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»Dieses Unglück! Mein Gott, welch ein Unglück!«

Raskolnikow drängte sich nach Möglichkeit vor und erblickte endlich die Ursache der Erregung und der Neugier. Auf dem Boden lag ein von den Pferden zertretener Mann, bewußtlos, anscheinend sehr schlecht, doch wie ein »Gebildeter« gekleidet, über und über mit Blut bedeckt. Vom Gesicht und vom Kopf floß das Blut; das Gesicht war zerschlagen, zerschunden und verstümmelt. Offenbar war er wirklich schwer verletzt.

»Liebe Leute!« jammerte der Kutscher. »Wie hätte ich da aufpassen sollen! Wenn ich noch zu schnell gefahren wäre oder ihn nicht angeschrien hätte – aber ich fuhr gar nicht schnell und ganz gleichmäßig. Alle haben es gesehen; was alle sagen, das sage ich auch. Ein Betrunkener kann nicht mal ein Licht vors Heiligenbild stellen, das weiß man ja! ... Ich sehe, wie er über die Straße geht, hin und her wankt und fast hinfällt – ich schreie ihn einmal an, ein zweites Mal, ein drittes Mal und halte die Pferde an, aber er fallt ihnen gerade unter die Hufe! Ob er es mit Absicht getan hat, oder schon so besoffen war ... Die Pferde sind jung und scheu – sie zogen an, er schrie auf –, sie zogen noch mehr an ... und so war das Unglück geschehen.«

»Ja, es ist so!« ertönte aus der Menge die Stimme eines Augenzeugen.

»Er hat wohl geschrien, das ist wahr, dreimal hat er ihn angeschrien!« bestätigte eine andere Stimme.

»Genau dreimal, das haben alle gehört!« rief eine dritte Stimme.

Der Kutscher war übrigens nicht allzu bekümmert und erschrocken. Die Equipage gehörte wohl einem reichen und hochgestellten Besitzer, der irgendwo auf sie wartete; die Polizisten gaben sich natürlich keine geringe Mühe, die Sache in Anbetracht dieses Umstandes in Ordnung zu bringen. Der Überfahrene sollte auf das Polizeirevier und von dort ins Krankenhaus geschafft werden. Niemand kannte seinen Namen.

Raskolnikow drängte sich indessen vor und beugte sich über den Verunglückten. Die kleine Laterne beleuchtete plötzlich hell das Gesicht des Unglücklichen: er erkannte ihn.

»Ich kenne ihn, ich kenne ihn!« rief er, indem er sich ganz nach vorne drängte. »Es ist ein verabschiedeter Beamter, der Titularrat Marmeladow! Er wohnt hier in der Nähe, im Koselschen Hause ... Schnell einen Arzt! Ich werde bezahlen, hier!« Er holte aus der Tasche sein Geld und zeigte es dem Polizisten. Er war in höchster Aufregung.

Die Polizisten waren sehr zufrieden, daß sie erfahren hatten, wer der Überfahrene war. Raskolnikow gab auch seinen Namen und seine Adresse an und redete ihnen so inständig zu, als handele es sich um seinen leiblichen Vater, den bewußtlosen Marmeladow in dessen Wohnung zu bringen.

»Es ist hier, nur drei Häuser weit«, sagte er geschäftig. »Das Haus Kosels, eines reichen Deutschen ... Er ging jetzt wohl betrunken nach Hause. Ich kenne ihn ... Er ist ein Säufer ... Er hat dort eine Familie, eine Frau und Kinder, er hat auch noch eine Tochter. Was soll man ihn erst ins Krankenhaus schleppen, es gibt doch sicher im Hause einen Arzt! Ich werde alles bezahlen! ... Er wird immerhin bei sich zu Hause gepflegt werden, man wird ihm gleich helfen, sonst stirbt er noch auf dem Wege zum Krankenhause ...«

Er hatte sogar Zeit gefunden, einem der Beamten unbemerkt etwas in die Hand zu drücken; die Sache war übrigens ganz klar und gesetzlich, und die Hilfe war jedenfalls näher zu finden. Man hob den Überfahrenen auf und trug ihn hin; es fanden sich freiwillige Helfer. Das Koselsche Haus war nur dreißig Schritte entfernt. Raskolnikow ging hinterher, den Kopf des Verunglückten vorsichtig stützend, und zeigte den Weg.

»Hierher, hierher! Die Treppe hinauf muß man ihn mit dem Kopfe nach oben tragen; wendet ihn um ... ja, so! Ich werde bezahlen, ich werde euch danken!« murmelte er.

