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Er spuckte aus und ging mit raschen Schritten wieder in den »Kristallpalast« zurück, um möglichst schnell Samjotow auszufragen.

Raskolnikow ging direkt auf die *sche Brücke, blieb in der Mitte am Geländer stehen, stützte darauf beide Ellenbogen und fing an, in die Ferne zu schauen. Nach dem Abschied von Rasumichin war er auf einmal so schwach geworden, daß er sich nur mit Mühe hatte hierherschleppen können. Er wollte sich auf der Straße irgendwo hinsetzen oder hinlegen. Über das Wasser gebeugt, blickte er mechanisch auf den letzten rosigen Widerschein des Abendrots, auf die Reihe der Häuser, die in der sich verdichtenden Dämmerung dunkel dastanden, auf ein fernes Fenster an irgendeiner Mansarde auf dem linken Kai, das, für einen Augenblick von einem letzten Sonnenstrahl getroffen, wie Feuer erglänzte, auf das dunkelnde Wasser des Kanals, und er bohrte seinen Blick in dieses Wasser. Schließlich drehten sich vor seinen Augen rote Kreise, die Häuser schwankten, die Menschen, die Kais, die Equipagen – alles um ihn herum wirbelte und tanzte. Plötzlich fuhr er zusammen, durch ein wildes häßliches Gesicht vielleicht vor einem neuen Ohnmachtsanfall bewahrt. Er fühlte, wie sich jemand rechts neben ihn stellte; er blickte hin und sah eine großgewachsene Frau, mit einem Tuche um den Kopf, mit einem gelben, länglichen, abgelebten Gesicht und roten eingefallenen Augen. Sie blickte gerade auf ihn, sah und unterschied aber offenbar nichts. Plötzlich stützte sie sich mit der rechten Hand auf das Geländer, hob das rechte Bein, schwang es über das Gitter, dann das linke und stürzte sich in den Kanal. Das schmutzige Wasser öffnete den Schlund und verschlang für einen Augenblick sein Opfer, doch nach einer Minute tauchte die Selbstmörderin wieder auf und trieb langsam mit der Strömung, den Kopf und die Füße im Wasser, den Rücken nach oben; der Rock war hinaufgerutscht und ragte, zu einem Kissen angeschwollen, über dem Wasser.

»Sie hat sich ertränkt! Ertränkt!« riefen Dutzende von Stimmen; die Leute liefen zusammen, beide Ufer bedeckten sich mit Zuschauern, auf der Brücke um Raskolnikow herum drängte sich das Volk und drückte ihn von rückwärts ans Geländer.

»Väterchen, das ist ja unsere Afrossinjuschka!« ertönte irgendwo in der Nähe eine jammernde Frauenstimme ... »Väterchen, rettet! Liebe Menschen, zieht sie heraus!«

»Ein Boot! Ein Boot!« schrie man in der Menge.

Das Boot war aber schon unnötig: ein Schutzmann war die zum Kanal führenden Stufen hinuntergelaufen, hatte Mantel und Stiefel ausgezogen und sich ins Wasser gestürzt. Er hatte nicht viel zu arbeiten: die Selbstmörderin trieb etwa zwei Schritte von der Treppe vorbei; er packte mit der einen Hand ihre Kleider und mit der anderen eine Stange, die ihm ein Kamerad hinhielt, und die Selbstmörderin war im Nu herausgefischt. Man legte sie auf die Granitplatten des Ufers. Sie kam bald zu sich, setzte sich auf und begann zu niesen und zu prusten, während sie sich mit den Händen wie geistesabwesend ihr nasses Kleid abwischte. Sie sagte nichts.

»Sie hat sich vollgesoffen, bis sie weiße Mäuse sah, Väterchen, weiße Mäuse!« jammerte die gleiche Frauenstimme, schon dicht neben Afrossinjuschka. »Neulich wollte sie sich erhängen, da nahm man sie aus der Schlinge. Ich ging eben zum Krämer, ließ mein Mädel bei ihr zurück zum Aufpassen, und da ist schon das Unglück geschehen! Eine Kleinbürgerin ist sie, Väterchen, eine Kleinbürgerin, gleich in der Nähe wohnen wir, im zweiten Haus von der Ecke, hier gleich ...«

Die Menge zerstreute sich, die Polizisten machten sich noch bei der Selbstmörderin zu schaffen, jemand rief etwas vom Polizeibureau ... Raskolnikow betrachtete alles mit seltsamer Gleichgültigkeit und Teilnahmlosigkeit. Er spürte Ekel. »Nein, es ist ekelhaft ... Wasser ... es lohnt sich nicht«, murmelte er vor sich hin. »Es wird nichts werden,« fügte er hinzu, »es hat keinen Sinn, zu warten. Was ist mit dem Polizeibureau ... Warum ist Samjotow nicht im Bureau? Das Bureau ist doch um zehn Uhr offen ...« Er wandte sich mit dem Rücken zum Geländer und sah sich um.

