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»Lieben Sie Straßengesang?« wandte sich Raskolnikow an einen nicht mehr jungen Passanten, der neben ihm vor dem Leierkasten stand und wie ein Flaneur aussah. Jener blickte ihn bestürzt und erstaunt an. – »Ich liebe ihn«, fuhr Raskolnikow fort, doch mit einer Miene, als rede er gar nicht vom Straßengesang. »Ich liebe es, wenn an einem kalten, dunklen und feuchten Herbstabend zum Leierkasten gesungen wird, unbedingt an einem feuchten, wenn alle Leute auf der Straße blaßgrüne und kranke Gesichter haben; oder noch besser, wenn nasser Schnee ganz gerade, ohne Wind herabfällt, wissen Sie, und die Flammen der Gaslaternen hindurchleuchten ...«

»Ich weiß nicht ... Entschuldigen Sie ...« murmelte der Herr, wie durch die Frage, so auch durch das sonderbare Aussehen Raskolnikows erschreckt, und ging auf die andere Straßenseite hinüber.

Raskolnikow ging geradeswegs weiter und gelangte zu der Ecke des Heumarktes, wo der Kleinbürger und seine Frau, die damals mit Lisaweta sprachen, ihre Verkaufsstände hatten; jetzt waren sie aber nicht da. Als er aber die Stelle erkannt hatte, blieb er stehen, sah sich um und wandte sich an einen jungen Burschen im roten Hemde, der vor dem Eingange zu einem Mehllager gähnte.

»Hier handelt doch an der Ecke ein Kleinbürger mit einem Weib, seiner Frau, wie?«

»Allerlei Leute handeln hier«, antwortete der Bursche, Raskolnikow mit einem Blicke messend.

»Wie heißt er?«

»Wie man ihn getauft hat, so heißt er.«

»Bist du nicht auch aus dem Saraisker Kreise? Aus welchem Gouvernement bist du?«

Der Bursche sah Raskolnikow von oben herab an.

»Wir haben kein Gouvernement, Eure Durchlaucht, sondern bloß einen Kreis; die Reise hat mein Bruder gemacht, ich saß aber zu Hause und weiß von nichts ... Verzeihen Sie gütigst, Durchlaucht.«

»Ist es eine Garküche dort oben?«

»Es ist ein Wirtshaus, es gibt ein Billard, und man kann auch Prinzessinnen finden ... Eine Wonne!«

Raskolnikow durchschritt den Platz. Dort an der anderen Ecke stand eine dichte Volksmenge, lauter Bauern. Er drängte sich mitten hinein und blickte in jedes Gesicht. Aus irgendeinem Grunde fühlte er sich hingezogen, jeden Menschen anzusprechen. Die Bauern beachteten ihn aber nicht; sie redeten laut unter sich und drängten sich zu kleinen Gruppen zusammen. Er stand und dachte eine Weile nach und ging dann nach rechts über das Trottoir in der Richtung zum W–schen Prospekt. Nachdem er den Platz wieder durchschritten hatte, geriet er in ein Gäßchen ...

Er war auch früher oft durch dieses kurze, krumme Gäßchen gegangen, das den Heumarkt mit der Ssadowaja verbindet. In der letzten Zeit zog es ihn sogar hin, sich an allen diesen Stellen herumzutreiben, wenn es ihm übel zumute war, »damit es noch übler werde«. Jetzt ging er aber, ohne an etwas zu denken. Es gibt hier ein großes Haus, das ganz mit Schenken und sonstigen Speise- und Trinklokalen angefüllt ist; aus diesen kamen jeden Augenblick Frauen heraus, gekleidet, wie man »in der Nachbarschaft« Besuche zu machen pflegt – barhaupt und ohne Mäntel. An mehreren Stellen drängten sie sich auf dem Trottoir in Gruppen, vorwiegend vor den Eingängen zu den Kellergeschossen, wo zwei Stufen in allerlei sehr amüsante Vergnügungsstätten hinabführen. Aus einem dieser Lokale tönte in diesem Augenblick ein Lärmen und Trampeln, so daß es auf der ganzen Straße zu hören war; eine Gitarre klimperte, jemand sang, und es schien sehr lustig zuzugehen. Eine große Gruppe von Frauen drängte sich am Eingange; andere saßen auf den Stufen, andere wieder auf dem Trottoir; einige standen herum und unterhielten sich. Auf dem Straßenpflaster daneben ging, laut fluchend, ein betrunkener Soldat mit einer Zigarette im Munde auf und ab; anscheinend wollte er irgendwo einkehren, hatte aber wohl vergessen, wo. Ein abgerissener Kerl zankte sich mit einem anderen abgerissenen Kerl, und ein sinnlos Betrunkener lag quer über der Straße. Raskolnikow blieb vor der großen Gruppe von Frauen stehen. Sie sprachen mit heiseren Stimmen; alle waren barhaupt und hatten Kattunkleider und Bocklederschuhe an. Einige waren über vierzig Jahre alt, doch es gab auch siebzehnjährige darunter, fast alle mit blauen Flecken unter den Augen.