Katerina Iwanowna ging wie immer, wenn sie einen freien Augenblick hatte, in ihrem winzigen Zimmerchen auf und ab, vom Fenster zum Ofen und zurück, die Arme fest über der Brust gekreuzt, mit sich selbst redend und hustend. In der letzten Zeit sprach sie immer öfter und mehr mit ihrem ältesten Töchterchen, der zehnjährigen Polenjka, die zwar vieles noch nicht verstand, dafür aber sehr gut wußte, daß die Mutter sie brauchte, und ihr darum immer mit ihren großen klugen Augen folgte und sich die größte Mühe gab, den Anschein zu wecken, als verstände sie alles. Jetzt zog Polenjka ihren kleinen Bruder aus, der sich den ganzen Tag unwohl gefühlt hatte, um ihn zu Bett zu bringen. Der Junge wartete, daß man ihm sein Hemd wechsele, welches in der Nacht noch gewaschen werden sollte, und saß auf dem Stuhle schweigend, mit ernster Miene, gerade und unbeweglich, die Beinchen fest aneinander gedrückt und nach vorne gestreckt, so daß die Fersen dem Publikum zugewandt waren und die Fußspitzen nach rechts und links abstanden. Er hörte zu, was die Mutter mit seinem Schwesterchen sprach, die Lippen aufgeworfen, die Augen weit aufgerissen, ohne sich zu rühren, wie brave Knaben zu sitzen pflegen, wenn man sie auszieht und zu Bett bringt. Ein noch kleineres Mädchen, in lauter Lumpen gekleidet, stand bei der spanischen Wand und wartete, bis sie an die Reihe käme. Die Tür zur Treppe stand offen, der Tabakswolken wegen, die aus den anderen Zimmern hereindrangen und die arme Schwindsüchtige zwangen, jeden Augenblick lange und schmerzhaft zu husten. Katerina Iwanowna schien in dieser Woche noch magerer geworden zu sein, und die roten Flecken an ihren Wangen leuchteten noch greller als früher.

»Du wirst es mir nicht glauben, du kannst es dir nicht mal vorstellen, Polenjka,« sagte sie, immer auf und ab gehend, »wie lustig und vornehm wir im Hause meines Papas gelebt haben und wie dieser Trunkenbold mich und euch alle zugrunde gerichtet hat. Papa war ein Ziviloberst und beinahe Gouverneur; es blieb ihm nur noch ein Schritt, um Gouverneur zu werden, und darum kamen alle zu ihm und sagten: ›Wir halten Sie schon für unseren Gouverneur, Iwan Michailowitsch.‹ Als ich ... kche! als ich ... kche-kche-kche- ... Oh, dieses dreimal verfluchte Leben!« schrie sie auf, den Schleim ausspuckend und sich an die Brust greifend. »Als ich ... ach ... als ich auf dem letzten Ball ... beim Adelsmarschall ... als mich die Fürstin Bessemeljnaja sah, – die mir später den Segen gab, als ich deinen Papa heiratete, Polja, – so fragte sie mich gleich: ›Ist es nicht das liebe Mädchen, das mit dem Schal bei der Schlußfeier im Institut getanzt hat?‹ ... (Das Loch muß man doch zunähen; wenn du doch eine Nadel nehmen und es stopfen wolltest, wie ich es dich gelehrt habe, sonst wird er es morgen ... kche morgen ... kche-kche-kche! ... noch mehr zerreißen!« schrie sie fast erstickend.) »Damals war aus Petersburg soeben der Kammerjunker Fürst Schtschegolskij gekommen ... er tanzte mit mir eine Mazurka und wollte schon am anderen Tage mit dem Heiratsantrag kommen; aber ich bedankte mich in den schmeichelhaftesten Ausdrücken und sagte ihm, mein Herz gehöre schon längst einem anderen. Dieser andere war dein Vater, Polja; mein Papa war furchtbar böse ... Ist das Wasser fertig? Nun, gib das Hemdchen her; und die Strümpfchen? ... Lida,« wandte sie sich an die jüngste Tochter: »du kannst diese Nacht ohne Hemd schlafen; das wird schon irgendwie gehen ... leg die Strümpfe daneben ... Die wasch ich dann zusammen ... Was kommt unser Lump noch nicht, der Säufer! Er trägt sein Hemd schon so lange; wie ein schmutziger Lappen ist es schon, ganz zerrissen hat er es ... Das ginge dann zusammen, damit ich mich nicht zwei Nächte zu quälen brauche! Gott! Kche-kche-kche! Wieder! Was ist denn da?« schrie sie, als sie die Menge draußen auf der Treppe erblickte und die Menschen, die sich mit ihrer Last ins Zimmer gedrängt hatten. »Was ist das? Was bringt man da? Gott!«

»Wo soll man ihn hier hinlegen?« fragte ein Polizist, sich umsehend, als man den blutbedeckten und besinnungslosen Marmeladow hereingetragen hatte.

»Aufs Sofa! Legt ihn direkt aufs Sofa, mit dem Kopfe hierher!« zeigte Raskolnikow.

»Man hat ihn auf der Straße überfahren, als er betrunken war!« rief jemand von der Treppe herein.