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»Mein ganzes künftiges Leben werde ich für Sie beten«, sagte das Mädchen mit Feuereifer. Plötzlich lachte es wieder, stürzte auf ihn zu und umarmte ihn sehr fest.

Raskolnikow nannte ihr seinen Namen, gab auch die Adresse an und versprach, morgen unbedingt zu kommen. Das Kind ging ganz entzückt von ihm. Es war die elfte Stunde, als er auf die Straße trat. Nach fünf Minuten stand er auf der Brücke, genau an der gleichen Stelle, von der sich vorhin die Frau ins Wasser gestürzt hatte.

»Genug!« sagte er entschlossen und feierlich: »Fort mit den Trugbildern, fort mit den vermeintlichen Schrecken, fort mit den Gespenstern! ... Es gibt ein Leben! Habe ich denn eben nicht gelebt? Mein Leben ist noch nicht mit der alten Wucherin gestorben! Gott gebe ihr ewige Ruhe, – genug, Mütterchen, es ist Zeit für dich auszuruhen! Das Reich der Vernunft und des Lichts bricht jetzt an ... und des Willens, und der Kraft ... und wir wollen sehen! Wir wollen uns jetzt messen!« fügte er herausfordernd hinzu, als wende er sich an eine dunkle Gewalt und fordere sie heraus. »Und ich war schon bereit, auf einem Arschin freien Raumes zu leben! ...«

»... Schwach war ich in diesem Augenblick, aber ... aber ich glaube, die Krankheit ist schon vorüber. Ich wußte ja, daß sie vergehen wird, als ich vorhin von zu Hause wegging. Übrigens: das Haus Potschinkow ist ja nur zwei Schritte von hier ... soll er die Wette gewinnen! ... Soll er das Vergnügen haben, ich gönne es ihm! ... Kraft, ich brauche Kraft: ohne Kraft kann ich nichts erreichen; die Kraft kann man sich aber nur durch Kraft erwerben, das ist es, was sie nicht wissen«, fügte er stolz und selbstbewußt hinzu und ging, mühevoll die Beine bewegend, von der Brücke. Sein Stolz und sein Selbstvertrauen wuchsen von Minute zu Minute; schon in der nächsten Minute war er ein anderer Mensch als in der vorhergehenden. Was hatte er aber so Außergewöhnliches erlebt, das ihn so verändert hatte? Das wußte er auch selbst nicht; wie einem Ertrinkenden, der nach einem Strohhalm greift, kam es ihm plötzlich vor, daß er »noch leben könne, daß es noch ein Leben gäbe, daß sein Leben nicht zugleich mit der alten Wucherin gestorben sei«. Vielleicht war diese Schlußfolgerung etwas voreilig, aber er dachte nicht daran.

»Ich bat sie aber, den Knecht Gottes Rodion im Gebete zu erwähnen«, ging es ihm plötzlich durch den Kopf. »Nun, dies für jeden Fall!« fügte er hinzu und mußte schon selbst über diesen kindlichen Einfall lachen. Er war in einer ausgezeichneten Laune.

Er fand Rasumichin ohne jede Mühe; im Hause Potschinkows war der neue Mieter schon bekannt, und der Hausknecht zeigte ihm sofort den Weg. Schon auf der halben Treppe konnte man den Lärm und die lebhaften Gespräche einer großen Versammlung hören. Die Tür zur Treppe stand weit offen; man hörte Schreie und Streit. Rasumichins Zimmer war recht groß, die Versammlung bestand aber aus etwa fünfzehn Menschen. Raskolnikow blieb im Flur stehen. Hier, hinter einem Bretterverschlag machten sich zwei Mägde der Wirtsleute mit zwei großen Samowars zu schaffen; Flaschen, Teller und Platten mit Pasteten und Imbiß waren aus der Küche der Wirtsleute hergeschafft. Raskolnikow ließ Rasumichin zu sich herausrufen. Jener kam entzückt herbeigelaufen. Man konnte ihm auf den ersten Blick ansehen, daß er ungewöhnlich viel getrunken hatte, und obwohl Rasumichin sich nie richtig betrinken konnte, war es ihm diesmal doch anzumerken.

»Hör,« sagte ihm Raskolnikow eilig, »ich komme nur, um dir zu sagen, daß du die Wette gewonnen hast und daß wirklich kein Mensch weiß, was mit ihm alles geschehen kann. Zu dir hereinkommen kann ich aber nicht; ich bin so schwach, daß ich gleich umfalle. Darum: guten Tag und leb wohl! Komm du aber morgen zu mir ...«

»Weißt du was? Ich bringe dich nach Hause! Wenn du schon selbst sagst, daß du schwach bist, so ...«

