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Punkt neun Uhr erschien Rasumichin in den möblierten Zimmern Bakalejews. Die beiden Damen erwarteten ihn schon längst mit einer hysterischen Ungeduld. Sie waren schon um sieben aufgestanden, vielleicht sogar früher. Er trat finster wie die Nacht ein und machte eine ungeschickte Verbeugung, worüber er sofort böse wurde, – natürlich auf sich selbst. Er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Pulcheria Alexandrowna fiel über ihn buchstäblich her, packte ihn an beiden Händen und küßte sie ihm beinahe. Er warf einen schüchternen Blick auf Awdotja Romanowna; dieses hochmütige Gesicht drückte aber in diesem Augenblick so viel Dankbarkeit und Freundlichkeit aus, eine so vollkommene und unerwartete Achtung ihm gegenüber (statt höhnischer Blicke und einer unwillkürlichen, schlecht verheimlichten Verachtung), daß es ihm wirklich leichter zumute gewesen wäre, wenn man ihn hier mit Schimpfworten empfangen hätte; so mußte er sich aber furchtbar genieren. Zum Glück hatte er ein fertiges Gesprächsthema, an das er sich auch sofort klammerte.

Als sie hörte, daß er »noch nicht erwacht« sei, daß aber alles »vorzüglich gehe«, erklärte Pulcheria Alexandrowna, daß dies sogar gut sei, »denn sie habe mit ihm sehr vieles dringend zu besprechen«. Darauf folgte die Frage, ob er schon Tee getrunken habe, und die Einladung, ihn mit ihnen zu trinken; sie hatten in Erwartung Rasumichins noch selbst keinen getrunken. Awdotja Romanowna klingelte, worauf ein schmutziger und zerlumpter Bursche erschien, dem der Tee bestellt wurde; der Tee wurde schließlich serviert, doch so schmutzig und unanständig, daß die Damen sich schämten. Rasumichin schimpfte energisch auf diese möblierten Zimmer, verstummte aber und wurde verlegen, als er sich Luschins erinnerte; er war ordentlich froh, als Pulcheria Alexandrowna ihn mit ihren Fragen zu bestürmen begann.

Diese Fragen beantwortend, sprach er dreiviertel Stunden, jeden Augenblick unterbrochen und wieder gefragt, und so teilte er ihnen die wichtigsten und notwendigsten ihm bekannten Tatsachen aus dem letzten Jahre des Lebens Rodions Romanowitschs mit und schloß mit einem umständlichen Bericht über dessen Erkrankung. Vieles verschwieg er, was auch wirklich verschwiegen werden mußte, unter anderem auch die Szene auf dem Polizeibureau mit allen Folgen. Seiner Erzählung lauschten sie gierig; als er aber schon glaubte, daß er zu Ende sei und seine Zuhörerinnen befriedigt habe, zeigte es sich, daß er für sie so gut wie noch gar nicht begonnen hatte.

»Sagen Sie, sagen Sie mir, wie meinen Sie ... ach, entschuldigen Sie, ich weiß noch immer nicht, wie Sie heißen!« fragte Pulcheria Alexandrowna hastig.

»Dmitrij Prokofjitsch.«

»Also Dmitrij Prokofjitsch, ich möchte sehr gerne wissen ... wie er überhaupt ... wie er jetzt die Dinge ansieht, das heißt, Sie müssen mich richtig verstehen, wie soll ich es Ihnen bloß sagen; was liebt er und was liebt er nicht? Ist er immer so reizbar? Was hat er für Wünsche, wonach sehnt er sich, wenn man so sagen darf? Was hat jetzt auf ihn einen besonderen Einfluß? Mit einem Worte, ich möchte ...«

»Ach, Mamachen, wie kann man nur alle diese Fragen auf einmal beantworten!« bemerkte Dunja.

»Ach, mein Gott, ich hatte gar nicht, gar nicht erwartet, ihn so zu finden, Dmitrij Prokofjitsch.«

»Das ist sehr natürlich«, antwortete Dmitrij Prokofjitsch. »Eine Mutter habe ich nicht, aber mein Onkel kommt jedes Jahr her und kann mich fast jedesmal nicht wiedererkennen, selbst äußerlich, und dabei ist er doch ein kluger Mensch! Nun, und in den drei Jahren Ihrer Trennung ist doch viel Wasser ins Meer geflossen. Was soll ich Ihnen auch sagen? Ich kenne Rodion seit anderthalb Jahren: er ist finster, düster, hochmütig und stolz; in der letzten Zeit (vielleicht auch schon viel länger) argwöhnisch und ein Hypochonder, großmütig und gut. Er liebt es nicht, seine Gefühle zu zeigen, und ist eher bereit, grausam zu sein, als sein Herz durch Worte zu enthüllen. Manchmal ist er übrigens gar kein Hypochonder, sondern einfach unmenschlich kalt und gefühllos, als ob in ihm zwei entgegengesetzte Charaktere abwechselten. Zuweilen furchtbar verschlossen! Nie hat er Zeit; immer stört man ihn, dabei liegt er aber da und tut nichts. Er ist nicht spöttisch, – nicht weil es ihm etwa an Witz mangelte, sondern als hätte er keine Zeit für solchen Unsinn. Er hört nie bis zu Ende, was man ihm sagt. Niemals interessiert er sich dafür, wofür sich die anderen interessieren. Er hält sehr viel von sich und hat wohl auch ein gewisses Recht dazu. Nun, was soll ich noch sagen? ... Mir scheint, daß Ihre Ankunft auf ihn eine heilsame Wirkung haben wird.«

