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»Mein Gott, Dunjetschka, was wird nur werden?« sagte Pulcheria Alexandrowna, sich unruhig und scheu an die Tochter wendend.

»Beruhigen Sie sich, Mamachen«, antwortete Dunja, während sie Hut und Mantille abnahm. »Gott selbst hat uns diesen Herrn geschickt, obwohl er direkt von einer Zecherei kommt. Man kann sich auf ihn verlassen, ich versichere Sie. Und alles, was er für den Bruder schon getan hat ...«

»Ach, Dunjetschka, Gott allein weiß, ob er zurückkommen wird! Und wie konnte ich mich bloß entschließen, Rodja allein zu lassen! ... Nicht in diesem Zustande hoffte ich ihn zu treffen! Wie ernst war er doch, als freute er sich gar nicht, daß wir gekommen sind! ...«

Tränen traten ihr in die Augen.

»Nein, Mamachen, es ist nicht so. Sie haben ihn nicht ordentlich sehen können, weil Sie immer weinten. Er ist jetzt nach einer schweren Krankheit sehr zerrüttet, – das ist der ganze Grund.«

»Ach ja, diese Krankheit! Was soll noch werden, was soll noch werden! Und wie er mit dir gesprochen hat, Dunja! ...« sagte die Mutter, der Tochter scheu in die Augen blickend, um alle ihre Gedanken zu erraten, und schon halb dadurch getröstet, daß Dunja ihren Bruder verteidigte, ihm also verziehen hatte. »Ich bin überzeugt, daß er sich morgen eines anderen besinnen wird«, fügte sie hinzu, um das letzte zu erforschen.

»Ich bin aber überzeugt, daß er auch morgen darüber genau so sprechen wird ...«, schnitt Awdotja Romanowna ab, und das war natürlich ein harter Schlag für die Mutter, denn es berührte den Punkt, über den zu sprechen Pulcheria Alexandrowna sich jetzt zu sehr fürchtete. Dunja trat an die Mutter heran und küßte sie. Diese umarmte sie schweigend und fest. Dann setzte sie sich in unruhiger Erwartung Rasumichins hin und begann, ihre Tochter scheu zu beobachten, die mit gekreuzten Armen und gleichfalls voll Erwartung im Zimmer auf und ab ging und sich etwas zu überlegen schien. Dieses nachdenkliche Aufundabgehen war die ständige Angewohnheit Awdotja Romanownas, und die Mutter hatte in solchen Fällen immer eine gewisse Angst, sie in ihrem Nachdenken zu stören.

Rasumichin war mit seiner plötzlichen, im Rausche entbrannten Leidenschaft zu Awdotja Romanowna natürlich komisch; doch wenn man Awdotja Romanowna sah, besonders jetzt, wie sie mit gekreuzten Armen, traurig und nachdenklich im Zimmer auf und ab ging, müßte man ihn entschuldigen, auch abgesehen von seinem exzentrischen Zustande. Awdotja Romanowna war ungewöhnlich hübsch: großgewachsen, ungewöhnlich schlank, kräftig und selbstbewußt, – was sich in jeder ihrer Gebärden zeigte, aber ihre Bewegungen durchaus nicht der Weichheit und Grazie beraubte. Im Gesicht ähnelte sie dem Bruder, man konnte sie aber eine Schönheit nennen. Ihr Haar war dunkelblond, ein wenig heller als das des Bruders, die Augen fast schwarz, funkelnd und stolz, zugleich aber zuweilen ungewöhnlich gütig. Sie war bleich, aber nicht krankhaft bleich; ihr Gesicht leuchtete vor Frische und Gesundheit. Der Mund war etwas klein, die frische und rote Unterlippe stand eine Kleinigkeit hervor, ebenso das Kinn, – die einzige Unregelmäßigkeit in diesem schönen Gesicht, die ihm dafür etwas sehr Charakteristisches, vielleicht etwas Hochmütiges verlieh. Ihr Gesichtsausdruck war immer mehr ernst als heiter und meistens nachdenklich; wie gut stand dafür ein Lächeln diesem Gesicht, wie gut stand ihr das lustige, junge, sorglose Lachen! Es ist darum begreiflich, daß der hitzige, offenherzige, etwas einfältige, ehrliche, riesenstarke und zugleich betrunkene Rasumichin, der in seinem Leben nichts dergleichen gesehen hatte, gleich beim ersten Blick den Kopf verlor. Außerdem wollte es der Zufall, daß er Dunja zum erstenmal im schönen Augenblick der Liebe und der Freude des Wiedersehens mit dem Bruder sah. Er sah, wie ihre Unterlippe vor Empörung über die frechen und undankbar grausamen Zumutungen des Bruders gezuckt hatte, – und konnte nicht widerstehen.