»Und die Gäste? Wer ist der mit dem Lockenkopf, der eben herausgeschaut hat?«

»Der? Weiß der Teufel, wer es ist! Wahrscheinlich ein Bekannter des Onkels, vielleicht ist er aber auch ungebeten hergekommen ... Bei den Gästen lasse ich den Onkel zurück: er ist ein Prachtmensch; schade nur, daß du ihn jetzt nicht kennen lernen kannst. Übrigens – hol sie alle der Teufel! Sie kümmern sich jetzt nicht um mich, und auch ich muß an die frische Luft; denn du kommst mir sehr gelegen, Bruder! Noch zwei Minuten, und ich hätte mich mit ihnen geprügelt, bei Gott! Was die für einen Unsinn zusammenschwatzen ... Du kannst dir gar nicht vorstellen, was so ein Mensch alles zusammenreden kann! Warum sollst du es dir auch nicht vorstellen können? Schwatzen denn wir wenig? Sollen sie nur schwatzen, dafür werden sie später keinen Unsinn reden ... Bleib eine Weile hier, ich bringe gleich den Sossimow her.«

Sossimow fiel mit Gier über Raskolnikow her; es war ihm eine eigentümliche Neugierde anzusehen; sein Gesicht heiterte sich bald auf.

»Sofort schlafen gehen«, sagte er, nachdem er den Patienten, so gut es ging, untersucht hatte. »Und zur Nacht nehmen Sie ein Mittelchen! Werden Sie es einnehmen? Ich habe es schon vorhin für Sie vorbereitet ... es ist ein Pülverchen.«

»Meinetwegen auch zwei«, antwortete Raskolnikow.

Das Pulver wurde sofort eingenommen.

»Es ist sehr gut, daß du ihn selbst begleitest«, sagte Sossimow zu Rasumichin. »Wie es morgen sein wird, werden wir erst sehen, aber heute ist es gar nicht schlecht: eine bedeutende Veränderung gegen früher. Man lernt nie aus ...«

»Weißt du, was mir eben Sossimow zugeflüstert hat, als wir weggingen?« platzte Rasumichin heraus, als sie auf die Straße traten. »Ich werde es dir aber nicht so direkt sagen, Bruder, denn sie sind alle Dummköpfe. Sossimow sagte mir, ich solle den ganzen Weg mit dir schwatzen und auch dich zum Schwatzen animieren und dann alles ihm berichten, denn er hat die Idee ... daß du verrückt bist, oder nahe daran bist, es zu werden. Denk es dir nur! Erstens bist du dreimal so klug als er, zweitens, wenn du nicht verrückt bist, pfeifst du drauf, daß er solchen Unsinn im Kopfe hat, und drittens ist jetzt dieses Stück Fleisch, seiner engeren Spezialität nach Chirurg, auf Geisteskrankheiten versessen, und was dich betrifft, so hat ihn sein heutiges Gespräch mit Samjotow endgültig darauf gebracht.«

»Hat dir Samjotow alles erzählt?«

»Alles, und es war sehr gut, daß er es getan hat. Jetzt habe ich es durch und durch begriffen, und auch Sossimow hat es begriffen ... Na ja, mit einem Worte, Rodja ... die Sache ist die ... ich bin jetzt ein wenig betrunken ... Das ... macht aber nichts ... die Sache ist die, daß dieser Gedanke ... verstehst du? ... ihnen wirklich gekommen war ... verstehst du? Das heißt, niemand wagte es laut zu sagen, denn es ist ein haarsträubender Unsinn, und besonders, als man diesen Anstreicher festgenommen hatte, fiel das alles zusammen und erlosch für immer. Warum sind sie aber solche Dummköpfe? Den Samjotow hatte ich damals ein wenig verprügelt, doch das bleibt unter uns, Bruder; zeige ihm nur nicht, daß du davon etwas weißt; ich habe bemerkt, daß er empfindlich ist; es passierte bei der Lawisa – doch heute, heute wurde alles klar. Hauptsächlich dieser Ilja Petrowitsch! Er nutzte damals deinen Ohnmachtsanfall im Polizeibureau aus, aber später schämte er sich dessen selbst; ich weiß es ja ...«

Raskolnikow hörte ihm mit Gier zu. Rasumichin fing in seinem Rausche an, alles auszuplaudern.

»Ich war damals darum ohnmächtig geworden, weil es schwül war und nach Ölfarbe roch«, sagte Raskolnikow.

»Du erklärst es mir noch! Es war aber nicht die Farbe allein: die Entzündung bereitete sich doch einen ganzen Monat lang vor; dazu haben wir den Sossimow! Wie dieser dumme Junge jetzt niedergeschlagen ist, das kannst du dir gar nicht vorstellen! Ich bin nicht den kleinen Finger dieses Menschen wert!« sagt er. »Das heißt, deines Fingers. Manchmal hat er auch gute Gefühle, Bruder. Doch die Lektion, die Lektion, die du ihm heute im ›Kristallpalast‹ erteilt hast, ist der Gipfel der Vollkommenheit! Du hast ihn doch anfangs so erschreckt, daß er beinahe Krämpfe kriegte! Du hast ihn fast dazu gebracht, daß er an diesen ganzen abscheulichen Unsinn von neuem glaubte, und dann – dann zeigtest du ihm plötzlich die Zunge: ›Da hast du es!‹ Tadellos! Nun ist er erdrückt und vernichtet. Ein Meister bist du, bei Gott! So muß man auch diese Leute behandeln! Schade, daß ich nicht dabei war! So sehnsüchtig hat er dich jetzt erwartet. Auch Porfirij möchte dich kennen lernen ...«