liebte, was kam dabei heraus?« fuhr Pjotr Petrowitsch vielleicht gar zu eifrig fort. »Es kam dabei heraus, daß ich meinen Rock mitten entzweiriß und ihn mit meinem Nächsten teilte; so blieben wir beide halbnackt, wie es im russischen Sprichworte heißt: ›Wenn du mehreren Hasen nachjagst, fängst du keinen einzigen.‹ Die Wissenschaft aber sagt: Liebe zunächst dich selbst, denn alles in der Welt ist auf persönlichen Interessen gegründet. Wenn du dich selbst liebst, so besorgst du deine eigenen Geschäfte wie es sich gehört, und dein Rock bleibt ganz. Die ökonomische Wissenschaft fügt aber hinzu, daß, je mehr es in der Gesellschaft geordnete Privatangelegenheiten, sozusagen ganze Röcke gibt, sie um so mehr feste Grundlagen hat und auch die allgemeine Sache dadurch besser geordnet wird. Wenn ich also ausschließlich und einzig für mich selbst erwerbe, so erwerbe ich gleichsam auch für alle und erreiche damit, daß auch mein Nächster etwas mehr als einen zerrissenen Rock bekommt, und zwar nicht mehr aus privater Freigebigkeit einer Einzelperson, sondern infolge des allgemeinen Wohlstandes. Der Gedanke ist einfach, ist aber leider lange Zeit niemand eingefallen, da er von Exaltation und Schwärmerei verdeckt war; und doch müßte man meinen, daß man gar nicht besonders geistreich zu sein braucht, um auf ihn zu kommen ...«