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Katerina Iwanowna stand ganz blaß da und atmete schwer. Die Kinder waren erschrocken. Die kleine Lidotschka schrie auf, stürzte zu Polenjka hin, umarmte sie und erzitterte am ganzen Körper.

Nachdem er den Marmeladow aufs Sofa gebettet hatte, wandte sich Raskolnikow an Katerina Iwanowna:

»Um Gottes willen, beruhigen Sie sich, erschrecken Sie nicht!« sagte er in großer Hast. »Er ging über die Straße und wurde überfahren. Beunruhigen Sie sich nicht, er wird gleich zu sich kommen, ich ließ ihn herbringen ... Ich bin schon mal bei Ihnen gewesen, Sie erinnern sich noch ... Er wird zu sich kommen, ich werde bezahlen!«

»Nun hat er es erreicht!« schrie Katerina Iwanowna verzweifelt auf und stürzte zu ihrem Mann.

Raskolnikow merkte bald, daß sie nicht zu den Frauen gehörte, die leicht in Ohnmacht fallen. Im Nu lag unter dem Kopfe des Unglücklichen ein Kissen, an das noch niemand gedacht hatte; Katerina Iwanowna begann ihn auszuziehen und zu besehen; sie tat sehr geschäftig, verlor nicht die Fassung, dachte nicht mehr an sich selbst und biß sich in die zitternden Lippen, um die Schreie zu unterdrücken, die sich ihrer Brust entringen wollten ...

Raskolnikow überredete indessen jemand, einen Arzt zu holen. Der Arzt wohnte, wie es sich zeigte, gleich im Nebenhause.

»Ich habe nach einem Arzt geschickt«, sagte er zu Katerina Iwanowna. »Beunruhigen Sie sich nicht, ich werde bezahlen ... Kann ich nicht Wasser haben? Und geben Sie mir eine Serviette, ein Handtuch, irgendwas, schnell; es ist noch unbekannt, wie die Verletzungen sind ... Er ist nur verletzt und nicht tot, seien Sie überzeugt ... Was wird wohl der Arzt sagen!«

Katerina Iwanowna stürzte zum Fenster; dort stand in der Ecke auf einem durchgedrückten Stuhl eine große irdene Schüssel mit Wasser, das sie zum Waschen der Wäsche der Kinder und ihres Mannes bereitgestellt hatte. Dieses nächtliche Wäschewaschen besorgte Katerina Iwanowna eigenhändig mindestens zweimal in der Woche, manchmal auch öfter, denn sie waren schon so heruntergekommen, daß sie gar keine Wäsche zum Wechseln hatten und jedes Familienmitglied bloß ein Exemplar von allem besaß. Katerina Iwanowna konnte aber keine Unreinlichkeit ertragen und zog es vor, sich in der Nacht, während alle schliefen, über ihre Kraft abzuquälen, um die nasse Wäsche auf dem gespannten Strick bis zum Morgen zu trocknen und dann ihren Angehörigen in gewaschenem Zustande zu geben, statt in ihrem Hause Schmutz zu dulden. Sie griff schon nach der Schüssel, um sie Raskolnikow, wie er es verlangte, zu bringen, fiel aber fast mit dieser Last hin. Raskolnikow hatte aber schon ein Handtuch gefunden und angefeuchtet und fing an, das blutbedeckte Gesicht Marmeladows abzuwaschen. Katerina Iwanowna stand neben ihm, rang schmerzvoll um Atem und preßte die Hände an die Brust. Sie brauchte selbst Hilfe. Raskolnikow sah allmählich ein, daß es vielleicht falsch war, den Überfahrenen hierher bringen zu lassen. Auch der Schutzmann stand unschlüssig da.

»Polja!« rief Katerina Iwanowna. »Lauf zu Ssonja, schnell. Wenn du sie nicht zu Hause triffst, so macht das nichts, laß ihr sagen, daß man den Vater überfahren hat und daß sie sofort herkommen soll ... sobald sie heimkommt. Schneller, Polja! Hier, nimm das Tuch, bedecke dich damit!«

»Lauf, was du kannst!« rief plötzlich der kleine Junge von seinem Stuhl. Nachdem er das gesagt hatte, versank er wieder in sein früheres stummes aufrechtes Sitzen auf dem Stuhle, die Augen weit aufgerissen, die Fersen vorgestreckt, die Fußspitzen gespreizt.

Das Zimmer füllte sich indessen so, daß kein Apfel zu Boden fallen konnte. Die Polizisten entfernten sich, außer einem, welcher noch dablieb und versuchte, das Publikum, das von der Treppe hereingedrungen war, wieder auf die Treppe hinauszudrängen. Dafür kamen aus den inneren Zimmern fast alle Mieter der Frau Lippewechsel zusammen; anfangs drängten sie sich nur in der Tür, dann aber fluteten sie in einem Haufen in die Stube. Katerina Iwanowna geriet in Wut.

