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»Das Ihnen so teuer zu stehen kam, Mamachen«, fügte Awdotja Romanowna hinzu.

»Er war gestern nicht recht bei Sinnen«, sagte Rasumichin nachdenklich. »Wenn Sie nur wüßten, was er dort gestern im Wirtshause angerichtet hat, obwohl es auch klug war ... Hm! Von einem Verstorbenen und von einem Mädchen hat er wirklich was erzählt, als wir nach Hause gingen, aber ich habe kein Wort verstanden ... Übrigens war ich auch selbst gestern ...«

»Das beste ist, Mamachen, wenn wir selbst zu ihm hingehen. Ich versichere Ihnen, wir werden dann sehen, was zu tun ist, außerdem ist es schon Zeit. Mein Gott! Schon bald elf Uhr!« rief sie nach einem Blick auf ihre prachtvolle goldene Uhr mit Emaille, die sie an einem feinen Venezianer Kettchen um den Hals hängen hatte und die mit der übrigen Kleidung so gar nicht harmonierte.

– Ein Geschenk des Bräutigams – dachte sich Rasumichin.

»Ach, es ist Zeit! ... Es ist Zeit, Dunjetschka!« rief Pulcheria Alexandrowna aufgeregt. »Er wird denken, daß wir ihm noch von gestern her böse sind, weil wir so lange nicht kommen! ... Ach, mein Gott!«

Während sie das sagte, warf sie sich hastig die Mantille um und setzte den Hut auf; auch Dunjetschka machte sich fertig. Ihre Handschuhe waren nicht nur abgetragen, sondern auch zerrissen, was Rasumichin auch merkte, und doch verlieh diese offensichtliche Armseligkeit der Kleidung den beiden Damen eine besondere Würde, wie es immer bei Menschen ist, die ärmliche Kleidung zu tragen verstehen. Rasumichin blickte Dunjetschka andächtig an und war schon stolz, daß er sie führen würde.

– Jene Königin – dachte er bei sich – die sich im Gefängnisse die Strümpfe stopfte, sah in jenem Augenblick natürlich wie eine echte Königin aus und sicher viel königlicher, als bei den prunkvollsten Festen und Empfängen.

»Mein Gott!« rief Pulcheria Alexandrowna: »Hab ich mir denn je gedacht, daß ich das Wiedersehen mit meinem Sohn, mit meinem lieben, lieben Rodja so fürchten werde, wie ich es jetzt fürchte! ... Ich hab solche Angst, Dmitrij Prokofjewitsch!« fügte sie hinzu mit einem ängstlichen Blick auf Rasumichin.

»Fürchten Sie nicht, Mamachen«, sagte Dunja, sie küssend. »Glauben Sie besser an ihn. Ich glaube.«

»Ach, mein Gott! Auch ich glaube, und doch habe ich die ganze Nacht nicht geschlafen!« rief die arme Frau.

Sie traten auf die Straße.

»Weißt du, Dunjetschka, als ich gegen Morgen einschlief, erschien mir plötzlich im Traume die verstorbene Marfa Petrowna ... sie war ganz weiß gekleidet ... sie ging auf mich zu, nahm mich bei der Hand und schüttelte dabei den Kopf so streng, so streng, als ob sie mich verurteilte ... Ob das was Gutes bedeutet? Ach, mein Gott, Dmitrij Prokofjitsch, Sie wissen es noch nicht: Marfa Petrowna ist gestorben!«

»Nein, ich weiß nichts; was für eine Marfa Petrowna?«

»Plötzlich! Und denken Sie sich nur ...«

»Später, Mamachen«, mischte sich Dunja ein. »Er weiß ja noch nicht, wer Marfa Petrowna war.«

»Ach, Sie wissen es nicht? Und ich glaubte, Sie wüßten schon alles. Sie müssen schon entschuldigen, Dmitrij Prokofjitsch, ich bin dieser Tage ganz von Sinnen. Wirklich, ich halte Sie für unsere Vorsehung, und darum bin ich so überzeugt, daß Ihnen schon alles bekannt sei. Ich betrachte Sie wie einen Verwandten ... Seien Sie nicht böse, daß ich so spreche. Ach, mein Gott, was haben Sie mit Ihrer rechten Hand? Haben Sie sie sich verstaucht?«

»Ja, verstaucht«, murmelte Rasumichin beglückt.