»Ach, gebe Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna, für die der Bericht Rasumichins über ihren Sohn eine Qual gewesen war.

Rasumichin aber blickte Awdotja Romanowna endlich etwas mutiger an. Er hatte sie während des Gesprächs öfter angesehen, aber nur flüchtig, bloß für einen Augenblick, und die Augen immer gleich wieder weggewandt. Awdotja Romanowna setzte sich bald an den Tisch und hörte aufmerksam zu und stand bald wieder auf und begann, ihrer Gewohnheit nach, auf und ab zu gehen, die Arme gekreuzt, die Lippen zusammengepreßt; zuweilen stellte sie nachdenklich ihre Fragen, ohne ihre Wanderung zu unterbrechen. Auch sie hatte die Gewohnheit, was man ihr sagte, nicht bis ans Ende zu hören. Sie trug ein dunkles Kleid aus einem leichten Stoff und ein weißes, durchsichtiges Tüchlein um den Hals. Rasumichin schloß aus vielen Anzeichen, daß die beiden Frauen sich in außerordentlich dürftigen Verhältnissen befanden. Wäre Awdotja Romanowna wie eine Königin gekleidet gewesen, so hätte er sich vor ihr wohl gar nicht gefürchtet; jetzt aber, vielleicht gerade aus dem Grunde, weil sie so ärmlich gekleidet war und er die ganze elende Umgebung sah, hatte sich in seinem Herzen eine gewisse Angst festgesetzt, und er fürchtete für jedes seiner Worte, für jede Gebärde, was für ihn, der sich auch ohnehin nicht recht traute, natürlich sehr lästig war.

»Sie haben viel Interessantes über den Charakter meines Bruders erzählt und ... haben es wirklich unparteiisch erzählt. Das ist gut; ich glaubte, Sie hätten eine heilige Scheu vor ihm«, bemerkte Awdotja Romanowna mit einem Lächeln.

»Auch ich glaube, daß er eine Frau um sich haben muß«, fügte sie nachdenklich hinzu.

»Das habe ich nicht gesagt, aber vielleicht haben Sie auch darin recht, nur ...«

»Was denn?«

»Nur liebt er niemand; vielleicht wird er auch nie jemand lieben«, schnitt Rasumichin ab.

»Das heißt, er ist unfähig, jemand zu lieben?«

»Wissen Sie, Awdotja Romanowna, Sie sehen Ihrem Bruder furchtbar ähnlich, sogar in allen Dingen!« platzte er plötzlich, für sich selbst unerwartet, heraus; da er sich aber erinnerte, was er eben über ihren Bruder gesagt hatte, wurde er rot wie ein Krebs und furchtbar verlegen.

Awdotja Romanowna konnte sich bei seinem Anblick nicht des Lachens erwehren.

»In bezug auf Rodja könnt ihr euch beide irren«, mischte sich Pulcheria Alexandrowna etwas pikiert ins Gespräch. »Ich spreche nicht vom Jetzigen, Dunjetschka. Was Pjotr Petrowitsch in diesem Briefe schreibt ... und was wir beide annahmen, ist vielleicht gar nicht wahr, aber Sie können sich nicht vorstellen, Dmitrij Prokofjitsch, wie phantastisch und wie – wie soll ich es nur sagen, – wie launisch er ist. Seinem Charakter konnte ich niemals vertrauen, selbst als er erst fünfzehn Jahre alt war. Ich bin überzeugt, daß er auch jetzt plötzlich etwas mit sich anstellen kann, was keinem Menschen je einfallen wird ... Was brauche ich weit zu gehen: ist Ihnen bekannt, wie er mich vor eineinhalb Jahren überrascht, erschüttert und fast vernichtet hat, als er diese, wie heißt sie noch, die Tochter seiner Wirtin Sarnizyna heiraten wollte?«

»Wissen Sie etwas Näheres über diese Geschichte?« fragte Awdotja Romanowna.

»Glauben Sie vielleicht,« mischte sich Pulcheria Alexandrowna mit Feuer ein, »daß ihn damals meine Tränen, meine Bitten, meine Krankheit, mein Tod vielleicht aus Kummer, unsere Armut hätten zurückhalten können? Er hätte sich ruhig über alle diese Hindernisse hinweggesetzt. Kann man aber annehmen, daß er uns nicht liebt?«