»Wenn ihr ihn doch wenigstens ruhig sterben lassen wolltet!« schrie sie die Menge an. »Ist das eine Theatervorstellung? Mit Zigaretten kommen sie her! Kche-kche-kche! Kommt doch auch mit Hüten herein! ... Da ist wirklich einer im Hut ... Hinaus! Man muß doch wenigstens vor einer Leiche Achtung haben!«

Der Husten erstickte sie, aber das Schreien half. Vor Katerina Iwanowna hatte man offenbar Respekt; die Mieter drängten sich einer nach dem anderen wieder zur Tür mit dem eigentümlichen Gefühl einer inneren Befriedigung, das man stets selbst bei den Nahestehenden bemerken kann, wenn einen ihrer Mitmenschen ein Unglück trifft; von diesem Gefühl ist kein Mensch ohne Ausnahme befreit, so aufrichtig auch sein Mitleid und seine Teilnahme sind.

Hinter der Tür wurden übrigens Stimmen laut, daß man den Verunglückten doch ins Krankenhaus schaffen solle und daß es ungehörig sei, damit die Nachbarn zu belästigen.

»Es ist ungehörig, zu sterben!« rief Katerina Iwanowna und stürzte schon zur Tür, um sie aufzureißen und ein Donnerwetter gegen die Nachbarn loszulassen, stieß aber in der Tür mit der Frau Lippewechsel selbst zusammen, die eben erst vom Unglück erfahren hatte und herbeigelaufen kam, um Ordnung zu schaffen. Sie war eine außerordentlich dumme und unordentliche Deutsche.

»Ach, mein Gott!« rief sie und schlug die Hände zusammen. »Ihren Mann betrunken hat Pferd zertreten. Er ins Krankenhaus! Ich bin die Wirtin!«

»Amalia Ludwigowna! Ich bitte Sie, sich zu überlegen, was Sie sagen«, begann Katerina Iwanowna hochmütig (mit der Wirtin sprach sie immer hochmütig, damit jene sich nicht vergesse, und auch jetzt konnte sie sich dieses Vergnügen nicht versagen) – »Amalia Ludwigowna ...«

»Ich Ihnen einmal für immer gesagt, daß Sie niemals wagen, mich Amalia Ludwigowna nennen; ich bin Amalia Iwanowna!«

»Sie sind nicht Amalia Iwanowna, sondern Amalia Ludwigowna, und da ich nicht zu Ihren gemeinen Schmeichlern gehöre, wie der Herr Lebesjatnikow, der jetzt hinter der Tür lacht (hinter der Tür hörte man wirklich Lachen und die Worte: ›Da sind sie sich wieder in die Haare geraten!‹), so werde ich Sie immer Amalia Ludwigowna nennen, obwohl ich unmöglich begreifen kann, warum dieser Name Ihnen mißfällt. Sie sehen ja selbst, was Ssemjon Sacharowitsch zugestoßen ist; er stirbt. Ich bitte Sie, diese Tür sofort zu schließen und niemand hereinzulassen. Lassen Sie ihn wenigstens ruhig sterben! Sonst wird Ihre Handlungsweise morgen dem Generalgouverneur bekannt, das versichere ich Ihnen! Der Fürst hat mich als junges Mädchen gekannt und erinnert sich gut Ssemjon Sacharowitschs, dem er schon oft seine Wohltaten erwiesen hat. Es ist allen bekannt, daß Ssemjon Sacharowitsch viele Freunde und Gönner hatte, denen er selbst aus edlem Stolz den Rücken gekehrt hat, da er sich seiner unglücklichen Schwäche bewußt war; aber jetzt (sie wies auf Raskolnikow) hilft uns ein großmütiger junger Mann, der Mittel und Verbindungen besitzt und den Ssemjon Sacharowitsch schon als Kind gekannt hat; – ich versichere Ihnen, Amalia Ludwigowna ...«

Dies alles wurde mit außergewöhnlicher und immer anwachsender Hast gesprochen, doch der Husten unterbrach mit einemmal den Redefluß Katerina Iwanownas. In diesem Augenblick kam der Sterbende zu sich und stöhnte auf, und sie lief zu ihm hin. Der Kranke öffnete die Augen und fing an, ohne jemand zu erkennen und ohne etwas zu verstehen, den über ihn gebeugten Raskolnikow zu betrachten. Er atmete schwer, tief und langsam; an den Mundwinkeln zeigte sich Blut; Schweiß war ihm in die Stirne getreten. Er erkannte Raskolnikow nicht und fing an, unruhig um sich zu blicken. Katerina Iwanowna sah ihn traurig, doch streng an, während aus ihren Augen die Tränen liefen.

»Mein Gott! Seine ganze Brust ist ja eingedrückt! Das viele Blut, das Blut!« rief sie verzweifelt. »Man muß ihm die Kleider ausziehen! Dreh dich etwas um, Ssemjon Sacharowitsch, wenn du kannst!« rief sie ihm zu.

Marmeladow erkannte sie.

»Einen Geistlichen!« sagte er mit heiserer Stimme.