»Nun, warum auch nicht! Man kann's auch so!« sagte er entschlossen. Er verließ die Brücke und ging in die Richtung nach dem Polizeibureau. In seinem Herzen war es leer und öde. Er wollte an nichts denken. Auch sein ganzer Gram war verschwunden, auch von der früheren Energie, als er von zu Hause fortging, um »allem ein Ende zu machen«, war keine Spur geblieben! An ihre Stelle war volle Apathie getreten.

»Nun, auch das ist ein Ausweg!« dachte er sich, während er langsam und träge am Kanalkai ging. »Ich werde dem doch ein Ende machen, weil ich es so will ... Ist es aber auch ein Ausweg? Ist ja ganz gleich! Den Arschin Raum werde ich doch noch haben, ja! Was ist das aber für ein Ende! Ist es denn das Ende? Werde ich es ihnen sagen oder nicht? Ach ... Teufel! Ich bin auch müde, wenn ich mich nur schnell irgendwo hinlegen oder hinsetzen könnte! Das Beschämendste ist, daß es so dumm ist. Aber ich spucke auch darauf! Pfui, was für Dummheiten einem manchmal in den Sinn kommen! ...«

Um ins Polizeibureau zu kommen, mußte man immer geradeaus gehen und bei der zweiten Ecke nach links einschwenken: es waren nur wenige Schritte. Aber er blieb schon an der ersten Ecke stehen, dachte eine Weile nach, bog in die Seitengasse ein und machte so einen Umweg von zwei Straßen, – vielleicht machte er es ohne jede Absicht, vielleicht aber auch, um es noch eine Weile hinzuziehen und Zeit zu gewinnen. Er ging und blickte zu Boden. Plötzlich war es ihm, als hätte ihm jemand etwas ins Ohr geraunt. Er hob den Kopf und merkte, daß er an jenem Hause, dicht vor dem Toreingange stand. Seit jenem Abend war er hier weder gewesen noch vorbeigegangen.

Ein unwiderstehliches und unerklärliches Verlangen zog ihn hin. Er trat ein, durchschritt den ganzen Torweg, bog in den ersten Eingang nach rechts ein und fing an, die bekannte Treppe in das dritte Stockwerk hinaufzusteigen. Auf der engen und steilen Treppe war es sehr finster. Er blieb auf jedem Absatze stehen und sah sich neugierig um. Auf dem ersten Treppenabsatze war ein Fensterrahmen ganz herausgenommen. »Das war damals nicht«, sagte er sich. Da ist auch die Wohnung im ersten Stock, wo damals die zwei Anstreicher gearbeitet haben. »Zugeschlossen; die Tür ist neu gestrichen; also ist die Wohnung zu vermieten.« Da ist schon das zweite Stockwerk ... das dritte ... »Hier ist es!« Da überkamen ihn Zweifeclass="underline" die Tür zu dieser Wohnung stand weit offen, es waren Menschen darin, man hörte Stimmen; das hatte er keineswegs erwartet. Nach kurzem Schwanken ging er die letzten Stufen hinauf und trat in die Wohnung ein.

Auch diese Wohnung wurde neu hergerichtet, und es waren Arbeiter da; dies versetzte ihn wohl in Erstaunen. Aus irgendeinem Grunde hatte er geglaubt, daß er hier alles genau in dem gleichen Zustande antreffen würde, wie er es damals zurückgelassen hatte; vielleicht sogar die Leichen auf denselben Stellen auf dem Boden. Jetzt aber: kahle Wände, keine Möbel; es war so seltsam! Er ging zum Fenster und setzte sich aufs Fensterbrett.

Es waren in dem Raume zwei Arbeiter, beide junge Burschen: der eine älter, der andere viel jünger. Sie beklebten die Wände mit neuen Tapeten, weiß mit lila Blümchen, an Stelle der früheren gelben, zerrissenen und abgewetzten. Auf Raskolnikow machte das, er wußte selbst nicht warum, einen unangenehmen Eindruck; er blickte diese neuen Tapeten feindselig an, als täte es ihm leid, daß man alles verändert hatte.

Die Arbeiter hatten sich anscheinend verspätet. Jetzt rollten sie das Papier schnell zusammen und wollten wohl aufbrechen. Das Erscheinen Raskolnikows erregte ihre Aufmerksamkeit fast gar nicht. Sie unterhielten sich über etwas. Raskolnikow kreuzte die Arme und begann zuzuhören.