Aus irgendeinem Grunde interessierte ihn dieser ganze Lärm dort unten ... Man hörte, wie jemand unter dem Lachen und Kreischen zur ausgelassenen Melodie, die eine Fistelstimme sang, und zu den Tönen einer Gitarre wie verrückt tanzte und den Takt mit den Absätzen schlug. Er hörte finster und nachdenklich zu und blickte, sich vor dem Eingange bückend, neugierig vom Trottoir in den Vorraum hinein.

»Schöner Schutzmann, laß dir's sagen:

Sollst mich ohne Grund nicht schlagen!«

tönte die dünne Stimme des Sängers. Raskolnikow hatte großes Verlangen, zu hören, was da gesungen wurde, als wäre das die Hauptsache.

»Soll ich nicht hineingehen?« dachte er. »Sie lachen. Sind wohl betrunken. Soll ich mich vielleicht auch betrinken?«

»Wollen Sie nicht einkehren?« fragte eine der Frauen mit ziemlich heller und noch nicht ganz heiserer Stimme. Sie war jung und nicht mal abstoßend – die einzige in der ganzen Gruppe.

»Sieh mal an, wie hübsch die ist!« antwortete er, nachdem er sich aufgerichtet und sie angeblickt hatte.

Sie lächelte; das Kompliment gefiel ihr gut.

»Sie sind auch selbst sehr hübsch«, sagte sie.

»Wie mager!« bemerkte eine andere mit einer Baßstimme. »Kommen Sie eben aus dem Spital?«

»Ihr seid zwar alle Generalstöchter, habt aber lauter Stutznasen!« unterbrach sie plötzlich ein Bauer, der angeheitert im aufgeknöpften Mantel und mit einer verschmitzt lächelnden Visage herantrat. »Sieh mal an, wie lustig!«

»Tritt nur ein, wenn du schon da bist!«

»Ich trete schon ein! Ist das ein süßes Leben!«

Und er kugelte hinunter.

Raskolnikow ging weiter.

»Hören Sie, Herr!« rief ihm das Mädchen nach.

»Was denn?«

Sie wurde verlegen.

»Lieber Herr, ich werde mich immer freuen, mit Ihnen meine Stunden zu vertreiben, aber jetzt kann ich mir vor Ihnen kein Herz fassen. Schenken Sie mir, mein angenehmer Kavalier, sechs Kopeken zu einem Schluck Branntwein!«

Raskolnikow holte aus der Tasche, was er mit den Fingern gerade erwischte: drei Fünfkopekenstücke.

»Ach, was für ein gütiger Herr!«

»Wie heißt du?«

»Fragen Sie nach der Duklida.«

»Nein, das geht doch nicht«, bemerkte plötzlich ein anderes Frauenzimmer aus der Gruppe, über Duklida den Kopf schüttelnd. »Ich weiß gar nicht, wie man nur so betteln kann! Ich würde, glaube ich, vor lauter Scham in die Erde versinken!«

Raskolnikow sah die Sprechende neugierig an. Es war ein pockennarbiges Mädel, an die dreißig Jahre alt, voll blauer Flecken im Gesicht und mit geschwollener Oberlippe. Sie sprach und kritisierte ruhig und ernst.

»Wo habe ich bloß gelesen,« dachte sich Raskolnikow im Weitergehen, »daß ein zum Tode Verurteilter eine Stunde vor dem Tode sagt oder denkt: wenn er nur irgendwo in der Höhe, auf einem Felsen, auf einem so schmalen Plateau, das nur für seine zwei Füße Platz hätte, leben könnte – rings Abgründe, Ozean, ewige Finsternis, ewige Einsamkeit und ewiger Sturm –, und so auf diesem nur einen Arschin breiten Raum sein ganzes Leben lang, tausend Jahre, eine Ewigkeit bleiben sollte – so wäre es besser, so zu leben, als jetzt gleich zu sterben! Wie das Leben auch sei, nur leben, leben, leben! ... Wie wahr! Mein Gott, wie wahr! Gemein ist doch der Mensch! ... Und gemein ist auch der, der ihn deswegen gemein nennt«, fügte er nach einer Minute hinzu.