»Manchmal spreche ich so offenherzig, daß Dunja mich zurechtweisen muß ... Aber, mein Gott, in was für einer Kammer lebt er doch! Ist er schon aufgewacht? Und diese Frau, seine Wirtin, hält das für ein Zimmer? Hören Sie, Sie sagen, er liebe es nicht, sein Herz zu enthüllen, so daß ich ihm vielleicht zur Last fallen werde mit meinen ... Schwächen? ... Wollen Sie mich nicht belehren, Dmitrij Prokofjitsch? Wie soll ich ihn behandeln? Wissen Sie, ich gehe ganz wie verloren umher.«

»Fragen Sie ihn nicht zu sehr aus, wenn Sie sehen, daß er das Gesicht verzieht; fragen Sie ihn nicht zu sehr über seine Gesundheit, das liebt er nicht.«

»Ach, Dmitrij Prokofjitsch, wie schwer ist es, Mutter zu sein! Aber da ist schon die Treppe ... Was für eine schreckliche Treppe!«

»Mama, Sie sind so blaß, beruhigen Sie sich, Liebste«, sagte Dunja, sich an sie schmiegend. »Er muß glücklich sein, daß er Sie sieht, Sie aber quälen sich so«, fügte sie mit funkelnden Augen hinzu.

»Warten Sie, ich will zuerst nachschauen, ob er schon aufgewacht ist.«

Die Damen folgten leise Rasumichin, der vor ihnen die Treppe hinaufgegangen war; als sie im dritten Stock an der Tür der Wirtin vorübergingen, merkten sie, daß diese Tür ein wenig aufgemacht war und einen schmalen Spalt offen ließ, und daß zwei lebhafte schwarze Augen sie beide aus der Dunkelheit betrachteten. Als sich aber ihre Blicke trafen, wurde die Tür zugeschlagen, so laut, daß Pulcheria Alexandrowna vor Schreck beinahe aufschrie.

III

»Er ist gesund, gesund!« rief Sossimow den Eintretenden freudig entgegen.

Er war schon vor etwa zehn Minuten gekommen und saß in seiner gestrigen Ecke auf dem Sofa. Raskolnikow saß in der Ecke ihm gegenüber, fertig angekleidet und sogar sorgfältig gewaschen und gekämmt, was bei ihm schon lange nicht der Fall war. Das Zimmer füllte sich sofort, aber Nastasja brachte es doch fertig, mit den Gästen ins Zimmer einzudringen, und begann zuzuhören.

Raskolnikow war in der Tat fast ganz gesund, besonders im Vergleiche mit gestern, er war nur sehr blaß, zerstreut und finster. Äußerlich glich er einem Verwundeten oder einem, der einen heftigen physischen Schmerz leidet: seine Brauen waren zusammengezogen, die Lippen zusammengepreßt und der Blick fieberhaft. Er sprach wenig und ungern, als ginge es über seine Kraft, und in seinen Bewegungen zeigte sich ab und zu eine gewisse Unruhe.

Es fehlte bloß ein Verband am Arm oder ein schwarzes Taftpflaster auf dem Finger, um die Ähnlichkeit mit einem Menschen voll zu machen, der zum Beispiel ein schmerzhaftes Geschwür am Finger oder einen verstauchten Arm oder etwas Ähnliches hat.

Übrigens wurde auch dieses blasse und düstere Gesicht wie von einem inneren Lichte erhellt, als seine Mutter und Schwester eintraten, doch dies fügte seinem Ausdruck von griesgrämiger Zerstreutheit nur noch den einer gespannten Qual hinzu. Das Licht erlosch bald wieder, aber die Qual blieb zurück, und Sossimow, der seinen Patienten mit dem ganzen jugendlichen Eifer eines erst eben zu praktizieren beginnenden Arztes studierte, nahm an ihm beim Eintritt der Verwandten mit Erstaunen statt der Freude die heimliche schwere Entschlossenheit wahr, noch eine oder zwei Stunden Folterpein zu ertragen, der er nicht mehr entrinnen könnte. Später merkte er, daß fast jedes Wort der folgenden Unterhaltung irgendeine Wunde seines Patienten berührte und aufwühlte; zugleich staunte er aber auch einigermaßen, wie jener es heute verstand, sich zu beherrschen und die Gefühle des Monomanen zu verbergen, der gestern wegen des geringsten Wortes fast in Raserei geriet.

»Ja, jetzt sehe ich selbst, daß ich fast gesund bin«, sagte Raskolnikow, die Mutter und die Schwester freundlich küssend, so daß Pulcheria Alexandrowna sofort erstrahlte. »Und ich spreche auch nicht mehr wie gestern«, fügte er hinzu, sich an Rasumichin wendend und ihm freundschaftlich die Hand drückend.

»Ich mußte mich über ihn heute sogar wundern«, begann Sossimow, der über den Besuch sehr erfreut war, da er in den vorhergegangenen zehn Minuten schon den Faden des Gesprächs mit seinem Patienten verloren hatte. »Wenn es so weiter geht, so wird er in drei oder vier Tagen wieder der Frühere sein, das heißt, wie er vor einem Monat oder zwei Monaten war ... oder vielleicht vor drei Monaten? Das Ganze hat sich doch seit langem vorbereitet ... Nicht? Werden Sie jetzt selbst eingestehen, daß Sie vielleicht selbst schuld daran waren?« fügte er mit einem vorsichtigen Lächeln hinzu, als fürchtete er noch immer, ihn irgendwie zu reizen.