Übrigens hatte er vorhin die Wahrheit gesagt, als er in seiner Trunkenheit auf der Treppe schwatzte, daß die exzentrische Wirtin Raskolnikows, Praskowja Pawlona, auf ihn nicht bloß wegen Awdotja Romanowna, sondern auch vielleicht wegen Pulcheria Alexandrowna selbst eifersüchtig sein würde. Obwohl Pulcheria Alexandrowna schon dreiundvierzig Jahre alt war, zeigte ihr Gesicht noch immer die Reste der einstigen Schönheit; außerdem sah sie viel jünger aus, als sie war, was fast immer bei Frauen, die die Klarheit des Geistes, die Frische der Eindrücke und ein ehrliches, reines Feuer des Herzens bis zum Alter bewahrt haben, der Fall ist. Wir wollen in Parenthese noch bemerken, daß dies alles zu bewahren das einzige Mittel ist, seine Schönheit auch im Alter nicht zu verlieren. Ihr Haar hatte schon angefangen, grau und dünn zu werden, um ihre Augen herum hatten sich schon längst kleine strahlenartige Runzeln gebildet, die Wangen waren eingefallen und vor Kummer und Sorgen eingetrocknet, und doch war dieses Gesicht schön. Es war ein Bildnis Dunjetschkas, wie sie nach zwanzig Jahren aussehen würde, abgesehen vom Ausdrucke der Unterlippe, die bei ihr nicht hervorstand. Pulcheria Alexandrowna war empfindsam, doch nicht süßlich, sie war scheu und nachgiebig, doch nur bis zu einer gewissen Grenze; sie konnte in vielen Dingen nachgeben, auf vieles eingehen, selbst auf Dinge, die ihren Überzeugungen widersprachen, aber es gab immer eine gewisse Grenze der Ehrlichkeit, Moral und äußerster Überzeugung, die zu überschreiten sie keinerlei Umstände hätten zwingen können.

Genau zwanzig Minuten nach Rasumichins Verschwinden ertönten zwei leise, doch hastige Schläge an der Tür; er war zurückgekehrt.

»Ich komme gar nicht herein, ich habe keine Zeit!« teilte er hastig mit, als man die Tür öffnete. »Er schläft wie ein Murmeltier, vorzüglich, ruhig, und gebe Gott, daß er noch zehn Stunden schläft. Nastasja sitzt bei ihm; ich befahl ihr, nicht wegzugehen, bis ich zurückkomme. Jetzt schleppe ich den Sossimow her, er wird Ihnen Bericht erstatten, und dann können Sie sich schlafen legen; Sie sind, wie ich sehe, bis zum äußersten erschöpft ...«

Und er lief wieder durch den Korridor zurück.

»Was für ein flinker ... und ergebener junger Mann!« rief Pulcheria Alexandrowna außerordentlich erfreut.

»Scheint wirklich ein netter Mensch zu sein!« antwortete Awdotja Romanowna mit einer gewissen Erregung und schickte sich wieder an, im Zimmer auf und ab zu gehen.

Fast nach einer Stunde hörte man Schritte auf dem Korridor und ein neues Klopfen an der Tür. Die beiden Frauen warteten, diesmal vollkommen dem Versprechen Rasumichins vertrauend; und er hatte in der Tat den Sossimow mitgeschleppt. Sossimow war sofort einverstanden gewesen, die Zecherei zu verlassen und nach Raskolnikow zu sehen, doch zu den Damen war er sehr ungern und mit großem Mißtrauen gegangen, da er dem betrunkenen Rasumichin nicht recht traute. Seine Eitelkeit wurde aber sofort beruhigt und sogar angenehm berührt: er sah, daß man ihn hier wirklich wie ein Orakel erwartete. Er blieb genau zehn Minuten sitzen und brachte es fertig, Pulcheria Alexandrowna vollkommen zu überzeugen und zu beruhigen. Er sprach mit ungewöhnlicher Teilnahme, aber zurückhaltend und mit erzwungenem Ernst, wie ein siebenundzwanzigjähriger Arzt bei einer wichtigen Konsultation zu sprechen pflegt, schweifte mit keinem Wort vom Thema ab und zeigte auch nicht den geringsten Wunsch, zu den beiden Damen in ein persönlicheres und intimeres Verhältnis zu treten. Da er schon bei seinem Eintritt bemerkt hatte, wie blendend schön Awdotja Romanowna war, nahm er sich gleich zusammen: er bemühte sich, sie während des ganzen Besuches nicht zu beachten, und wandte sich immer ausschließlich an Pulcheria Alexandrowna. Dies alles gewährte ihm eine außerordentliche innere Befriedigung. Über den Kranken äußerte er sich, daß er seinen Zustand augenblicklich für höchst befriedigend halte. Nach seinen Beobachtungen beruhe die Krankheit des Patienten außer auf den schlechten materiellen Umständen in den letzten Monaten auch auf gewissen moralischen Ursachen: »Sie ist sozusagen das Produkt vieler komplizierter moralischer und materieller Einflüsse, Sorgen, Befürchtungen, gewisser Ideen ... und dergleichen.« Als er flüchtig merkte, daß Awdotja Romanowna ihm besonders aufmerksam zuzuhören begann, fing Sossimow an, sich über dieses Thema noch mehr zu verbreiten. Auf die besorgte und schüchterne Frage Pulcheria Alexandrownas wegen »eines angeblichen Verdachts von geistiger Umnachtung« antwortete er mit einem ruhigen und offenen Lächeln, daß seine Worte etwas übertrieben seien; bei dem Kranken könne man natürlich wohl eine fixe Idee, etwas, was auf Monomanie hinwiese, wahrnehmen – da er, Sossimow, zurzeit besonders aufmerksam diesen so interessanten Zweig der ärztlichen Wissenschaft verfolge –, aber man dürfe nicht vergessen, daß der Kranke bis heute im Fieber gelegen und phantasiert habe, und ... und die Ankunft seiner Angehörigen werde ihn natürlich kräftigen und zerstreuen und auf ihn heilbringend wirken – »wenn es nur gelingt, neue heftige Erschütterungen zu vermeiden«, fügte er bedeutungsvoll hinzu. Dann erhob er sich, verabschiedete sich gesetzt, doch freundlich, begleitet von Segnungen, heißer Dankbarkeit und Bitten und selbst von dem sich ihm unaufgefordert entgegenstreckenden Händchen Awdotja Romanownas, und ging, außerordentlich zufrieden mit seinem Besuche und noch mehr mit sich selbst.